Der Weg nach Afrika. Helmut Lauschke

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Название Der Weg nach Afrika
Автор произведения Helmut Lauschke
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783753185613



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zu tun haben könnten", klagte Dr. Nestor, "das ist schizophren und unethisch. Es ist doch bekannt, dass es die Bevölkerung ist, die die Besatzungsmacht ablehnt, so wie sie das diskriminierende Rassensystem der Weissen vollauf ablehnt. Wer sonst soll denn den lang ersehnten Wandel bringen, wenn es nicht die Swapo ist, die sich auf die UN-Resolution 435 beruft. Seit Jahren lehnen die Weissen die Umsetzung dieser Resolution ab. Sie lassen überhaupt nicht mit sich reden und führen sich als die Herrenmenschen auf, denen alles erlaubt ist, die sich das Recht herausnehmen, die Schwarzen als Arbeitssklaven auszubeuten und sie rechtlos zu halten. Dagegen lehnen sich die Schwarzen auf. Deshalb unterstützt die Bevölkerung den Kampf der Swapo für Freiheit und Unabhängigkeit, gegen die Bevormundung durch Pretoria."

      Dr. Ferdinand pflichtete ihm bei und sprach vom Buren-Faschismus, der südafrikanischen Variante des Faschismus. "Das kann nicht von langer Dauer sein, was sich die Weissen hier anmassen. Die letzte Phase ist erreicht, das sagen die Waffen, die immer dann kommen, wenn die Gegner sich nichts mehr zu sagen haben. Die Waffen sind das letzte Mittel, wo der Stärkere den Schwächeren erschlägt, mundtot macht. Waffen haben noch nie eine Lösung auf lange Dauer gebracht. Sie sind gemein und schimpflich und taugen für den Frieden nicht. Waffen töten den Menschen und mit ihm die menschliche Vernunft." Dr. Nestor stimmte dem zu, fragte jedoch, was die Swapo anders tun könne, als nun auch mit Waffen zu kämpfen, wenn die weissen Machthaber in Pretoria nicht mit sich reden liessen, wissend, dass sie seit Generationen Unrecht begehen und die Grundrechte des Menschen missachten. "Die Schwarzen haben lange genug gelitten. Sie nehmen es nicht mehr hin, dass sie sich nicht wehren dürfen, wenn ihnen mit dem weissen Stiefel ins Gesicht oder in den Bauch getreten wird."

      Dr. Nestor erzählte, wie er als Kind in Windhoek einer älteren, weissen Frau in einem Geschäft beim Tragen half, ihr die mit Nahrungsmitteln gefüllte Obstkiste abnahm, sie hinter ihr hertrug und am Ausgang versehentlich mit der Kiste eine weisse Frau berührte, die beim Eintreten nicht warten wollte, dass der Schwarze mit der vollen Kiste in der Hand in der Tür zurücktrat, um der weissen Frau den Vortritt zu lassen. Die weisse Frau versetzte ihm eine Ohrfeige so kräftig, dass er mitsamt der Kiste auf die Strasse fiel, und die Frau, die nun im Eingang stand, den am Boden liegenden Jungen, der einer anderen weissen Frau nur helfen wollte, laut beschimpfte, dass er sich unterstehen solle, eine weisse Frau zu berühren. Die ältere, ebenfalls weisse Frau, der er tragen half, kam von ihrem Auto zurück, dessen Tür sie schon geöffnet hatte, und half ihm auf die Beine, wobei sie sah, dass der schwarze Junge an der Schläfe verletzt war. Die ältere Frau und er sammelten die verstreuten Dinge des Gekauften von der Strasse in die Obstkiste zurück, und er brachte die Kiste zum Auto, wo er sie auf dem Rücksitz abstellte. Die ältere Frau tupfte ihm mit einem frischen Tuch das Blut von der linken Schläfe und gab ihm ein Geldstück für seine Hilfe und als Schmerzensgeld. "Da habe ich am eigenen Leibe erfahren, wie eine weisse Frau mit einem schwarzen Kind umgeht, ohne dass ich mir einer Schuld bewusst war. Von da an hatte ich Angst vor weissen Menschen, weil sie ihre Hautfarbe höher ansetzen als die Not eines schwarzen Kindes."

      Es war eine traurige Geschichte für Dr. Ferdinand nach dem, was er hier im Umgang der Menschen gesehen hatte, wo das Schlagen dazu gehörte, wenn die Hautfarbe schwarz war. Dr. Nestor stotterte, wenn er in Aufregung geriet und zu einem Weissen sprach. Dieses Stottern konnte durchaus mit diesem Kindheitserlebnis zusammenhängen. Dr. Ferdinand fragte ihn, warum Kinder anfingen zu schreien und nach der Hand der Mutter griffen, wenn sie ihn kommen sahen. Das machte ihn jedesmal traurig. Dr. Nestor erklärte es ihm, dass das mit dem zu tun hatte, was die Weissen den schwarzen Familien angetan haben. Die Kinder hatten es gesehen, wie ihre Väter und Mütter beschimpft, entehrt, geschlagen und abtransportiert wurden. Von da an hatten schwarze Kinder Angst vor weissen Männern, weil Kinder von solchen Männern nichts Gutes erwarteten. "Kinder müssen es erst sehen, wer da anders als der andere ist. Dann lernen sie das Unterscheiden. Doch bislang hatten sie wenig Grund dazu anzunehmen, dass weisse Menschen ein Herz für schwarze Kinder haben."

      Sie warfen die durchschwitzte Op-Kleidung in den Wäschesack, zogen das Zivile an und wünschten sich gegen vier Uhr morgens eine gute Nacht. Dr. Ferdinand ging zum 'Outpatient department' zurück und vergewisserte sich dort an den eingenickten Schwestern, deren Köpfe auf übereinandergelegten Unterarmen über dem Thekentisch ruhten, dass es still war. So trat er den Rückweg an, nahm vor dem Ausgang die Sandalen von den Füssen in die Hand und stapfte wie ein Storch durch Pfützen und Matsch und hielt sich in Strassenmitte, wobei er in die grossen Pfützen trat, in die er auf dem Herweg schon getreten war. Er passierte den Kontrollpunkt am Dorfeingang, wo einer der Wachhabenden schläfrig den Kopf hob und ihm das Zeichen zum Weitergehen gab, während der andere auf einem Stuhl sass, dem der schnarchende Kopf über der Brust hing.

      Dr. Ferdinand schloss die Tür der Wohnstelle auf, streifte die nassen, matschverspritzten Klamotten auf der Veranda ab und stieg unter die Brause, die er weit aufdrehte, um sich beim Säubern auch zu erfrischen, denn an einen Schlaf war um diese Zeit nicht mehr zu denken. Er zog sich die Unterhose an, machte sich einen Kaffee und ass zwei Scheiben Brot von der geschmacklosen Pappigkeit, die er mit Margarine bestrich. Er setzte sich an den Tisch, der in den Garten oder auf die Veranda gehörte, und schrieb den Brief nach Deutschland zu Ende. Dem Brief fügte er seine Erlebnisse des noch nicht überstandenen Wochenendes bei, indem er Kristofina erwähnte, die vom Blitz geschlagen wurde, der ihr rechtes Schienbein verkohlte und ihr nach fünf Stunden das Leben genommen hatte. Er schrieb vom abgemagerten Mädchen, dem er elf Steine aus dem Magen holte, und von der Frau aus Oshikuku mit dem schwarz verfärbten, toten Dickdarm. Er berichtete vom Gespräch mit Dr. Nestor und seinem Kindheitserlebnis, als ihm eine weisse Frau ins Gesicht schlug, weil er beim Tragenhelfen für eine ältere weisse Frau mit der vollen Kiste in der Tür eine weisse Frau berührte und nicht respektvoll zurückgetreten war, wie sich das für Schwarze gehört. Er beschrieb seine Gänge durch die stockfinstere Nacht, durch Pfützen und Matsch zum Hospital und zurück, wie er die Strassenmitte suchte und sich einige Male in Nähe der wassergefüllten Seitengräben wähnte, wie er den Kontrollpunkt am Eingang, beziehungsweise Ausgang des Dorfes passierte und beim wiederholten Passieren den Wachhabenden mit den Sandalen in der Hand erklärte, dass er Arzt sei, der dringend zum Hospital musste, um einen Notfall zu behandeln, die das andersherum nicht glauben wollten, dass ein Arzt das bei strömendem Regen in stockfinsterer Nacht zu Fuss tun musste und dazu noch barfuss machte. Ob die das in Deutschland verstehen können, das fragte sich am Ende des Briefes Dr. Ferdinand selbst, als er ihn "mit allen guten Wünschen und lieben Grüssen" abschloss.

      Es war sechs Uhr geworden, und er las sich die beiden Gedichte, die er am vorangegangenen Abend verfasst hatte, noch einmal durch und fügte dem zweiten eine zweite Seite hinzu, in der er die Dinge genauer beschrieb, die einen Menschen einsam werden lassen, und warum die Liebe so bedeutsam ist. Da schob er sein Leben dazwischen. Was sonst sollte er dazwischen schieben, vielleicht die verrauchten Zigaretten, wie schädlich das Rauchen und andere Dinge sind, dass es Montagmorgen war, wo der Sonnenaufgang, wenn es ein Aufgang werden soll, noch aussteht? Von der Arbeit, die es hier ‘en gros’ gab, wollte er das Gedicht nichts wissen lassen, auch nichts von den miserablen Zuständen, unter denen er hier als Arzt zu arbeiten hat. Da schämte sich Dr. Ferdinand doch zu stark, als diese ‘Scheisse’ auch noch aufs Papier zu bringen. Damit sollte das Gedicht nicht beschmutzt werden.

      Er zog sich an und sah, dass die Sonne durchbrach und die davonziehenden Wolken in ein rotviolettes Lichtmeer tauchte. Er hatte sich früh genug auf den Weg zum Hospital gemacht, so dass er sich Zeit liess und sich die Stellen auf der Strasse suchte, die er betreten konnte, ohne dass die Füsse, wie in den vergangenen Nächten, im Matsch versanken. Dabei hatte er die Strasse viele Male zu überqueren, um die stehenden Pfützen zu umlaufen, dass er sich in einer Schlangenlinie dem Hospital zubewegte, einige Male schlitterte und sich vor dem Wegrutschen an einem Pfahl noch halten konnte. Er passierte mit dem Deutschlandbrief den Kontrollpunkt am Ortausgang gegen halbsieben, wo der Wachhabende, der um vier Uhr auch hier stand, sich gegen die weisse Wand des Kontrollhäuschens lehnte, den Karabiner in der linken Hand hielt und freundlich grüsste. Dr. Ferdinand brauchte sich nicht ausweisen und erreichte das Hospital früh, als wenige Menschen auf dem Vorplatz in Decken gehüllt standen und andere vor der Rezeption warteten. Er wusch den Sand von den Füssen, zog sich die Sandalen an, ging in die Kantine, um ein Frühstück mit einem gekochten Ei zu nehmen und eine Tasse Kaffee zu trinken.

      Dann