Der Weg nach Afrika. Helmut Lauschke

Читать онлайн.
Название Der Weg nach Afrika
Автор произведения Helmut Lauschke
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783753185613



Скачать книгу

worden war, das vom Blitzschlag getroffen wurde. Er zog sich Hemd und kurze Hose an und ging die siebenhundert Meter zu Fuss, da es kein Auto für den Nachtdienst gab, ihn zum Hospital zu fahren. Dr. Ferdinand ging in der totalen Finsternis durch Matsch und Pfützen der aufgeweichten Sandstrasse, hielt sich in der Strassenmitte, so gut er konnte, passierte unter der unbeschirmten Strassenlampe mit einer Birne der niedrigen Wattzahl den schwach erleuchteten Kontrollpunkt, zeigte sein 'Permit' und ging weiter in der Strassenmitte. Ein Auto kam nicht, um ihm den Weg mit seinen Pfützen auszuleuchten, in die er weiter trat und völlig vermatscht am Hospital ankam. Er liess den rechten Torflügel der Einfahrt offen und überquerte den Vorplatz des gemilderten Uringeruchs. Dabei kam er nicht umhin, durch den tiefen Matsch und viele Pfützen zu waten, dass er völlig verdreckt die Tür zum 'Outpatient department' erreichte. Noch draussen vor der Rezeption wusch sich Dr. Ferdinand bei kläglicher Beleuchtung den Schmutz von den Beinen, hielt die Sandalen unter den Wasserhahn und ging tropfend mit quatschendem Sumpfton der aufgeweichten Korksohlen in die Wartehalle.

      Die diensttuenden Nachtschwestern machten grosse Augen, als sie ihn kommen sahen, verloren aber kein Wort zur unzumutbaren Besonderheit, den Weg zu Fuss durch Matsch und Finsernis gemacht zu haben. Dr. Ferdinand sah das vierzehnjährige Mädchen, das mit einer Lake zugedeckt auf der Trage lag und vor Schmerzen stöhnte. Er sah dem Mädchen in das blasse Gesicht, das die Schwere, vom Blitz getroffen zu sein, sprachlos und stärker als alle Worte ausdrückte. Er hob und zog die Lake vorsichtig von oben nach unten und erschrak, als er das angekohlte rechte Schienbein sah, dessen vorderer Weichteilmantel der Blitz unterhalb des Knies bis zum Fussgelenk weggeschmort hatte. Weitere Verbrennungswunden der geringeren Tiefe fanden sich im Gesicht, am anderen Bein und dem linken Ober- und Unterarm. Die Schockbekämpfung hatte gleich begonnen, als das Mädchen gebracht worden war und die erfahrene Schwester die schnell tropfende Infusion an eine Vene in der rechten Ellenbeuge angeschlossen hatte.

      Dem schmerzgeplagten Mädchen stand der Tod schon auf dem Gesicht, als es zur Intensivstation zur weiteren Überwachung und Schmerzbehandlung gebracht wurde. Dort nahm das Mädchen den Fensterplatz im ersten Zweitbettzimmer ein, wo ein alter Bügel aus vier verbogenen Stangen über den mit sterilem Verband abgedeckten Unterschenkel gestellt wurde, um die Berührung des Betttuches mit der grossen Wunde des Unterschenkel zu vermeiden. Im Falle des Überlebens war es unvermeidlich, dem Mädchen das rechte Bein abzunehmen, da eine Wiederherstellung des Unterschenkels bei fehlendem Weichteilgewebe und dem verkohlten Schienbein nicht mehr möglich war.

      Dr. Ferdinand setzte sich auf einen Schemel neben das Bett, kontrollierte Blutdruck und Puls alle Viertelstunde und trug die Werte auf dem Überwachungsbogen ein. Er hatte in seiner Laufbahn nur Menschen auf dem Sektionstisch der Pathologie gesehen, die der Blitz gleich totgeschlagen hatte. Dass ein Mensch den Schlag der höchsten elektrischen Spannung überlebte, das wunderte ihn ebenso wie das Ausmass der Verbrennung. Das Mädchen war in einem kritischen Zustand, da auch innere Organe betroffen sein mussten. Dr. Ferdinand hatte seine Bedenken bezüglich des Überlebens. Er liess sich das alte EKG-Gerät bringen, schloss die Elektroden über dem Brustkorb an und verfolgte die Ausschläge des Oszillographen in den Standardableitungen der Herzaktionen. Die Herztätigkeit war beschleunigt (Tachykardie) mit Unregelmässigkeiten durch Extrasystolen. Der Tachykardie entsprach der rasche Pulsschlag und die wiederkehrenden Extrasystolen, die über den Schlagadern an der Beugeseite der Handgelenke zu tasten waren.

      Die Schmerzmittel wirkten, so dass das Mädchen die Ruhe fand und die Augen schloss. Es war Sonntagmorgen kurz vor fünf. Dr. Ferdinand machte sich auf den Rückweg, um sich noch einmal hinzulegen. Kristofina war der Name des Mädchens. Er hielt es in seinen Gedanken fest, als er das Buch der Preisungen aufschlug und den fünften Psalm in der Verdeutschung des Humanisten und jüdischen Philosophen Martin Buber zu lesen begann: "Meinen Sprüchen lausche, DU,/ achte auf mein Seufzen,/ merk auf die Stimme meines Stöhnens,/ o mein König und mein Gott,/ denn zu dir bete ich./ DU,/ morgens hörst du meine Stimme,/ morgens rüste ich dir zu,/ und ich spähe.// Denn nicht bist du eine Gottheit,/ die Lust hat am Frevel,/ ein Böser darf nicht bei dir gasten,/ Prahler sich dir vor die Augen nicht stellen,/ die Argwirkenden hassest du alle,/ die Täuschungsredner lässest du schwinden. –/ Ein Greuel ist DIR der Mann von Bluttat und Trug."

      Dr. Ferdinand spürte, wie sich das Mädchen im Schmerz der Todesqual krümmte, und las ihr zum Trost den sechsten Psalm dazu: "DU,/ nimmer strafe in deinem Zorn mich,/ nimmer züchtige in deiner Glut mich!/ Leih Gunst mir, DU,/ denn ich bin erschlafft,/ heile mich, DU,/ denn mein Gebein ist verstört,/ und sehr verstört ist meine Seele./ Du aber, DU, bis wann noch –!/ Kehre wieder, DU,/ entschnüre meine Seele,/ befreie mich/ deiner Huld zu willen!/ Denn im Tod ist kein Deingedenken,/ im Gruftreich, wer sagt dir Dank?!" Dr. Ferdinand fühlte sich schwach, als er bei aller Reinigung seines Geistes ihr den Mut zuzusprechen versuchte, den Weg unbeirrbar zu gehen, den ihr das Schicksal nach dem Blitzschlag aufgegeben hatte, das zu tun, was ihr Gesicht beim ersten Anblick wortlos sprach, dorthin zu gehen, woher sie gekommen war, und allen körperlichen Ballast samt des angekohlten Schienbeinknochens abzustreifen und zurückzulassen und den Weg mutig und getrost, wenn auch allein mit ihrer Seele zu gehen.

      Das Telefon klingelte gegen zehn, und die Schwester teilte mit, dass das Mädchen Kristofina vor fünf Minuten verstorben sei. Dr. Ferdinand hatte Tränen des Abschieds in den Augen, und er wünschte dem Mädchen beim Überschreiten der letzten Brücke alles Gute und den Frieden, den es brauchte. Es tat ihm leid, dass es diesen Weg allein gehen musste, ohne die Hand der Mutter zu spüren, denn Kristofina war noch unbescholten und jung. Ergriffen, wie kurz das Leben auf dem Planeten sein kann, griff er zu den Preisungen und las ihr den letzten Psalm noch hinterher: "Preiset oh Ihn!// Preiset Gott in seinem Heiligtum,/ preiset ihn am Gewölb seiner Macht!/ Preiset ihn in seinen Gewalten,/ preiset ihn nach der Fülle seiner Grösse!"

      Dr. Ferdinand war eingeschlafen, als gegen elf Herr C. an die Tür klopfte. Er kam vom Gottesdienst aus der Kirche, der weiss gestrichenen mit dem niedrigen Turm, wo vor dem kleinen Glockenstuhl die Tauben sitzen und von oben runter die Kirchgänger vor dem Eingang mit dem grauen Weiss beklecksen, dass sie unter der Schwanzfeder fallen liessen, wenn sie die kleine Glocke beäugen und das Hin-und-her mit dem Bimmelgeläut mit halb geschlossenen Augen vor sich ergehen lassen. Herr C. hatte seine Frau und die drei Söhne zuhause abgesetzt, um einmal bei Dr. Ferdinand hereinzusehn. Er setzte sich in einen der verschmutzten Sessel und zündete sich eine Zigarette der Marke 'Camel' an, während der aus dem Schlaf Gerissene unter die Brause ging, sich erfrischte und abgetrocknet in seine Kleidung mit der kurzen Hose stieg. Als Dr. Ferdinand im kleinen Wohnraum erschien, sah er, wie Herr C. in dem dicken Buch "Die grossen Philosophen" von Karl Jaspers blätterte, da ihm aus Kenntnismangel der deutschen Sprache ein tieferes Einlesen verwehrt war. Er legte es zur Seite und sagte, dass er von Jugend an an philosophischen Büchern interessiert sei und zuletzt Martin Buber gelesen habe. Dr. Ferdinand fragte ihn, was das Besondere an der Buber'schen Philosophie sei. Er sagte richtig, dass seine Denkweise Du-bezogen ist, dass über den Dialog zwischen dem Ich und dem Du die Wahrheit des Ichs gefunden wird. Dr. Ferdinand fügte folgendes hinzu: "Es ist ein Kernpunkt seiner Philosophie, dass die Herrschaft des Ichs über das’Es’ des untersuchten Objekts die analytische Denkweise der heutigen Wissenschaft sei, die zur unpersönlichen Manipulation geführt und zur spirituellen Verarmung, zum Verschwinden Gottes und zur Verachtung der moralischen Werte des Menschen beigetragen hat.

      Die Ich-Herrschaft über das ‘Es’ hat in der unpersönlichen Manipulation zum Abbau und zur Verrohung des menschlichen Charakters geführt, die schliesslich die Massenvernichtung menschenmöglich machte. Die Realität des Lebens ist nach Buber dialektisch angelegt, wo die Gegensätze, ohne die es kein Leben gibt, im Dialog solange ausgetragen werden, bis sich das eine Subjekt im anderen wiederfindet, und beide zum gegenseitigen Verständnis führt. Die Anteilnahme am anderen ist das Fundament, auf dem die Gegenseitigkeit der Achtung und der Liebe beruht." Herr C. hakte beim Wort "Massenvernichtung" ein und beschrieb den Abschnitt aus dem Burenkrieg, als die Briten dreissigtausend Buren mit Frauen und Kindern in Camps einsperrten und verhungern liessen. Er fragte nach dem Holocaust, den die Deutschen an den Juden begangen hatten, wo die Zahl der Ermordeten noch höher war. Dr. Ferdinand erzählte ihm, was er über diese Schandtaten wusste, nannte in diesem Zusammenhang den grossen Musiker und Dirigenten Wilhelm Furtwängler, der einigen, jüdischen Musikern der Berliner