Название | Es ist nie zu spät... |
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Автор произведения | Thomas Herholz |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783753191355 |
Normalerweise sollten Zahnärzte auch ziemlich ekelresistent sein: Von millimeterdicken gelb-braun-grünen Zahnbelägen über übelriechenden Kariesbrei und dicke vergorene Speisebrocken zwischen den Zähnen bis hin zu blau-lividen und eitrig-blutigen Zahnfleischtaschen war auch Herbert alles schon begegnet und wurde als berufstypisch nicht auszuschließen angesehen; man musste sich damit arrangieren.
Die Gerüche aber, die der Kleidung dieses Herrn entströmten, konnte er auch bei weit geöffnetem Fenster kaum ertragen. Dabei dauerte es eine ganze Weile, bis die Betäubungsspritze wirkte, der offensichtliche Alkoholiker brauchte einfach eine deutlich höhere Dosis als andere Patienten.
Immerhin konnte der unrettbare Nerv jetzt gezogen und eine desinfizierende Einlage in den Zahn gelegt werden. Ein Kunststoff- Aufbau war ohnehin nicht gleich zu machen.
„Haben Sie denn einen Krankenschein für uns dabei“ flötete die Helferin, während sie sich dezent die Nase zuhielt und dem Patienten den Merkzettel für den nächsten Termin in die Hand drückte. „Brauch ich nich, bin Privatpatient“, raunzte der, „ich komm wieder, wenn´s weh tut… auf gute Nachbarschaft“, lispelte er dann noch und zerknüllte den Zettel, trollte sich und schlug die Praxistür von außen zu.
Durch den zufallenden Türspalt gewahrte Herbert noch eine gepflegte Dame mittleren Alters, die offensichtlich auf dem Absatz kehrt machte und fluchtartig zurück zum Treppenhaus lief, denn die Klingel betätigte jetzt niemand mehr…
Das musste Frau Berger gewesen sein, die für 11 Uhr im Bestellbuch stand mit dem Vermerk „vornehm – privat“. Ob sie noch einen zweiten Anlauf machen würde, die neue Praxis zu betreten, stand natürlich in den Sternen.
Nach einer viertel Stunde kam Herbert auf die Idee, Praxis und Treppenhaus gründlich durchzulüften, vielleicht gäbe es ja dann noch Chancen auf „Laufkundschaft“.
Er öffnete also die Wohnungstür – und wäre fast über Herrn Krefelder gefallen, der laut schnarchend auf der Schwelle lag und seinen Rausch ausschlief.
Es half nichts: Er musste ihn hochziehen und wie einen betrunkenen Kumpel unterfassen, beide Helferinnen verweigerten jegliche Hilfeleistung. Also musste es so gehen: Stufe für Stufe bis auf die Straße und dann zwei Stock hoch im Nachbarhaus. „Schlüssel in de Jacke“, keuchte der Kerl, „danke, mein Freund!“
Herbert schloss auf und schob den anderen in die Wohnung. Erstaunlich behände löste der sich von ihm, drückte ihm einen feuchten Kuss auf die Stirn und stammelte: „Keine Rechnung, Herr Nachbar, Geld is so wie so alles verpfändet.“ Darauf schlug die Tür der Wohnhöhle von innen zu und Herbert blieb verdattert im Treppenhaus zurück. Er tappte die Stufen wieder herunter, lief zurück zu seiner Praxis und klingelte, weil er keinen Schlüssel in der Tasche hatte. Die Rezeptionshelferin drückte den Summer und ließ ihn herein. Ein kräftiger junger Mann hatte sich am Tresen aufgebaut – doch noch ein „normaler“ Patient an diesem „erfolgreichen“ Vormittag?
Aber auch er suchte schnell das Weite, und die Helferin erklärte, er wäre der Paketbote und jetzt wieder richtig glücklich und dankbar. Vier Monate sei ja geschlossen gewesen und er hatte Nicht-Zustellbares wieder mitnehmen müssen, um in zwei bis drei Tagen einen neuen Versuch zu starten. Jetzt funktioniere endlich das alte System wieder. Herberts Vorgänger hätte offenbar jahrelang die Pakete fürs ganze Haus angenommen. Da käme durch Tele-shopping und Katalogversand einiges zusammen und jetzt sollte in USA ja auch bald so was wie online- Handel eingeführt werden…
Wenn die Empfänger nach Tagen ihr Zeug vom Stapel holten, hätte es immer nette Plaudereien gegeben. Selbstverständlich wollte sie das weiterhin so halten, meinte die freundliche Rezeptionistin, Freundlichkeit sei doch schließlich das Aushängeschild jeder Praxis.
Herbert waren aber schon gleich ihre geröteten Wangen aufgefallen, der kräftige Paketbote schien ihr also auch nicht ganz gleichgültig zu sein.
„Gut, dann können Sie beide für heute Schluss machen, wenn alles wieder sauber ist“ meinte er, „heute haben wir ja Mittwoch und nachmittags ist frei!“
Erst als er allein war, merkte er, wie kaputt er sich fühlte und ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen; die Freiberuflichkeit war kein Zuckerschlecken.
Langsam wurde ihm klar, dass nicht alles optimal verlaufen war: Verdienst gleich Null, über die Praxiskosten wollte er gar nicht nachdenken…
Morgen sollte Britta ihr Glück versuchen, und er würde zuhause auf andere Gedanken kommen.
6.
Britta ließ die Sache eher ruhig angehen. Sie war durch und durch Hanseatin und neigte nicht zu selbstproduzierten Katastrophen. Ihr ganzer Lebensweg war bisher geradlinig und leistungsorientiert verlaufen: Mit 19 Abitur im Hamburger Wilhelms-Gymnasium, mit 20 Studienbeginn. Zahnmedizin konnte man schließlich auch nebenan in Eppendorf studieren, und sie war sofort zugelassen worden – mit Abi-Durchschnittsnote 1,4 – das hatte gerade noch gereicht. Sie war effektives Arbeiten gewohnt und wusste, was sie wollte.
Schon an der Schule hatte sie immer nur so viel getan wie unbedingt nötig war, um zwischen 15 und 10 Punkten in ihren Kursen zu erzielen, das war zwischen 1 und 2.
Wenn sie - was selten genug vorkam – eine Arbeit verhauen hatte, ging sie zur Lehrkraft, knipste ihr berückendes Lächeln an und versprach, dass es ihr ein Leichtes wäre, eine Schippe draufzulegen. Das tat sie dann auch, und der Notenschnitt pendelte sich bald wieder auf das gewohnte Niveau ein. Immer war ihr noch genügend Zeit geblieben für das Reitpony, das ihr die Eltern zum 12. Geburtstag geschenkt hatten und das zum 17. gegen ein ganz ansehnliches Dressurpferd ausgetauscht wurde, einen 8-jährigen Hannoveraner Rapp-Wallach mit den besten Anlagen, nicht billig, aber ihre Eltern betrieben ein mittleres Taxi-Unternehmen und hatten nur die eine Tochter…
Eigentlich kriegte Britta immer alles, was sie wollte, mit 16 auch den Klassenprimus, der gar nicht gewusst hatte wie ihm geschah, als sie ihm in der Schüler-Disko schöne Augen machte. Jedenfalls hatte es sich für sie ausgezahlt; die 1,4 im Abi 1984 waren ganz okay und würde sie den numerus clausus für Zahnmedizin locker überspringen lassen.
Das Abitur war in den 80ern auch nicht mehr das, was es mal gewesen war: Die „Sekundärtugenden“ früherer Tage hatten endgültig ausgedient: Warum noch Formeln, Geschichtszahlen und Vokabeln pauken, fast alles ließ sich doch spielend über „learning by doing“ erreichen. Geschickt hatte Britta ihren Schwerpunkt und die Leistungskurse auf „Soziales, Wirtschaft und Politik“ gelegt, dazu wählte sie noch Grundkurse in Biologie und Erdkunde und anstatt Religion lieber „Philosophie und weltanschaulichen Unterricht“.
Ihr selbstbewusstes Auftreten und die intuitive Eloquenz, die ihr eigen war, erwiesen sich in diesen Fächern schon als „halbe Miete“ für gute Noten. In den Mathe- und Physik-Grundkursen dagegen ließ sie sich manchmal von ihrem Freund coachen, außerdem war der Fachlehrer für ihren gespielt naiven Augenaufschlag nicht unempfänglich.
Zur großen Abi-Feier schritt sie noch mit ihrem linkischen Primus zu den Klängen einer Pop-Hymne durch den Bodennebel über die Bühne des Ballsaals. Es war eine rauschende Nacht gewesen, aber am nächsten Morgen packte sie ihre Koffer für den von Papa spendierten Zweimonats-Trip durch die Vereinigten Staaten.
Nach ihrer Rückkehr ließ sie den Favoriten ihrer Jugend kühl abblitzen: Jetzt kam bald die Uni, und da musste sie sich alle Optionen offenhalten.
Das erste Semester wurde wider Erwarten hart. Nicht dass Britta Probleme mit dem theoretischen Teil bekam; in Biologie hatte sie immer gut aufgepasst und sich wegen ihres Pferdehobbys auch für einschlägige Krankheiten interessiert, seien sie durch Amöben, Bakterien oder Band- und Spulwürmer ausgelöst. Auch Physik und Chemie konnte sie wegen ihres Primus-Schulfreundes ganz gut nachvollziehen. Außerdem gab es einigermaßen übersichtliche Vorlesungsskripten, die den Besuch im Hörsaal weitgehend