Название | Es ist nie zu spät... |
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Автор произведения | Thomas Herholz |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783753191355 |
Zusammen gingen sie zum großen Rezeptionsschreibtisch und griffen nach dem Bestellbuch, das die unausgelasteten Helferinnen in den letzten drei Wochen mit Terminen hätten füllen sollen: Für den morgigen Mittwoch standen tatsächlich „schon“ zwei Leutchen drin, und Herbert dämmerte, dass es lange brauchen würde, bis mehr Menschen hier durchgelaufen sein würden als am heutigen Festtag da waren.
Am nächsten Morgen war dann „Jobsharing“ angesagt: Britta blieb vormittags zuhause und kümmerte sich um das Waschen und Aufhängen der „schwedischen“ Gardinen, Herbert fand sich um 9 Uhr in der Praxis ein.
Die erste Patientin saß schon auf der neuen Liege. „Machen Sie es sich doch bequem“ meinte Herbert, der eher die liegende Patientenposition gewohnt war.
Er hatte während seiner Assistenzzeit in Hannover in einer hochmodernen Innenstadtpraxis gearbeitet. Gleich zu Beginn hatte sein noch recht junger Chef ihn angewiesen, keine Diskussion über die Lagerung aufkommen zu lassen: Der Patient hatte flach zu liegen, den Mund zu öffnen und möglichst still zu halten. Auch ein Spuckbecken hatte es in jener Praxis nicht gegeben, dafür aber die perfekte Absaug-Assistentin. Und das wollte Herbert hier auch so.
„Wie geht bequem-machen, wenn ich mich nicht anlehnen darf?“ grinste Frau Hafter und entspannte sich nicht, bis der junge Zahnarzt widerwillig die Rückenlehne steiler anwinkelte. „Ihr Vorgänger hatte einen sehr bequemen Stuhl aus schwarzem Leder“ meinte die resolute Rentnerin, und Herbert dachte an das handverstellbare Monster mit Fuß-Ölpumpe für „hoch“ und „runter“. „Der ist verschrottet“, meinte er mit überlegener Miene, „völlig veraltet und unergonomisch.“ „Ergo – was?“ fragte die alte Dame und schwenkte unheildrohend einen größeren Plastikbeutel vor seiner Nase herum. Herbert zuckte mit den Achseln und bat sie, den Mund zu öffnen und die Zähne zu zeigen.
„Das tue ich doch schon die ganze Zeit“, meinte sie vergrätzt und leerte den Inhalt der Tüte auf die chromblitzend hygienische Fläche auf dem Behandlungsschwenktisch: acht mehr oder weniger saubere, trockene Vollprothesen klirrten darauf, vier für oben und vier für unten.
„Schleimhäute gut durchblutet, zahnlose Alveolarfortsätze leicht atrophiert, sonst ohne Befund“ diktierte Herbert sachlich seiner Helferin zum Eintrag in die Patientenkarte, um erst einmal seine Fassung wiederzufinden.
„Dann sind Sie ja bestens versorgt, liebe Frau…“ „Eben nicht, junger Mann“, meinte Frau Hafter und schob sich flugs ein Prothesenpaar ins Gesicht: „Das sind die für alle Tage, die sind hässlich abgekaut!“ „Nehmen Sie doch die anderen, die wirken deutlich schöner!“ „Ja, das sind die für sonntags, aber mit denen kann ich nichts essen – außer vielleicht Torte – die sind auch gar nicht von Ihrem netten Herrn Vorgänger…. Dann liegen da noch die viel zu großen – nehm ich nur, wenn die ersten drücken!“
„Und die letzten beiden, mit den ganz weißen Zähnen?“ stammelte Herbert zunehmend ratlos.
„Ja, die find ich persönlich am schönsten – aber die bring ich nicht rein – und nun kommst du! Ich brauche welche, die gut aussehen, fest saugen, nicht drücken – und möglichst für werktags und sonntags; außerdem hab ich kein Geld, bei ihrem Vorgänger war das umsonst.“
„Ich glaub, da gibt´s sowas wie ´ne Härtefallregelung“, murmelte Herbert verblüfft.
„Tun Sie mir bloß nich weh, ich bin eher zart besaitet“ meinte die energische Oma, schaufelte die Resultate aus vier Jahren zahnärztlicher Behandlung wieder in ihre Tüte und sperrte den Mund weit auf.
„Wir nehmen erstmal nur Vorabdrücke und stellen den Kassenantrag“ meinte Herbert mit leichtem Zweifel in der Stimme, „Sie bekommen dann einen Termin, wäre doch gelacht, wenn wir es nicht besser hinkriegen würden…“
„Sie machen das schon, junger Mann, is doch alles super modern hier“ meinte die 1. Patientin und stemmte sich ächzend aus der Liege. „Morgen wiederkommen?“
Angesichts des ziemlich leeren Bestellbuchs hatte Herbert auch schon daran gedacht, doch dann siegte die Vernunft: „Nie den Zahnersatz ohne genehmigten Antrag anfangen“, hatte der KZV- Mensch damals doch gesagt und den Satz auf dem Flip-Chart dreimal unterstrichen. „Lieber in zwei Wochen, wir warten besser den Kassenantrag ab…“
Jetzt also nur schnell noch zwei Alginat-Abdrücke nehmen, das beherrschte er natürlich aus dem FF. Die Helferin beherrschte es im Prinzip auch, also das Anrühren; er hatte sie vom verehrten Vorgänger übernommen, seit Weihnachten war sie allerdings etwas außer Übung. Außerdem wunderte sie sich, dass das Alginat in seiner Praxis jetzt grün aussah, nicht mehr rosa wie sie es von früher her kannte. Daher geriet die Mischung aus Pulver und Wasser etwas dünn, aber fest wird das Zeug ja irgendwann trotzdem… Also schnell die Paste in den Abdrucklöffel geklatscht, der dem Doktor mit unschuldigem Blick hingehalten wurde. Elegant drehte der das Ganze auf den dargebotenen Oberkiefer der Patientin. Beim Hochdrücken kleckerte die Hälfte der weichen Masse herunter, und Frau Hafter würgte. „Jetzt gaaanz ruhig bleiben und durch die Nase atmen“, spulte der Behandler routiniert ab, während die alte Dame mit den Füßen zu strampeln begann. Siedend heiß fiel ihm jetzt ein, was sein erster Chef ihm beigebracht hatte: „Immer mit dem harmloseren Unterkiefer-Abdruck beginnen, besonders bei KFO-Kindern und aufgeregten Alten, sonst können Sie den zweiten Löffel glatt vergessen.“ Wie wahr!, aber die Helferin hatte ihm doch ungefragt gleich den OK gereicht…
„Sag jetzt bloß nichts dazu“, dachte Herbert, „sonst ist das Klima hier gleich ganz vergiftet.
Endlich war das Alginat halbwegs fest, und er zog den Löffel schmatzend der leicht blau verfärbten Patientin aus dem Mund: „Ausspülen!“, keuchte die, doch er zuckte mit den Achseln: „Geht bei uns nicht, wir können aber alles absaugen.“
Frau Hafter war sprachlos, sie zog aus der Tiefe der Behandlungsliege ihre riesige Handtasche hervor, nestelte ein Tempotuch heraus und spuckte kräftig hinein: „Müll!!“
Wortlos klappte Herbert den Treteimer auf und sie feuerte das Tuch hinein.
Etwas derangiert fühlte sie sich und rannte zum Sanitärbereich, um die klebrigen Reste aus Gesicht und Frisur zu bekommen. Dann zur Garderobe, in den Mantel und raus!
Herbert musste sich kurz setzen und verschnaufen. Jetzt ganz ruhig bleiben! Die würde schon wiederkommen, schließlich lag ja das Prothesensäckchen auf dem Schwenktisch. Bald würde er dann - nach etwas gutem Zureden vielleicht – den Unterkiefer-Abdruck nehmen und den Termin vergeben…
Wer würde wohl als nächstes erscheinen?
Für 11 Uhr war noch jemand eingetragen, noch Zeit also für einen Kaffee und ein kleines Dienstgespräch mit den beiden Helferinnen – die dritte hatte sich pünktlich zum allerersten Behandlungstag krankgemeldet.
Um 10 Uhr 30 klingelte es Sturm an der Praxistür, gefolgt von lautem Pochen. Herr Krefelder begehrte Einlass, er war ein einsamer Mieter aus dem Nachbarhaus und schien ein größeres Alkoholproblem zu haben. Herbert erinnerte sich mit leichtem Schauder wie er ihn nach der Praxiseinweihung nach zu vielen Gläsern Bier und Rotwein hinauskomplimentieren und die Treppe herunter begleiten musste, um ein Unglück zu vermeiden. Heute wirkte er noch um einiges ungepflegter als damals: unrasiert, mit strähnigen Haaren, das karierte Holzfällerhemd hing ihm aus der halboffenen Hose. Sein Atem verströmte widerlichen Schnapsgeruch, Hose und Jacke waren mit Erbrochenem und anderen Körperflüssigkeiten beschmiert. „War ´ne kurze Nacht“ krächzte er, „gut, dass nich mehr kalt is…“
Offenbar hatte er irgendwo draußen gepennt, mit der Jacke als Kopfkissen. „Ich bin Eishockeyspieler“, grinste er, kam mit seinem Gesicht Herberts bedrohlich nahe und zeigte auf einen abgebrochenen Schneidezahn und blutiges Zahnfleisch, „jezz kans´ ma zeigen, was de drauf hast, Dokter!“
Herbert konnte gerade noch ein paar Papierhandtücher auf der Sitzfläche