Es ist nie zu spät.... Thomas Herholz

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Название Es ist nie zu spät...
Автор произведения Thomas Herholz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753191355



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erinnerte sie an englischen Westminster-Stil oder die Kathedralen von Reims und Rouen.

      Herbert hatte mit seinem Vater viele Kirchen angesehen, er interessierte sich durchaus für deren Architektur und Geschichte und ließ sich immer aufs Neue von der erhabenen Atmosphäre großer Gotteshäuser beeindrucken. Er musste da unbedingt rein und wunderte sich, dass Maria Zeichen von Vorbehalt und Abwehr erkennen ließ. Gut, man musste 30 Kronen Eintritt bezahlen, aber das war es ihm wert, und er überredete Maria mitzugehen.

      Der Wirkung des hohen, säulengetragenen Innenraums mit den Kreuzrippen-Gewölben konnte sich niemand entziehen. Sie setzten sich auf zwei der endlos aufgereihten Stühle der evangelisch-lutherischen Kirche und atmeten tief durch. Die schlichte Würde des riesigen Raumes tat ihnen gut.

      Als sie wieder heraustraten, hatte der Regen schon wieder aufgehört, und zaghafte Sonnenstrahlen brachen durch die dunklen Wolken. Sie schlenderten durch den Bischofsgarten und Maria erzählte stockend, dass Vater Ole ihr für lange Jahre den Besuch von Kirchen strikt verboten hatte. Er hatte „diese ganze pseudo-christliche Geschichte“ gehasst, die für ihn pure Heuchelei war. Sein eigener Vater hätte hier, im Nidaros-Dom, geheiratet, am 14. April 1945, also kurz vor der Kapitulation der Deutschen, in SS-Uniform. Das war angeblich bei einer Massenhochzeit der Deutschen Wehrmacht, und die Braut war nicht seine Mutter gewesen, die hatte der Vater nämlich in Deutschland sitzen lassen, da sei Ole neun gewesen. Die Frau war jedenfalls auch schwanger, und ihre Tochter sollte im Nazi-„Lebensborn“-Heim aufwachsen, hier in Trondheim, aber dazu kam es dann wohl nicht mehr…

      „Vielleicht lebt sie ja hier irgendwo, meine Halbtante – keine Ahnung“, meinte Maria, „dass die Kirche da mitgemacht hat…“

      „Aber bei solchen Hochzeiten war vielleicht gar kein Pastor dabei“ sinnierte Herbert, „das war bestimmt ´ne deutsche Zivilehe.“

      Jedenfalls war Maria froh, den Dom mal von innen gesehen zu haben; hier war nichts vom Nazi-Spuk zu spüren gewesen. Dieser Schatten der Vergangenheit jedenfalls hatte sich in Luft aufgelöst.

      Morgen wollten sie weiterreisen, in Richtung Brønnøysund, das lag über 300 Kilometer weiter im Norden, auf halbem Wege nach Bodø.

      Die beiden hatten, seitdem sie sich auf den Nordland-Trip gemacht hatten, einen gesunden tiefen Schlaf wie schon lange vorher nicht mehr. Keine Alpträume legten sich aufs Gemüt, viele Ängste der letzten Jahre schienen von ihnen abgefallen zu sein.

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      War es nicht ein herrliches Gefühl, alle innere Getriebenheit abzuschütteln und einfach in den Tag hinein zu gehen?

      Wieder wanderten sie auf die Landstraße hinaus und vertrauten auf den lieben Gott und freundliche Menschen. Auch zu Fuß würden sie an ihr Ziel kommen, Zeit hatten sie jedenfalls im Überfluss. Trotzdem waren sie ganz froh, dass bei aufkommendem Regen ein freundlicher Milchwagen-Fahrer hielt und sie die 100 Kilometer bis Steinkjer mitnahm, immer schön am Trondheim- Fjord entlang. Er freute sich, dass die Deutschen Norwegisch verstanden, zumindest Maria, und seine Schwärmereien über seinen „Traumberuf“, so nah an der Natur, nachvollziehen konnten.

      Nach zwei Stunden trennten sich ihre Wege wieder, und Maria und Herbert wanderten weiter über eine zerklüftete Halbinsel durch Täler und an Bergseen und Wasserfällen entlang und durch Birken- und lichte Föhrenwälder, bis sie bei Namsos wieder auf die Fjord- und Schärenküste stießen. Sie übernachteten zweimal auf gastfreundlichen Bauernhöfen und nahmen dann die Fähre nach Geisnes und von dort weiter nach Hofles. Die letzte Fähre hieß Olav Duun und Herbert unkte, ob sie wohl nach Marias Vater Ole benannt sei. „Blöder Witz“, meinte Maria, obwohl sie ihm selbst erzählt hatte, wie oft Ole „duhn“ und betrunken gewesen war.

      Olav Duun aber, und das wusste sie noch ziemlich genau aus ihrem norwegischen Schulunterricht, war ein hochgeschätzter Heimatdichter, der eigentlich Lehrer gewesen war und aus einem gänzlich unsentimentalen Naturgefühl heraus schrieb, in einem klaren, durchaus humorvollen Stil, der ihr gut gefallen hatte, auch wenn er mythische, also eher heidnische Anklänge an die alten Sagas widerspiegelte. Sein großer Romanzyklus „Die Juwikinger“ kam in den 1930er Jahren heraus und handelte von einem edlen Bauerngeschlecht des 19. Jahrhunderts – im Kampf um Würde und Menschlichkeit… Die Bücher gab es auch als deutsche Übersetzung und ihr Vater hatte sie verschlungen, auch wenn er sonst eher wenig Neigung zum Lesen hatte.

      Herbert begann sich allmählich Sorgen zu machen, was für ein abgehobener „Blut-und-Boden- Kauz“ sie in Bodø erwarten würde. Aber Maria meinte nur, mit einem Dichter hätte Ole nun wohl gar nichts gemein, eher vielleicht mit Petterson.

      „Petterson mit dem hohen gelben Hut, der immer mit seiner Katze spricht?“ fragte Herbert. Er kannte die großformatigen Bilderbücher und hatte sie als Student manchmal Kindern beim „Babysitten“ vorgelesen, weil sie sonst nicht eingeschlafen wären. Damit konnte er sich in Tübingen seinen Monatswechsel aufbessern.

      „Ja genau den Petterson meine ich, von Sven Nordquist ist der“, schwärmte Maria „die Katze ist ein Kater und heißt Findus, die Bücher sind eigentlich aus Schweden, aber das ist egal. Mein Vater ist auch so ein Chaot gewesen, den berühmten „Tischlerschuppen“ hatten wir auch, überall lagen kaputte Angeln herum, die er irgendwann einmal reparieren wollte, wozu er natürlich nie kam, kaufte sich lieber eine neue… Eine Katze hatte er früher auch, und überall hörte er das Gras wachsen.“

      „Bei dem alten Schweden gab es doch auch diese skurrilen wuseligen Wesen, kleine Naturgeister oder so“, sagte Herbert, und Maria nickte. „Der in den Büchern ist doch eigentlich ganz lieb, oder?“, fragte er.

      „Ja, aber er kann auch sehr jähzornig werden“, flüsterte Maria und hatte auf einmal Tränen in den Augen, „und dann der Wodka und der Akvavit dazu…“

      „Womit wir wieder bei „Olav Duun“ wären“, meinte Herbert lakonisch, „der Kahn legt übrigens gleich an – in Hofles“. Sie nickte wieder. Soviel hatte sie seit Tagen nicht geredet…

      Ein paar Tage später erreichten sie Brønnøysund, das hübsche Hafenstädtchen hatte früher einmal Bodø fast den Rang abgelaufen als Hauptstadt der Nordprovinz.

      Die erstaunlich große Feldsteinkirche war offen. Drinnen saßen einige Besucher und lauschten himmlischer Orgelmusik. Die blonde Organistin übte wohl für den kommenden Sonntag, es lagen Zettel für das bevorstehende Konzert aus: „Präludium und Fuge in C Dur von Johann Sebastian Bach“. Es klang wirklich überirdisch – und so kam ihnen auch der Blick auf die weitgespannte Brücke im Abendrot vor, die sie zur Insel Torget führen würde.

      Hier wollten sie sich unbedingt den „Torghatten“ ansehen, den berühmten Berg mit dem 35 Meter hohen Loch, das gut 10 Meter breit und begehbar sein sollte.

      Sie stiegen den beschwerlichen Weg hinauf und wanderten durch das 160 Meter lange Loch, das der wütende Sohn des Trollkönigs mit einem Pfeilschuss geschaffen haben soll. Er zerstörte damit auch das, was er liebte, die flüchtende Jungfer Lehamøya. Denn der König der Sømnaberge ließ zur Strafe alles versteinern.

      „Ziemlich nah am Leben“, dachte Maria an ihren oft unberechenbaren Vater.

      Jedenfalls war der Blick durch das hohe Tunnelloch auf die Schärenlandschaft überwältigend und lohnte alle Mühen.

      Weiter ging es per Anhalter nach Nesna und Konsvikosen, wo ein freundlicher Wohnmobilfahrer die beiden zu einem köstlichen Fischessen einlud. Die Seelachse und Dorsche hatte er gerade an der Außenmole des kleinen Sportboothafens geangelt. Nur in Butter gebraten und mit ein paar Salzkartoffeln serviert schmeckten sie besser als in jedem Sternerestaurant. Dankbar kehrten sie dann im winzigen Hotel ohne Sterne ein, wo die Wirtin ihnen Gruselgeschichten erzählte.

      Wenige Kilometer weiter nach Norden überquerten sie den Polarsirkelen auf 66°33´55´´ nördlicher Breite. In dem kleinen Fischerdorf mit Sporthafen und Anglergeschäft gab es nur eine ziemlich unscheinbare Erdkugel aus Stahlbändern, die am Kai aufgestellt und beschriftet