Название | ... und am Ende wird alles gut |
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Автор произведения | Martin Dolfen Thomas Strehl |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783753197005 |
Es war völlig verrückt. Jemand der einen Suizid begehen wollte, belehrte gerade eine alte Frau, dass Selbstmörder oft in Kurzschlussreaktionen handeln und das durch Zögern Denkmuster entstehen, die Zweifel hegen. Hätte ich ihr erzählt, dass ich gerade mit einem Fahrrad zur Ostsee fahre, um genau das Gleiche zu tun, wäre sie wahrscheinlich direkt gegangen. Ich verschwieg mein Vorhaben. Es tat eh nichts zur Sache.
»Sie kennen sich ja aus.«
»Nein. Ich finde nur, dass es logisch klingt.«
»Logisch?«, fragte sie entrüstet. »Sein Leben zu beenden ist nicht logisch. Es ist krank.«
Krank? Ich kannte sie nicht. Folglich konnte ich mir kein Urteil erlauben. Ich tippte einfach darauf, dass sie ein glückliches Leben geführt hatte.
»Ich bin mir nicht sicher, ob man das als krank bezeichnen kann.«
Als sie gerade erneut etwas sagen wollte, kam Bewegung in die Szenerie. Auf dem Balkon, direkt unter dem Dach, sprach eine Frau mit dem gewillten Selbstmörder. Immer wieder hob und senkte sie die Arme. Man sah, dass der Mantelträger auf die Frau reagierte. Ständig unterbrach er seinen Gang und rief ihr etwas zu. Plötzlich tauchte ein Polizist hinter dem Mann auf. Ich fragte mich, wie dieser so schnell dort hingekommen war. Er war quasi aus dem Nichts aufgetaucht. Dann packte er den Mann am Kragen und zog ihn zurück auf das Flachdach. Andere Polizisten eilten herbei und hielten den Mann fest. Die Frau verschwand vom Balkon und auch die Beamten waren mit einem Mal nicht mehr zu sehen. Ebenso der Suizidgefährdete. Der Spuk war vorbei. Ein erleichtertes Aufatmen ging durch die Menge hinter uns. Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass ein paar anwesende Sensationstouristen gerne einen Sprung gesehen hätten. Einfach, um sich daran aufzugeilen. Um zu sehen, wie der Körper auf den Asphalt kracht. Die Menschheit war durchzogen von Verdorbenheit.
»Zum Glück. Der arme Mann.« Die elegante alte Dame fiel förmlich in sich zusammen. Sie brach in Tränen aus.
»Hören Sie. Es ist alles gut. Alles ist gut«, erklärte ich ihr. Doch sie ließ ihrer Trauer freien Lauf. Und als sich die Menschenmassen schon längst verzogen hatten, saß ich immer noch neben ihr, den Arm um ihre Schulter gelegt und versuchte sie zu beruhigen.
»Es ist so schrecklich«, schluchzte sie, wobei ihr der weiße Hut vom Kopf fiel.
Ich hob ihn auf und klopfte ihn an meiner Jeans ab. Dann gab ich ihn ihr zurück und betrachtete sie genauer. Vor dreißig Jahren sah sie bestimmt wunderschön aus, dachte ich und riss mich damit selbst wieder in mein gewohnheitstypisches Loch.
»Danke!«
Sie nahm den Hut wieder an sich, steckte die Haare hoch und ließ sie unter der Kopfbedeckung wieder verschwinden. »Niemand sollte sein Leben so beenden.«
Im Grunde hatte sie mit dieser Aussage recht. Aber sie kannte den Mann nicht. Hinterfragte nicht seine Intention. Das Warum war hier von entscheidender Bedeutung. Dennoch wollte ich sie weder belehren noch eine Grundsatzdiskussion über Suizid anfangen.
»Ja,« sagte ich zögerlich. Aber wahrscheinlich so zögerlich, dass es ihr auffiel.
»Das klingt so, als hätten Sie eine andere Meinung.«
Fordernd schaute sie mich an. Die Trauer hatte einer gewissen Wut Platz gemacht.
»Grundsätzlich nicht, aber man muss immer sehen, was zu dieser Situation geführt hat.« Nun ließ ich mich dummerweise doch auf eine Diskussion ein.
»Die Situation kann noch so bedrückend sein. Wir haben einmal das Geschenk bekommen, auf diesem wundervollen Planeten sein zu dürfen. Ein zweites Mal wird es nicht geben.«
Da hatte sie recht. Ich war immer Realist gewesen. Zeit meines Lebens. An eine Wiedergeburt, das Leben nach dem Tod, in einem ach so schönen Paradies, glaubte ich nicht. Wer starb, der starb. Der Gedanke, dass die Seele ewig weiterleben würde, war mir suspekt.
»Gut«, gab ich zu. »Das kann natürlich sein, aber wer sich in den Tod stürzen will, der wird das nicht grundlos tun.«
Sie antwortete nicht, sondern grub ihr Gesicht wieder in die faltigen Hände.
»Okay. Natürlich ist es ein Fehler«, log ich, um die Dame zu beruhigen. Als sie weiter in dieser Position verharrte, legte ich nach. »Nicht immer hält die Ellenbogengesellschaft einen Platz für die bereit, die durchs Raster gefallen sind. Wer weiß, vielleicht war dieser Mann einer von denen, die es nicht geschafft haben, sich einen Platz zu sichern. Oh«, stockte ich. »Ist dieser Mann, muss es natürlich heißen, nicht war. Es ist glücklicherweise nichts passiert.«
Endlich ließ die Frau ihre Hände sinken. Sie starrte geradewegs auf das Haus, auf dem eben noch der Mann stand. Sie hielt die Augen offen, ohne zu zwinkern, als wäre sie mit ihren Erinnerungen in einer anderen Zeit.
Mir war klar, dass ihre Gedanken nicht mehr dem unbekannten Mann galten, der sich beinahe umgebracht hatte, sondern dass ihre Trauer viel tiefer ging.
»Wissen Sie«, begann sie zaghaft. »Ich war vierzig Jahre verheiratet. Edgar, mein Mann, und ich führten eine glückliche Ehe.« Sie richtete sich auf. »Das kann ich ganz bestimmt sagen. Und wie ein gemeinsames Leben halt so abläuft, so war es auch bei uns. Am Anfang ist alles wie ein Traum. Ein kleines Märchen, dessen Geschichte du selbst schreibst. Man liebt sich, will am besten gar nicht voneinander los. Alle Termine, die man eigentlich alleine wahrnehmen sollte, sind zu viel, weil man bei seinem Partner sein möchte.« Das erste Mal, seit wir auf der Bank saßen, begann sie zu lächeln. Es war ein zauberhaftes Lächeln und ich konnte erahnen, welch wacher, frohsinniger Geist einst in dieser Frau gelebt hatte. Ganz war er noch nicht gestorben. Doch die Boten der Gegenwart zeichneten Spuren in ihr Gesicht und ihre Gedanken. Gebannt hing ich an ihren Lippen. Ohne Zweifel hatte sie etwas Interessantes aus ihrem Leben zu berichten.
»Edgar wollte immer Kinder. Ja, er liebte Kinder. Sobald er ein kleines Mädchen irgendwo sah, musste er sich zurückhalten, um es nicht in den Arm zu nehmen und zu knuddeln. So war er halt. Dann wurde unser Traum wahr. Nach einem Jahr wurde ich schwanger. Wir heirateten. Das Märchen lebte weiter. Unsere Hochzeitsreise nach Andalusien war wunderschön. Fast schon zu prunkvoll für unser bescheidenes Einkommen. Aber hallo.« Sie hob den Zeigefinger in die Luft. »Man heiratet schließlich nur einmal, zumindest die meisten.
Die Schwangerschaft verlief komplikationslos. Und als es endlich so weit war und ich in den Wehen lag, stand Edgar neben mir und hielt meine Hand. Wir wussten zu dem Zeitpunkt, dass es ein Mädchen werden würde. Pamela. Den Namen hatte sich Edgar ausgesucht, weil es der Zweitname seiner Mutter war und weil sie diesen Namen hasste. Und Edgar mochte seine Mutter nicht. Die kleine Rache war perfekt.
Ich hatte nichts dagegen. Der Name gefiel mir.
Kurz bevor Pamela das Licht der Welt erblickte, bemerkte der Arzt das sich die Nabelschnur um den Hals des kleinen Bündels gewickelt hatte. Eile war geboten, denn die Herztöne wurden immer schwächer. Als Pamela dann da war, war es bereits zu spät. Alle Versuche, die Kleine wiederzubeleben, scheiterten.«
Wieder benetzten Tränen die trüben Augen. Nun schaute sie mich an. Ein Blick so voller Trauer, dass ich beinahe angefangen hätte zu weinen.
»Keiner, der dies nicht erlebt hat, kann sich vorstellen wie es ist, sein totes Kind auf dem Bauch liegen zu haben. Den schockierten Ehemann noch an seiner Seite. Die Kleine sah aus, als würde sie schlafen, ganz friedlich. Ich weinte nicht einmal. Ich streichelte meiner Tochter über den Kopf, froh, dass sie endlich da war. Alle versuchten mir zu erklären, was passiert war, doch ich strich ihr behutsam weiter über das kleine Köpfchen. Es vergingen Minuten, vielleicht sogar Stunden. Es war der zweitschwärzeste Tag meines Lebens.«
Durch den salzigen Geschmack an meinen Lippen fiel mir nun erst auf, dass ich tatsächlich weinte. Dass sie sagte „Zweitschwärzeste“ ließ mich leicht geschockt erahnen, was folgen würde. Ich schwieg mit offenem Mund.
»Der Tag, dieses Ereignis, änderte alles. Während ich mich, durch psychologische Betreuung, wieder an ein halbwegs normales Leben herantastete, fiel Edgar in ein Loch.«