IM ANFANG WAR DER TOD. Eberhard Weidner

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Название IM ANFANG WAR DER TOD
Автор произведения Eberhard Weidner
Жанр Языкознание
Серия Anja Spangenberg
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783750214316



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      »Hast du vielleicht noch irgendwelche alten Sachen von mir im Keller oder auf dem Speicher, wo sie dabei sein könnte?«

      »Ausgeschlossen«, sagte Dagmar sofort. »Deine alten Sachen, die du nicht mehr brauchtest, haben wir schon vor Jahren weggegeben. Und an die Dinge kann ich mich noch gut erinnern. Es waren hauptsächlich Kinderbücher, Spielsachen und Stofftiere. Aber eine Bibel war ganz bestimmt nicht dabei. Das wüsste ich.«

      »Aber du erinnerst dich doch an die Bibel, oder?«

      »Ja. Nachdem du sie jetzt erwähnt hast, kann ich mich wieder erinnern. Du bekamst sie damals zur Erstkommunion. Ich weiß aber beim besten Willen nicht mehr, von wem.«

      »Ich auch nicht«, gestand Anja. »Weißt du dann vielleicht noch, wann du sie zum letzten Mal gesehen hast?«

      »Mmh«, machte Dagmar, während sie nachdachte. »Ich denke, das muss noch vor dem Tod deines Vaters gewesen sein. Zumindest kann ich mich nicht erinnern, dass sie mir danach noch einmal unter die Augen gekommen ist.«

      Anjas Mutter glaubte natürlich noch immer, ihr Mann hätte Selbstmord verübt. Woher sollte sie auch die Wahrheit kennen? Die kannten schließlich nur der Mörder und seit drei Monaten auch Anja. Doch die hatte nicht vor, Dagmar die Wahrheit zu erzählen. Zumindest nicht, bevor sie herausgefunden hatte, wer ihren Vater ermordet hatte und warum er hatte sterben müssen.

      »Wo die Bibel wohl hingekommen sein mag?«, fragte Anja versonnen.

      »Ich das denn wirklich so wichtig?«

      »Eigentlich nicht«, wiegelte Anja ab. »Ich wollte es einfach nur wissen.«

      »Wahrscheinlich ist sie bei einem der Umzüge verloren gegangen«, mutmaßte ihre Mutter. »Nach Franks Tod sind wir aus dem Haus in eine kleinere Wohnung gezogen. Da haben wir viele Sachen aussortieren müssen, weil wir einfach nicht mehr genug Platz dafür hatten. Möglich, dass dabei auch die Bibel weggekommen ist, ohne dass es einer von uns beiden auffiel. Schließlich standen wir damals ziemlich unter Schock und hatten ganz andere Sorgen.«

      Anja nickte, denn damit hatte Dagmar recht. Sie selbst erinnerte sich kaum noch an die Wochen und Monate nach dem Tod ihres Vaters. Sie war damals wie ein Schlafwandler durchs eigene Leben marschiert. Die Erinnerungen, die sie an diese Zeit besaß, kamen ihr daher eher wie unwirkliche Traumbilder vor. Wieso sollte es ihrer Mutter anders ergangen sein?

      »Ich erinnere mich noch, dass ein paar Tage nach Franks Tod Pfarrer Hartmann zu uns kam, um mit uns über unseren Verlust zu sprechen.« Natürlich wusste Dagmar noch nichts vom Tod des Geistlichen. »Du wolltest damals nicht mehr in die Kirche gehen. Und auch mit dem Pfarrer wolltest du nicht sprechen. Stattdessen hast du ihm und Gott heftige Vorwürfe gemacht. Du warst auf Gott und die ganze Welt sauer, was ich dir nicht einmal verdenken konnte. Pfarrer Hartmann war über deine Zurückweisung sehr enttäuscht, hat sie jedoch akzeptiert. Er meinte zum Abschied, dass seine Kirche immer für dich offen stünde und du jederzeit zu ihm kommen könntest. Er habe stets ein offenes Ohr für dich.«

      Tja. Letztendlich bin ich tatsächlich zu ihm gekommen. Allerdings hatte ich ein Fleischmesser dabei, und unser Gespräch ist vermutlich vollkommen anders verlaufen, als der gute Mann sich das vorgestellt hatte. Am Ende hatte er nicht nur ein offenes Ohr, sondern auch mehrere offene Wunden.

      »Danach«, fuhr Dagmar fort, »hattest du, gelinde gesagt, mit Gott, Religion und dem Pfarrer nichts mehr am Hut. Ich nahm daher vermutlich an, dass du in deinem Zorn auf Gott auch die Bibel weggeworfen hattest.«

      »Nein, das habe ich nicht getan. Ich hab sie auch nicht mehr gesehen.« Aber vielleicht hatte ihre Mutter recht, und die Bibel war während des darauffolgenden Umzugs verlorengegangen. Aber wie war es dann möglich, dass sie ausgerechnet jetzt am Schauplatz eines Mordes auftauchte?

      Ihre Mutter redete weiter, doch Anja hörte ihr nicht mehr zu, weil sie konzentriert nachdachte.

      Was, wenn die Bibel zufälligerweise in die Hände von Pfarrer Hartmann gelangt war? Und als er ihren Namen darin gelesen hatte, hatte er sie aufgehoben, um sie ihr irgendwann zurückzugeben, wenn sie, wie er insgeheim vielleicht noch immer hoffte, in den Schoß der Kirche zurückkehrte. Hatte er sich etwa deshalb mit ihr in Verbindung gesetzt und ein Treffen am gestrigen späten Abend in der Kirche vereinbart? Und sie hatte nach dem überraschenden Anruf des Pfarrers, an den sie jahrelang keinen Gedanken verschwendet hatte, nichts Besseres zu tun gehabt, als sich sinnlos zu betrinken und ein Fleischmesser mit zu ihrem abendlichen Rendezvous bei Kerzenschein in der Kirche zu bringen.

      Anja schüttelte heftig den Kopf, als ihr wieder einmal bewusst wurde, was sie getan hatte, und sie musste ein Stöhnen unterdrücken. Aber darüber wollte sie hier und jetzt ganz bestimmt nicht nachdenken. Deshalb verdrängte sie die schmerzhaften Überlegungen.

      Auf jeden Fall würde dieser Hergang erklären, wie die Bibel an den Tatort gelangt war. Aber wer hatte dann die Bibelstelle markiert und verändert? Pfarrer Hartmann? Und wenn er es tatsächlich gewesen war, warum hätte er so etwas tun sollen?

      Die Fragen, die sie hatte, wurden mit der Zeit nicht weniger, sondern im Gegenteil immer zahlreicher. Und dabei hatte sie bis jetzt noch keine Einzige beantworten können.

      Dagmar verstummte in diesem Moment, und Anja wollte die Gelegenheit nutzen, um das Gespräch zu beenden, weil sie zurück in die Dienststelle musste.

      »Ich muss jetzt leider Schluss und mich wieder an die Arbeit machen, Mama.«

      »Warte noch!«, sagte Dagmar hastig.

      »Was ist denn noch?« Anja hoffte, dass sie nicht halb so genervt klang, wie sie sich fühlte, aber ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es wirklich Zeit wurde.

      »Ich wollte dich heute ohnehin noch anrufen, aber dann kamst du mir zuvor.«

      »Ach ja?«, fragte Anja argwöhnisch. »Und weswegen wolltest du mit mir sprechen?«

      »Ich …« Dagmar stockte, als wäre sie sich nicht ganz sicher, wie sie beginnen sollte.

      Das war so ungewohnt, dass Anja sofort nervös und misstrauisch wurde. Sie konnte sich nicht erinnern, wann ihrer Mutter zuletzt die Worte gefehlt hatten. »Was ist los? Nun sag schon, Mama! Ist etwas passiert?«

      »Nein, natürlich nicht. Es ist nur …« Sie seufzte. »Ich bekam gestern einen Anruf.«

      »Einen Anruf? Von wem?« Anjas Verstand blätterte blitzschnell durch ihr Personengedächtnis, als müsste er eine Liste von Verdächtigen abarbeiten, um all die Person herauszufiltern, die ihre Mutter angerufen haben könnten. Zuerst dachte sie natürlich an Krieger, der ihre Mutter über sie aushorchen wollte. Aber am gestrigen Tag war Pfarrer Hartmann noch am Leben gewesen. Krieger hatte daher auch noch keinen Grund gehabt, die Kollegin von der Vermisstenstelle für eine Mörderin zu halten. Als Nächstes kam ihr der Mörder ihres Vaters in den Sinn, der vermutlich auch hinter den beiden E-Mails steckte, die sie heute erhalten hatte. Zweifellos heckte er wieder irgendeine Gemeinheit aus. Aber aus welchem Grund sollte er ihre Mutter kontaktieren?

      »Von … deinem Onkel«, sagte Dagmar in diesem Moment und beendete damit ihre Spekulationen.

      »Onkel?«, echote Anja perplex. Welcher Onkel?, wollte sie schon fragen. Doch bevor sie dazu kam, fiel ihr der Bruder ihres Vaters wieder ein. Ähnlich wie bei Pfarrer Hartmann hatte sie auch an Onkel Christian schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gedacht.

      Christian Kramer war der Jüngere der beiden Brüder. Als ihr Vater noch am Leben gewesen war, war der damals noch unverheiratete und kinderlose Christian oft zu Besuch gekommen und hatte mit seiner Patentochter Anja gespielt. Doch dann waren die beiden Brüder über irgendetwas in Streit geraten, und Christians Besuche hatten abrupt geendet. Kurze Zeit später hatte Anja ihren Vater erhängt im Arbeitszimmer gefunden. Es wurde ihr erst jetzt, als sie erstmals seit vielen Jahren wieder darüber nachdachte, bewusst, dass diese beiden Ereignisse, sofern sie es richtig in Erinnerung hatte, zeitlich sehr nah beieinandergelegen hatten. Erst der erbitterte Streit, der die beiden Brüder entzweit hatte, und dann der Tod ihres Vaters.

      Natürlich