IM ANFANG WAR DER TOD. Eberhard Weidner

Читать онлайн.
Название IM ANFANG WAR DER TOD
Автор произведения Eberhard Weidner
Жанр Языкознание
Серия Anja Spangenberg
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783750214316



Скачать книгу

worden war, hätte sie gewiss auch keinen Zusammenhang gesehen. Doch nun, da sie es wusste, machte dieser enge zeitliche Rahmen sie automatisch misstrauisch. Vor allem, seitdem der Mörder ihres Vaters wieder in ihr Leben getreten war.

      Sie erinnerte sich, dass sie ihren Onkel zum letzten Mal bei der Beisetzung ihres Vaters gesehen hatte. Allerdings war es nur ein kurzes Aufeinandertreffen im strömenden Regen auf dem Friedhof gewesen, denn unmittelbar danach war er wieder verschwunden. Über gemeinsame Bekannte hatte ihre Mutter später erfahren, dass Christian, der von Beruf Ingenieur war, nach Südafrika gegangen war. Dort hatte er geheiratet und zwei Kinder bekommen. Mehr als diese vagen Informationen hatten sie allerdings nicht, denn er hatte sich in den dreiundzwanzig Jahren, die seitdem vergangen waren, kein einziges Mal gemeldet.

      Aber wieso dann ausgerechnet jetzt?

      »Was wollte er von dir?« Das Misstrauen ließ Anjas Stimme schärfer klingen, als sie beabsichtigt hatte.

      »Du hörst dich ja an, als wolltest du mich verhören«, sagte ihre Mutter daraufhin. »Was ist los? Bist du sauer auf ihn, weil er so lange nichts von sich hören ließ?«

      Anja zuckte mit den Schultern. Vom wahren Grund für ihr Misstrauen konnte sie Dagmar natürlich nichts sagen. Deshalb nahm sie das Stichwort, das ihre Mutter ihr gegeben hatte, dankend auf. »Hätte ich dafür nicht allen Grund? Immerhin ist er mein Patenonkel und hat in dreiundzwanzig Jahren nicht ein einziges Mal geschrieben oder angerufen.«

      »Er wird seine Gründe dafür gehabt haben.«

      »So? Welche denn?«

      »Woher soll ich das denn wissen?«

      »Weißt du vielleicht, worüber er und Papa damals gestritten haben.« Für Anja fühlte es sich jedes Mal merkwürdig an, wenn sie das Wort Papa in den Mund nahm. Sie hatte es seit dem Tod ihres Vaters nur noch selten ausgesprochen, es meist sogar geradezu krampfhaft vermieden. Deshalb war es jedes Mal wieder ungewohnt, wenn sie es benutzte. So wie ein Paar Schuhe, das man nur selten anzog. Es passte zwar noch, fühlte sich aber komisch an.

      »Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Dagmar. »Als Christian nicht mehr zu uns kam, habe ich Frank natürlich danach gefragt. Doch er wollte es mir nicht sagen und vertröstete mich auf später. Aber dann …« Sie ließ den Rest des Satzes ungesagt. Wahrscheinlich schmerzte es sie noch immer, über den Tod ihres ersten Mannes zu sprechen oder auch nur darüber nachzudenken. Da sie noch immer davon ausgehen musste, er hätte Selbstmord verübt, hatte sie vermutlich das Gefühl, er hätte sie und ihre Tochter im Stich gelassen. Auch Anja hatte das jahrzehntelang so empfunden, daher konnte sie ausnahmsweise nachfühlen, wie es ihrer Mutter ging. Gleichwohl konnte sie ihr nicht die Wahrheit sagen.

      Noch nicht!

      »Und warum hat Onkel Christian sich ausgerechnet jetzt wieder gemeldet?«, fragte Anja.

      »Weil er wieder in Deutschland ist.«

      Anja wurde sofort hellhörig. Onkel Christian war also wieder im Land! »Seit wann ist er wieder hier?«

      »Warum willst du das wissen?«

      »Es interessiert mich eben einfach.«

      Dagmar seufzte, antwortete dann aber: »Ich glaube, er sagte etwas von sechs Monaten.«

      Das würde passen!, dachte Anja. Wenn Christian – sie musste wirklich aufhören, ihn jedes Mal automatisch Onkel Christian zu nennen – schon so lange hier war, dann konnte er durchaus der Komplize des Apokalypse-Mörders sein.

      »Warum ist er nach all den Jahren überhaupt zurückgekommen? Und was macht er hier?«

      »Ich komme mir wirklich langsam vor wie in einem Verhör, Anja«, beschwerte sich ihre Mutter. »Einmal Polizistin, immer Polizistin, oder? Bei deinem Vater war es manchmal ganz genauso.«

      Anja, die bei der Berufswahl bewusst in die Fußstapfen ihres Vaters getreten war, wertete das als unfreiwilliges Kompliment. »Entschuldige bitte, Mama. Manchmal kann ich eben einfach nicht aus meiner Haut. Aber würdest du meine Fragen bitte trotzdem beantworten.«

      Dagmar war durch die Entschuldigung und Anjas bittenden Tonfall wieder besänftigt. »Ich muss zugeben, dass mich das natürlich ebenfalls brennend interessiert hat. Deshalb habe ich ihn natürlich danach gefragt.«

      »Und?« Anja unterdrückte ein genervtes Stöhnen. Manchmal, vor allem, wenn sie spürte, dass ihre Tochter etwas unbedingt wissen wollte, schien es ihrer Mutter eine diebische Freude zu bereiten, sich jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen zu lassen.

      »Christian ist jetzt im Ruhestand.«

      »Im Ruhestand? Er ist doch erst …« Anja überlegte kurz. »… Ende fünfzig oder so.«

      »Siebenundfünfzig«, präzisierte Dagmar. »Er wurde fünf Jahre nach deinem Vater geboren.«

      »Und wieso ist er dann schon im Ruhestand?«

      »Wenn ich es richtig verstanden habe, hat er es in Südafrika zu einigem Wohlstand gebracht und das Geld gut angelegt. Er muss also nicht mehr arbeiten, sondern kann bequem von den Zinsen und Renditen leben, die er mit seinen Geldanlagen erzielt. Deshalb hat er sich zur Ruhe gesetzt und ist nach Deutschland zurückgekehrt, um seinen Lebensabend in der alten Heimat zu verbringen.«

      »Und wo wohnt er jetzt?«

      »Er hat sich ein Haus in Obermenzing gekauft. Anscheinend ist es gar nicht weit von dem Haus entfernt, in dem wir damals wohnten, als Frank noch lebte.«

      Ausgerechnet Obermenzing!, dachte Anja. Dort lag auch die Kirche, in der sie Pfarrer Hartmann getötet hatte. Zufall?

      »Was ist mit seiner Frau und den Kindern?«

      »Seine Frau ist letztes Jahr bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Und seine Tochter und sein Sohn sind erst jetzt nachgekommen und zu ihm gezogen. Deshalb hat er mich ja auch angerufen. Er will, dass wir uns alle treffen und endlich kennenlernen.«

      Anja überlegte. Wenn sie ehrlich war, dann hatte sie eigentlich kein besonderes Interesse, diesen Mann wiederzusehen, nachdem er vor dreiundzwanzig Jahren sang- und klanglos verschwunden war und sich seitdem kein einziges Mal gemeldet hatte. Andererseits war da dieser nagende Gedanke in ihrem Hinterkopf, dass er ihren Vater ermordet haben könnte. Schon allein deshalb sollte sie die Gelegenheit nutzen, ihm ein bisschen auf den Zahn zu fühlen. Außerdem gab es da noch ihre Cousine und ihren Cousin, die nichts mit der alten Geschichte zu tun hatten und die sie gern kennenlernen würde.

      »Und was hast du ihm geantwortet?«, fragte sie ihre Mutter.

      »Ich sagte ihm, dass ich dich fragen und ihm dann Bescheid geben würde. Also, was sagst du jetzt dazu? Willst du deinem Patenonkel noch eine Chance geben? Ich kann natürlich verstehen, dass du noch immer sauer auf ihn bist. Aber vielleicht hatte er gute Gründe für sein Verhalten. Dein Vater war auch nicht immer einfach. Manchmal konnte er richtig stur sein, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte.« Sie verkniff es sich, darauf hinzuweisen, dass es sich dabei um einen Charakterzug handelte, den sie auch bei ihrer Tochter allzu oft festgestellt hatte. »Außerdem wissen wir nicht, worüber die beiden damals gestritten haben. Ganz abgesehen davon könntest du dann auch Judith und Oliver kennenlernen.«

      »Judith und Oliver?«

      »So heißen deine Cousine und dein Cousin.«

      »Na gut«, sagte Anja. »Ich werde ihm, wie du sagtest, eine Chance geben. Außerdem würde ich seine beiden Kinder tatsächlich gern treffen.«

      »Das freut mich. Wann passt es dir denn?«

      Anja dachte an Konstantin. Da er überraschend den Nachtdienst eines Kollegen übernehmen musste, würde sie ihn heute ohnehin nicht sehen. Sie hoffte allerdings, dass er morgen wieder Zeit für sie hatte. Deshalb wäre der heutige Abend für sie am ehesten für ein Treffen mit der Verwandtschaft geeignet. »Wie wäre es gleich heute Abend? Da hätte ich Zeit.«

      »Mir wäre das ebenfalls recht«, sagte ihre Mutter. »Ich rufe Christian im Laufe des Nachmittags an und frage ihn, was er davon hält.