Das Rubikon-Papier. Christoph Güsken

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Название Das Rubikon-Papier
Автор произведения Christoph Güsken
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754179727



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war so freundlich, mich von Papas Tod zu informieren.“ Anne streckte die Hand nach dem Brief aus, und Andersen überließ ihn ihr. „Haben Sie schon einen Verdacht, wer ihn getötet haben könn­te?“

      „Leider noch nichts konkretes. Frau Holm glaubt, dass der Mord im Zusammenhang mit seiner Arbeit zu sehen ist.“

      „Sicher.“ Anne warf mit einer Kopfbewegung ihr Haar zurück. „Sie will, dass alles einen Sinn ergibt. Deshalb möchte sie, dass er für eine Sache gestorben ist. Dabei gibt es keine Sache, die irgendeinem Tod einen Sinn gibt.“

      „Du sagst das so, als mache mir diese Tragödie nichts aus“, be­schwerte sich Nelli. „Dabei weißt du genau, dass das nicht nicht wahr ist! Ich habe der Polizei lediglich gesagt, dass Benno ein streitbarer Mann war.“

      „Mit wem hat er sich in der letzten Zeit angelegt?“, fragte der Haupt­kommissar.

      „Von konservativer Seite hat es sogar Morddrohungen gegeben, doch das ist jetzt schon ein paar Jahre her.“

      Anne von Zabern schien dem Gespräch nicht weiter zu folgen. Sie nahm auf einer Sessellehne Platz, schlug die Beine übereinander und studierte das Papier in ihrer Hand, als handele es sich um einen seiten­langen Brief und nicht um ein kurzes Fragment.

      Nelli erhob sich, trat ans Fenster und sah in den parkähnlichen Gar­ten hinaus, der durch den Regenschleier grau und ungemütlich wirkte.

      „Wie haben Sie Herrn von Zabern kennengelernt?“, fragte Ander­sen.

      Nelli drehte sich um und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Fensterscheibe. „Ist das für Sie wichtig?“

      „Zu diesem Zeitpunkt ist leider schwer einzugrenzen, was wichtig ist und was nicht.“ Andersen lächelte versöhnlich. „Wenn Sie nicht wollen, brauchen Sie es mir nicht zu erzählen.“

      „Seit etlichen Jahren bin ich Mitarbeiterin von Attack. Das ist eine Or­ganisation, die sich überall auf der Welt gegen die unmenschlichen Fol­gen der Globalisierung wehrt. Ich besuchte den Weltwirtschaftsgip­fel in Genua, wo wir Protestaktionen inszenierten und demonstrierten. Die Sicher­heits­kräfte gingen damals mit unge­wöhnlicher Härte gegen uns vor. Viele Jugendliche wurden ver­letzt. Ich hatte ein Riesenglück. Ein Polizeibeamter stellte mich in einer Sackgasse und hob seinen Gum­miknüppel gegen mich. Von hinten trat ein Mann auf ihn zu, riss ihm den Knüppel aus der Hand und schleu­derte ihn über eine Mauer. Der Bulle war so perplex, dass er überhaupt nicht reagierte.“

      „Und dieser Mann war Dr. von Zabern?“

      „Er nahm gar nicht an den Demonstrationen teil. Dafür sei er in­zwi­schen zu alt, meinte er.“ Nellis Gesichtsausdruck wurde schwär­merisch, während sie sich erinnerte. „Benno wollte nur ein paar Sze­nen auf Video festhalten für eine TV-Dokumentation. Wir haben uns damals nur kurz gesehen, auf einen Kaffee sozusagen. Aber ich be­suchte ihn später hier, als ich in Münster ein Studium begann. Und dann ging es mit uns los.“

      „Wussten Sie, was er beruflich machte?“

      „Natürlich. Schließlich war er eine Instanz in der ökologischen Be­wegung und ging voll in seiner Arbeit auf. Ich bewunderte ihn. Das tue ich noch heute.“ Sie wandte ihr Gesicht zur Fensterscheibe.

      „Meinem Kollegen gegenüber erwähnten Sie gestern ein Fernseh­streitgespräch, in dessen Verlauf es zu einer Auseinandersetzung kam.“

      Frau Holm schneuzte in ein Taschentuch. Andersen hatte das Ge­fühl, dass das Reden über die Vergangenheit ihre Stimmung besserte.

      „Die Frau, die ihn attackiert hat“, fuhr sie fort, „war eine Spreche­rin der Regenwaldpiraten. Das ist eine radikalökologische Gruppie­rung. Gerüchten zufolge verüben sie hin und wieder Anschläge, aller­dings nur gegen Sachen. Die Gruppe unterhält ein Koordinationsbüro hier in der Stadt.“

      Andersen hatte Block und Kugelschreiber hervorgezogen. Während er sich Notizen machte, verließ Nelli den Raum. „Entschuldigen Sie mich einen Augenblick.“

      Andersen hörte sie die Treppe hinaufgehen.

      Anne nutzte die Gelegenheit, ihr Schweigen zu brechen. „Es stimmt, was sie sagt“, meinte sie. „Papa ist in seiner Arbeit vollkom­men auf­ge­gangen.“ Was Nelli in schwärmerischer Bewunderung geäu­ßert hat­te, klang aus ihrem Mund wie ein Vorwurf. „Sie bedeutete al­les für ihn.“

      „Sie wollen sagen, ein Kind hatte wenig Platz in seinem Leben, nicht wahr?“

      Anne presste die Lippen zusammen. „Das wäre noch übertrieben.“

      „Aber Nelli hatte einen?“

      „Sie war ein Teil seiner Arbeit. Jedenfalls lange Zeit.“

      „Und danach?“

      Die junge Frau wedelte mit dem Blatt Papier. „Ich glaube, dass er da­rauf in diesem Brief zu sprechen kommen wollte. Papa war anders in der letzten Zeit. Ich hatte das Gefühl, dass ihm vieles klar geworden war und er sein Leben ändern wollte. Ich vermute, er hatte vor, ihr mitzuteilen, dass er sich nach langer Zeit besser mit Rosa versteht.“

      „Rosa?“

      „Meine Mutter. Sie leben schon lange getrennt, doch seit einiger Zeit haben sie sich wieder regelmäßig getroffen.“

      „Demnach wäre der Brief doch nicht an Sie gerichtet, sondern an Nel­li?“

      Die junge Frau nickte. „Ich habe mich wohl getäuscht.“

      „Glauben Sie, dass Ihr Vater Nelli verlassen wollte?“

      Annes Mund wurde zum Strich. „Meine Stiefmutter ist drei Jahre jün­ger als ich. Eine Zeit lang mag das seinen Reiz gehabt haben, doch ir­gendwann wurde selbst Papa klar, dass das für eine Familie kein sta­bi­ler Zustand sein kann.“

      Nelli kehrte zurück. Im Arm hielt sie einen Stapel Videokassetten. „Das sind Ausschnitte aus seiner Arbeit, Fernsehsendungen, Reden und Vorlesungen, die er gehalten hat“, sagte sie. „Sie können sich so vielleicht besser ein Bild machen.“

      „Wie würden Sie Ihre Beziehung zu Dr. von Zabern beschreiben?“, fragte Andersen, während er das Material an sich nahm.

      Nelli Holm warf Anne einen lauernden Blick zu. „Ich wüsste nicht, was -“, setzte sie an.

      In diesem Moment klingelte es an der Haustür.

      Frau Holm ging, um zu öffnen.

      Der Ankömmling hatte eine hohe männliche Stimme. Er schien Nelli sein Beileid auszusprechen. „Ich habe es aus den Nachrichten er­fah­ren“, sagte der Mann. „Zuerst wollte ich es nicht glauben.“

      Ein kleiner, dicklicher Mann betrat den Raum. Andersen schätzte sein Alter auf sechzig Jahre. Er hatte ein rundes Gesicht, eine Glatze und einen säuberlich gestutzten Backenbart, der altmodisch wirkte. Auffällig waren seine überaus wachen Augen, mit denen er Andersen nicht unfreundlich, aber neugierig musterte, nachdem er Anne mit ei­nem Nicken begrüßt hatte.

      „Andersen, Kripo Münster“, beantwortete der Hauptkommissar die nicht gestellte Frage. „Ich bearbeite den Fall.“

      „Mackenstedt“, stellte sich der Dicke vor. „Ich bin - war ein guter Freund des Ermordeten.“

      „Darf ich fragen, wie lange Sie sich kannten?“

      „Nun, seit etlichen Jahren. Wir haben so manche Sache gemeinsam auf die Beine gestellt.“ Mackenstedt schüttelte den Kopf. „Und jetzt das ...“

      „Sie haben also beruflich zusammengearbeitet?“

      „Nicht im eigentlichen Sinne. Von Hause aus bin ich Geologe, wäh­rend Benno Klimatologe ist. Verzeihen Sie: war. In gewisser Wei­se kann man sagen, dass wir uns ergänzt haben.“

      „Inwiefern?“

      „Damals veröffentlichte ich ein Buch, in dem ich einige seiner Grundthesen widerlegte. Benno lud mich in seine Sendung