Die Erzählerin von Arden. Carola Schierz

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Название Die Erzählerin von Arden
Автор произведения Carola Schierz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738019827



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dicken Kanten Brot heraus. Als Lillian alles aufgegessen und sich etwas frisch gemacht hatte, konnte Emma ihre Neugier nicht mehr zügeln und bat das Mädchen, ihr doch bitte die ganze Geschichte noch einmal zu erzählen. Diese gab dem Drängen, der ohne Frage sehr neugierigen, aber ebenso liebenswerten Frau, gern nach und erzählte bereitwillig alles, was diese wissen wollte. Am Ende ihres Berichtes tupfte Emma sich beherzt die Tränen weg, die ihr dick aus den Augen quollen. „Hab keine Angst, mein Schatz, du bist nicht allein. Ab jetzt werde ich mich um dich kümmern!“

      „Grunz“, kam es aus der Ecke in die sich Brian zurückgezogen hatte.

      „Ach halt doch den Mund, du alter Zausel! Nicht jedem gefällt ein Leben jenseits aller Zivilisation.“

      Lillian folgte amüsiert dem Wortwechsel des betagten Geschwisterpaares. Auch wenn die beiden sich noch so angifteten, konnten sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich im Grunde ihres Herzens liebten.

      „Ich wäre sehr dankbar für jede Hilfe, die ich bekommen kann“, sagte sie beschwichtigend und meinte es auch so.

      Emma warf ihrem Bruder einen langen triumphierenden Blick zu.

      „Aber natürlich, mein Schatz. Als Erstes müssen wir dir etwas Neues zum Anziehen besorgen. Aus den Resten deines alten Kleides kann man sicher noch etwas machen. Bis dahin bitte ich Helen, dir eines von ihren zu leihen. Sie hat die gleiche Statur wie du und auch sonst besteht eine gewisse Ähnlichkeit. Man könnte euch durchaus für Schwestern halten. Sie arbeitet als Magd bei Hofe. Ihr werdet euch sicher blendend verstehen.“ Emma hielt kurz inne. „Ach! Da fällt mir ein, dass in ein paar Wochen eine Stelle als Magd frei wird. Geraldine wird heiraten und dann auf dem Hof ihres Mannes leben ... Brian, du kennst sie doch. Die kleine Geraldine?“

      „Grunz“, war die Antwort, der man sein fehlendes Interesse an Geraldines Hochzeitsplänen deutlich entnehmen konnte.

      „Wer hätte gedacht, dass sie vor Helen zum Altar schreitet. Du musst wissen, dass Helen und ihr Verlobter John schon lange ans Heiraten denken, aber sie müssen wohl noch ein wenig für die Aussteuer sparen. John arbeitet als Stallknecht in den Stallungen unseres Königs und wird für seine Arbeit sehr geschätzt ... Nun ja, wenn du magst kann ich mich dafür einsetzen, dass du Geraldines Stelle bekommst. Es ist ein recht schönes Arbeiten bei uns im Schloss. Du darfst natürlich nicht faul sein, aber wenn du deine Sache ordentlich machst, wird dich niemand schlecht behandeln.“

      Lillian dachte einen Augenblick lang nach. Sie hatte eh nicht die Wahl abzulehnen. Und abgesehen davon, war es das verlockendste Angebot, das ihr in der letzten Zeit unterbreitet worden war. Sie sagte mit großer Freude zu.

      Neubeginn

      In den nächsten beiden Wochen erholte sie sich schnell und übernahm bald viele Tätigkeiten im Haushalt des gutmütigen Heilers. Sie verstanden sich prächtig - ohne viele Worte. Für Unterhaltung sorgte Emma, die allabendlich vorbeikam und sie mit Resten aus der Schlossküche und dem neuesten Klatsch versorgte.

      Dann kam der Tag, an dem sie, wieder ganz bei Kräften, ihren Dienst als Magd antrat. Schloss Arden war ein beeindruckender Bau von stattlicher Größe und wirkte dennoch einladend auf den Betrachter. Es lag auf einer kleinen Anhöhe und gab den Bewohnern einen traumhaften Blick auf die kleine Stadt und das fruchtbare Umland frei.

      Lillian wechselte mit dem winzigem Bündel, welches ihre ganze Habe darstellte, in den anderen Teil des Gesindehauses, in dem die Schlafräume der weiblichen Bediensteten untergebracht waren. Sie teilte sich ein Zimmer mit zwei anderen Mädchen. Ellen hatte sie bereits kennengelernt. Eine freundliche Brünette mit einer Stupsnase und etwas zu großen Zähnen, die das halbe Gesicht einnahmen, wenn sie breit lächelte. Das andere Bett gehörte Helen. Die Mädchen waren sich bisher noch nicht begegnet und Lillian brannte darauf, sich für das geborgte Kleid zu bedanken, welches sie auch heute noch trug.

      Ihre erste Aufgabe bestand darin, zwei Eimer Wasser aus dem Brunnen zu holen. Gerade als sie sich über den Rand beugte, um den Schöpfeimer herunterzulassen, spürte sie zwei tellergroße Hände, die sich ihr von hinten um die Hüften legten und nun dabei waren, langsam nach oben zu wandern. Als Lillian aus ihrer Schreckensstarre erwachte, drehte sie sich rasch um und zog dem Lüstling den leeren Eimer über den Kopf. Er ging unsanft zu Boden.

      „Wage es ja nicht mich anzufassen, du Wüstling!“, schrie sie ihm ins entsetzte Gesicht.

      Er schien völlig aus der Fassung gebracht. „Ich dachte du wärest …“

      „… neu hier und darum leichte Beute, was?“, fiel sie ihm lautstark ins Wort. „Aber nicht mit Lillian Anderson! Merk dir das!“

      „Nein!“, flehte er. „So ist es nicht! Ich schwöre!“

      Vom Lärm angelockt kamen ein paar andere Dienstboten auf sie zu.

      „Was ist hier los?“, fragte ein älterer Knecht rüde. Mit zusammengekniffenen Augen erfasste er die Szene.

      „Dieser Wüstling hat mich unsittlich angefasst“, antworte Lillian ihm schnell.

      „Sag, dass das nicht wahr ist!“ Ein Mädchen hatte sich aus der Menge gelöst und blickte mit wütender Miene auf den Mann am Boden. Dieser rappelte sich langsam hoch und wischte sich mit dem Hemdsärmel das Blut von seiner aufgeplatzten Lippe.

      „Nein, Helen, natürlich nicht! Ich dachte, dass du es wärst. Ich meine, sieh sie dir doch mal an! Sicher, von vorn seid ihr gut zu unterscheiden, aber ich habe sie nur von hinten gesehen. Und sie hat auch noch dein Kleid an!“

      Helen musterte erst ihren Verlobten und dann ihre vermeintliche Konkurrentin. Plötzlich huschte ein Ausdruck der Erkenntnis über ihr hübsches Gesicht. Sie hatte andere Augen als Lillian und ihre Haare waren nicht so lockig, aber eine gewisse Ähnlichkeit war nicht zu verleugnen. Auch bei Lillian dämmerte es langsam. Sie brachen in herzliches Gelächter aus und stellten sich einander vor. Die Umstehenden sahen sich verständnislos an. Dann lösten die jungen Frauen die Situation auf. Helen tröstete ihren Verlobten mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange, was diesem ein breites, zufriedenes Grinsen entlockte. Nun, wo Lillian sich den vermeintlichen Wüstling genauer ansah, konnte sie wirklich nichts Gefährliches an ihm entdecken. John war ein großer, gutaussehender Bursche mit braunem Haar, das ihm in leichten Wellen in den Nacken fiel. Er hatte ein offenes freundliches Gesicht und stellte sich nun seinerseits vor. Diese turbulenten Ereignisse waren der Auftakt zu einer tiefen Freundschaft zwischen den drei jungen Leuten.

      Als sie ihr Tagewerk vollbracht hatten, kehrten sie gemeinsam zum Gesindehaus zurück. Nach dem Abendmahl, welches aus einer schmackhaften Suppe und Brot bestand, gingen sie nach draußen. Dort versammelte sich allabendlich die einfache Dienerschaft an einem Feuer, um das Neueste auszutauschen. Der Zwischenfall am Brunnen hatte schon die Runde gemacht und der arme John wurde zum Objekt des allgemeinen Spottes. Jeder versorgte ihn mit gut gemeinten Ratschlägen, wie er so etwas in Zukunft vermeiden könnte. Sie reichten von: 'Macht doch eine Parole aus!' bis zu 'Mal ihr ein Kreuz über Brust und Hintern, damit du sie von vorn und von hinten erkennst!'

      Er ließ es geduldig über sich ergehen. Dann blieb die ganze Aufmerksamkeit an der neuen Magd hängen und Lillian musste unzählige Fragen beantworten. Als sie erwähnte, womit sie früher ihren Lebensunterhalt bestritten hatte, wurde der allgemeine Wunsch nach einer Kostprobe ihres erzählerischen Talentes laut. Die junge Frau kam diesem Wunsch nur zu gern nach und erzählte eine ihrer Lieblingsgeschichten. Als sie geendet hatte und Held und Heldin nach bestandenen Prüfungen einander in den Armen lagen, war es zunächst mucksmäuschenstill. Nur das leise Knacken des fast heruntergebrannten Feuers durchbrach diese Stille. Dann, nach und nach, kamen die Zuhörer in die Wirklichkeit zurück.

      „Du bist unglaublich!“, sagte der ältere Knecht vom Brunnen.

      Lillian hatte schon erfahren, dass er bei allen, die im Gesindehaus lebten, hohes Ansehen genoss. Er hieß Simon und war so etwas wie der gestrenge gute Geist im Haus. Jetzt aber glänzten seine Augen wie die eines kleinen Kindes, das gerade sein erstes Stück Zuckerzeug verputzt hatte. Dann kehrten auch alle anderen