Die Erzählerin von Arden. Carola Schierz

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Название Die Erzählerin von Arden
Автор произведения Carola Schierz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738019827



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nicht selten, dass das ein oder andere Mädchen an den spannendsten Stellen laut aufschrie, was wiederum dankbar von den anwesenden Burschen aufgenommen wurde. Sie bekamen so eine gute Rechtfertigung, die 'verängstigten' Geschöpfe nach Hause zu geleiten. Alle waren in diesen schweren Zeiten dankbar für ein paar Stunden des Vergessens und so sah man die immer freundlichen Geschwister überall gern.

      Letzte Woche, sie wollten in die nächste Stadt reisen und waren kurz davor ein Nachtlager aufzuschlagen, kam ihnen plötzlich ein Trupp Reiter entgegen.

      „Klettere in den Wagen und bleibe dort!“, wies David seine Schwester an. Sie gehorchte.

      Der Wagen kam zum Stehen. Die Männer blockierten mit ihren Pferden die Straße und hielten ihre Armbrüste auf David gerichtet.

      „Was wollt ihr?“, fragte er so ruhig, wie es ihm möglich war. Doch Lillian bemerkte die Furcht in der Stimme ihres Bruders.

      „Steig ab und überlasse uns deinen Wagen freiwillig, so wird dir vielleicht nichts geschehen“, sagte der Anführer der Bande in einem Tonfall, der das Schlimmste vermuten ließ.

      „Der Wagen ist das Einzige was wir besitzen. Was soll aus uns werden?“, stieß David hervor.

      „Was meinst du mit ‚wir‘? Wer befindet sich noch im Wagen?“

      Einer der Männer sprang vom Pferd und schlug die Plane beiseite. Lillian blickte in eine widerliche Fratze. Eine dicke Narbe, die wahrscheinlich von einem Schwerthieb herrührte, überzog diagonal sein Gesicht und verzerrte dessen Züge zu einer grinsenden Trollmaske. „Was haben wir denn da für ein süßes Vögelchen?“ Der Mann fuhr sich lüstern mit der Zunge über seine wulstigen Lippen. „Das ist doch mal eine nette Abwechslung für den späteren Abend. Findet ihr nicht auch Männer?“, rief er den anderen zu, ohne den Blick von ihr abzuwenden. „Du musst dich auch für keinen von uns entscheiden, Herzchen, denn wir teilen alles gerecht.“

      Er erntete widerliches Gelächter und schickte sich an, Lillian vom Wagen zu zerren. Sie wehrte sich so gut sie konnte, aber sein Griff verstärkte sich nur. Hart prallte sie auf den Boden, ignorierte jedoch die Schmerzen und rappelte sich schnell hoch. Aber der Mann hatte sie schon wieder gepackt und versuchte jetzt, sie zu küssen. Lillian konnte deutlich den fauligen Atem riechen, der aus seinem zahnlosen Mund strömte. Übelkeit stieg in ihr hoch. In diesem Moment sprang David vom Wagen, stürzte auf sie zu und riss den Mann zur Seite. Er stellte sich schützend vor seine Schwester. Fast im selben Moment spürte Lillian einen stechenden Schmerz in ihrer Schulter und wurde von dem Gewicht ihres taumelnden Bruders zu Boden gedrückt. Von da an wusste sie gar nichts mehr. Wahrscheinlich hielten die Angreifer sie für tot und machten sich mitsamt dem Wagen aus dem Staub ...

      Sie spürte es, bevor sie es begriff: David war tot! Diese Gewissheit brachte Lillian fast um den Verstand und sie brach in ersticktes Weinen aus. Es war, als würde man ihr den Boden unter den Füßen wegziehen.

      Eine Hand legte sich vorsichtig auf die ihre und brachte Lillian ins Gedächtnis zurück, dass Brian der Heiler noch immer neben ihr stand. Er schwieg und wartete, bis sie von allein zu reden begann.

      „Er war mein Bruder. David. Und der einzige Mensch, den ich auf dieser Welt noch hatte ... Was soll jetzt nur werden? Warum konnte ich nicht einfach mit ihm sterben?“ Ein heftiges Schluchzen durchzuckte ihren Körper.

      „Na, na. Wer wird denn gleich aufgeben?“ Brian strich ihr väterlich übers Haar. „Es tut mir leid um deinen Verlust, aber dein Bruder hat dich beschützt, damit du lebst. Sein Opfer war nicht umsonst, wenn du mit diesem Geschenk sorgsam umgehst. Weißt du, Gottes Wege sind manchmal sehr verschlungen, aber ich bin mir sicher, dass er mit dir noch einiges vorhat.“

      Sie wusste, dass er recht hatte, aber das half im Moment nur wenig gegen ihren Kummer.

      Brian legte die Schürze ab und zog sich seinen Mantel über. „Wie heißt du eigentlich, mein Kind?“

      „Lillian. Lillian Anderson.“

      Er lächelte. „Und wie alt bist du, Lillian?“

      „Im Herbst werde ich neunzehn.“

      „Hör zu! Ich gehe jetzt Emma holen. Sie hat sich große Sorgen um dich gemacht und mir aufgetragen, sie sofort zu informieren, wenn du zu dir kommst. Und mit Emma ist in dieser Beziehung nicht zu spaßen. Sie ist eine Vollblutglucke, welche jeden bemuttert, der es will … oder auch nicht“, fügte er mit leichtem Sarkasmus hinzu. „Seit ihre Jüngste das Nest verlassen hat, muss ich dran glauben. Also tu mir den Gefallen und halt sie mir eine Weile vom Leib. Sie meint es nur gut, aber ein alter Junggeselle wie ich, braucht auch mal seine Ruhe.“

      Lillian verkniff sich ein Lächeln und schloss die Augen, sobald er die Tür hinter sich zugezogen hatte. Der erhoffte Schlaf blieb leider aus. Um sich von ihren trüben Gedanken abzulenken, verließ sie ihr Lager, um sich etwas umzusehen. Das Aufstehen fiel ihr nicht leicht. Die verletzte Schulter schmerzte so stark, dass ihr schwarz vor Augen wurde, als sie auf die Beine kam. Nach einer Weile hatte sie sich jedoch im Griff und begann vorsichtig, einen Fuß vor den anderen, den Raum zu erkunden. Ihr Lager, das aus einem Strohsack und ein paar einfachen Laken bestand, nahm die hintere Wand fast gänzlich ein. An einer der beiden langen Seiten stand ein riesiges Regal, welches über und über mit Gläsern und Dosen bestückt war, die mit seltsamen, teils übel riechenden Substanzen gefüllt waren. Von der Decke hingen unzählige Bunde getrockneter Kräuter. Einige davon erkannte Lillian wieder. Ihre Mutter war mit der Heilkraft der Pflanzen gut vertraut und hatte sie, kaum dass das Mädchen laufen konnte, mit auf Kräutersuche genommen. Bei dem Gedanken an diese so fernen, glücklichen Tage, zog sich erneut ihr Herz zusammen. Sie wandte sich ab. Gegenüber dem Regal stand ein langer Arbeitstisch, mit allerlei typischen Geräten, die man zum Ausüben des Heilerberufes brauchte. Messer in verschiedenen Größen und Formen, Aderpressen, Scheren, Mörser, Schalen und sogar eine Knochensäge, über deren Gebrauch Lillian gar nicht näher nachdenken mochte. Brian schien nicht hier zu wohnen, denn nichts wies darauf hin. Sie nahm an, dass er nebenan seinen Wohnraum hatte und dieser hier rein beruflichen Zwecken diente.

      Während sie so ihren Gedanken nachhing, wurde plötzlich die Tür aufgerissen und eine kleine, rundliche, rotgesichtige Frau stürmte in den Raum. Sie war völlig außer Puste und stand nach Luft ringend in der Tür. Die angegrauten Haare waren in wilden Strähnen aus ihrem Dutt gerutscht. Sie sah das Mädchen lächelnd aus wachen Augen an, in denen Lillian deutlich die verwandtschaftlichen Bande zu Brian erkennen konnte. Dieser stand hinter seiner Schwester und beobachtete die Szene.

      „Mein Gott, Mädel, du sollst doch noch nicht aufstehen. Komm, setz dich wenigstens auf das Bett.“ Ehe Lillian es sich versah, hatte Emma sie gepackt und führte sie zum Lager zurück. Die Frau legte rasch ihren Umhang ab und musterte dann ausgiebig ihre neue Schutzbefohlene. Was sie sah, schien sie zufrieden zu stellen. Lillian war ein zartes, anmutiges Geschöpf von durchschnittlicher Größe. Die aschblonden Haare fielen in dicken Locken über ihre Schultern. Sie hatte große blaugraue Augen, unter denen sich allerdings dunkle Ringe abzeichneten.

      'Kein Wunder', dachte Emma, 'bei allem was das arme Ding mitmachen musste.'

      Aber eine ordentliche Portion ihrer guten Pflege, würde auch diesen kleinen Makel schnell verschwinden lassen. Das Mädchen war sicher nicht die größte Schönheit, die sie je gesehen hatte, aber auf seine eigene Weise sehr hübsch und von einer geheimnisvollen Aura umgeben, die den Blick des Betrachters magisch gefangen hielt.

      „Ich bin Euch zu tiefstem Dank verpflichtet. Ohne Euch wäre ich sicher nicht mehr am Leben“, sagte Lillian mit leiser Stimme.

      „Ach Papperlapapp! Ich habe nur meine Christenpflicht getan. Und nenne mich Emma, ich bin schließlich keine von diesen hohen Damen, sondern nur eine einfache Köchin. Brian hat mir schon ein wenig erzählt …“

      Sie wurde durch sein mürrisches Grunzen unterbrochen. „Pah! Jeden Satz, den die Kleine von sich gegeben hat, musste ich dir fünfmal wiederholen.“

      Emma zuckte mit ihren runden Schultern. „Nur, weil man dir altem Stiesel jedes Wort aus der Nase ziehen muss. Wie ich dich kenne, war es trotzdem