Wie ich Betti nach drei Monaten im Schrank wiederfand. Jannik Winter

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Название Wie ich Betti nach drei Monaten im Schrank wiederfand
Автор произведения Jannik Winter
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742706911



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obligatorische Kaffeetasse fehlt. Er spitzt seinen Bleistift, während Miriam genervt in ihr Handy schreit.

      »Du spinnst ja total, Alte!«

      Der Ruf hat Muckels wichtige Arbeit unterbrochen. Er war damit beschäftigt, hinter einer Wand aus zwei hochgestellten Büchern drei weiße Blätter sorgfältig auszurichten.

      »Wer ist bitte die ›Alte‹?«

      Er kann nicht wissen, dass alle weiblichen Kontakte auf ihrem Handy grundsätzlich die ›Alten‹ sind, wobei die Jungs die ehrenvolle Bezeichnung ›Digger‹ tragen.

      »Saskia. Die macht wieder krass ätzend.«

      Ich erkenne, wie Muckel die Augenbrauen hebt. Da bin ich ihm mit meiner Kenntnis der Jugendsprache weit voraus. Er startet den Versuch, ihren bedeutungsschwangeren Satz aufzuschreiben, hält dann mitten in der Bewegung inne, um mir eine Frage zu stellen.

      »Herr Rohwinkel, Sie wollten bei der Befragung Ihrer vierzehnjährigen Tochter Miriam dabei sein. Deswegen nehme ich gleich die Aussagen von Ihnen beiden auf.«

      »Das ist auch besser so. Eure Polizeitricks kenne ich. Ihr belabert sie so lange, bis sie davon überzeugt ist, dass nur ich der Mörder sein kann.«

      Es ist erschreckend, dass der Kommissar bei so einem plumpen Scherz die Augen aufreißt.

      »Und? Sind Sie es denn?«

      Sein Bleistift bleibt regungslos über dem linken Blatt hängen. Scheiße, was habe ich gerade gesagt? Das wird er doch wohl nicht …?

      »Waas? Nun reden Sie mal nicht so einen Quatsch. Überhaupt, wer sagt denn, dass Betti tot ist. Ich als Ehemann würde das merken. Nein, meine geliebte Frau ist entführt worden. Bald wird jemand Lösegeld verlangen. So ist das doch immer, wenn man die übrigen Möglichkeiten ausschließen kann.«

      Der Kommissar bewegt nacheinander die Finger der rechten Hand. Zählt er etwa die Optionen ab?

      »Hat sich denn dieser Jemand schon bei Ihnen gemeldet?«

      »Nein, aber das wird jede Minute passieren.«

      Jetzt sieht er auf die Uhr. Wenn ein Experte für Entführungen so eine Reaktion zeigt, sollte ich langsam anfangen, das Lösegeld zusammenzukratzen.

      »Sind Sie denn so wohlhabend, dass sich eine Erpressung lohnen würde?«

      Jetzt als Millionär aufzutreten erzeugt nur Neid.

      »Ich möchte die Leistung meiner Firma Everphase nicht unter den Scheffel stellen, doch mit dem Konzept Refurbishing und Recycling von Akkus haben wir einen Meilenstein gesetzt. Das startet ausgesprochen hoffnungsvoll.«

      Er weiß nicht, dass ich über seine provisorische Blicksperre hinwegsehen kann, wenn ich mich etwas aufrecht setze. Aber wieso kritzelt er auf das leere Blatt ein Dollarzeichen und dahinter ein Fragezeichen?

      »Refurbishing? Hat das was mit Umtausch zu tun?«

      »Nein. Aus Alt mach Neu. Unsere aufbereiteten Akkus sind so gut wie neuwertig und kosten nur die Hälfte.«

      »Reparierte Akkus? Lohnt sich das denn? Ich meine, kauft die jemand?«

      »Doch schon. Die Umsätze steigen jedes Jahr zweistellig.«

      Ich erkenne, wie er das Dollarzeichen mit einem kräftigen Kreuz durchstreicht. Unverschämtheit. Er starrt auf das Blatt. Sein Mund bewegt sich, ohne dass ich etwas hören kann. Dann sieht er mich an.

      »Haben Sie einen Verdacht, wo sich Ihre Frau aufhalten könnte?«

      »Nein, sagte ich doch schon. Sie kam abends nicht nach Hause und ihr Wagen stand nicht da. Im Backofen war kein Abendessen und wir mussten uns Pizza liefern lassen.«

      Der Mund des Kommissars bleibt leicht geöffnet. Der Bleistift deutet in die linke, dann in die rechte Ecke.

      »War das normal? Ist sie schon früher über Nacht weggeblieben?«

      So heftig habe ich noch nie den Kopf geschüttelt und muss vorsichtig im Nacken nachfühlen. Bei so drastischen Halsbewegungen kann leicht etwas ausrenken.

      »Was denken Sie nur? Wenn, dann fahren wir zusammen irgendwo hin. Ins Restaurant, ins Theater oder zu einer Vernissage.«

      Es wäre besser gewesen, Miriam auf dem Flur sitzen zu lassen. Sie hat die besondere Gabe, sich dann einzumischen, wenn es gerade ungünstig ist.

      »Da fährst du nie mit ihr hin. Restaurant? Dass ich nicht lache. Mit dir geht es maximal zum Mac, aber auch nur, wenn ich lange genug meckere und der Kühlschrank wieder leer ist. Ihr fahrt nirgendwo hin und du weißt ja noch nicht mal, was eine Vernissage ist.«

      Rotzgöre. Dafür gibt es nur eine Strafe.

      »Miriam, halt die Klappe, sonst kriegst du das Nokia.«

      Ha, damit hab ich sie. Hausarrest, Taschengeldentzug, alles Babykacke gegen die Androhung, ihr iPhone 8 in ein Nokia 3310 zu verwandeln. Damals, das war vor fast zwanzig Jahren, da konnte ich mit dem Ding bewundernde Blicke auf mich ziehen. Es funktioniert immer noch, aber wenn ich es ihr nur zeige, folgt ein Schreikrampf mit roten Flecken am Hals.

      Wieso malt er schon wieder ein Fragezeichen auf sein Blatt? Miriams Antwort scheint keinen Eindruck hinterlassen zu haben und er sieht mich freundlich an.

      »Ich möchte die Frage präzisieren. Wo arbeitet Ihre Frau?«

      Na klar, den Gatti sollte er dringend überprüfen. Die Italiener sind ja bekannt für Entführungen mit Lösegelderpressung. Und schleimig genug sieht er aus. Na ja, zumindest stimmt das Geld, dann darf er sich meinetwegen die Haare kiloweise mit Pomade einschmieren.

      »Betti ist bei der Firma Gatti GmbH als Assistentin der Geschäftsführung angestellt. Das ist eine sehr verantwortungsvolle Position.«

      Wieso notiert er das nicht? Immerhin nickt er.

      »Und sie hat immer pünktlich Feierabend und kommt dann direkt nach Hause?«

      Er weiß tatsächlich nicht, wie aufreibend so eine Tätigkeit als Assistentin sein kann.

      »Das mag bei Ihnen bei der Polizei so sein. Nein, sie trägt jede Menge Verantwortung. Bilanzen bis spät abends, Vorbereitung der Meetings, dann oft mehrere Tage auf einem Kongress. Aber das stimmen wir immer ab. Einvernehmlich natürlich.«

      »Und an dem Tag wussten Sie nichts von einem Termin, der ihr Fortbleiben erklären könnte?«

      Er hat null Checkung. Der Kommissar hat keine Ahnung, wie das harte Leben in der freien Wirtschaft abläuft. Also werde ich ihm das ganz behutsam verklickern. Ich will ihn ja nicht beleidigen.

      »Ihr mit euren regelmäßigen Feierabenden habt doch keinen Schimmer, wie hart ein richtiger Beruf sein kann. Natürlich kommt es vor, dass sie länger arbeiten muss, oder später noch mal los, um was zu erledigen. So, nun verrate ich Ihnen mal was. Haben Sie schon mal die ganze Nacht durchgearbeitet und dann den nächsten Tag auch? Sehen Sie. Meine Bettina ist da anders gestrickt als ihr Sesselfurzer, die kann das. Und wenn ihr Auto nicht vor dem Haus steht, ist sie in der Firma. Hart schuften, falls der Begriff Ihnen was sagt.«

      Ha, jetzt hab ich den Kommissar aber drangekriegt und er ist verschämt zurückgezuckt. Das wäre für ihn der richtige Zeitpunkt, das Feld zu räumen, doch er sieht mich fragend an.

      »Tatsächlich, ihr Wagen steht immer noch auf dem Firmenparkplatz. Aber dort ist sie nicht. Ihre Aussagen widersprechen sich irgendwie. Anfangs hatten Sie zu Protokoll gegeben, Ihre Frau würde über Nacht niemals wegbleiben. Daraus ist vor zwei Minuten ›regelmäßig‹ geworden. Seltsam. Haben Sie denn nie Argwohn gehegt und sich gefragt, ob sie eine heimliche Beziehung hat? Einen Freund, einen Geliebten oder etwas in der Art?«

      »Nein, sagte ich doch, unsere Ehe beruht auf Vertrauen und Ehrlichkeit. Außerdem lieben wir uns über alles. Warum also sollte sie dann einen anderen wollen?«

      Jetzt erkenne ich, dass er einen fetten Punkt neben das Fragezeichen gesetzt hat. Die Antwort hat gesessen