Nirgendsmann. Markus Szaszka

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Название Nirgendsmann
Автор произведения Markus Szaszka
Жанр Языкознание
Серия Großstadtballaden
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754170984



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dass sie ihn wiederum wie eine Spinne aussehen ließen, wenn er sich bewegte, was nicht so häufig geschah, denn die Wieselspinne Olli war ein Slacker.

      Er rauchte gerne die Bong, trank gerne Alkohol und arbeitete so wenig, wie es ging, indem er sich sporadisch etwas dazuverdiente, entweder als Barkeeper in der Rockkneipe um die Ecke oder bei einem seiner Singer-Songwriter-Gigs in den vielen kleinen Cafés, Kneipen und Restaurants der Stadt, in denen es Kleingeld im Gitarrenkoffer und flüssige Bezahlung gab.

      Hatte er die Kohle für sein tägliches Gras, Bier und Fast Food beisammen, konnte er sich ungestört seiner eigentlichen Leidenschaft zuwenden, nämlich dem Hören von Grunge-, Punk-, Rock- und Metal-Alben aus den Achtzigern und Neunzigern, was ihn glücklicher als sonst etwas auf der Welt machte.

      Das Wohnen war in Ollis Leben inklusive, wie er zu sagen pflegte. Damit meinte er die abbezahlte Eigentumswohnung, in der er die meiste Zeit rumlungerte, seit sie im Alter von sechzehn Jahren auf ihn überschrieben worden war, nachdem seine Mutter das Zeitliche gesegnet hatte.

      Mit den Worten War 'ne scheiß Kindheit jewesn, umschrieb Olli seit jeher die Zustände um seinen stets abwesenden Vater und seine krebskranke Mutter. Mehr wollte er dazu nicht sagen. Er konnte es auch nicht, denn was auch immer Nachbar Olli in den letzten beiden Jahrzehnten hätte aufarbeiten können, war zusammen mit dem nach teerigen Ablagerungen riechenden Schmand am Glasboden seiner Bong klebengeblieben.

      »Wohin so zackig?«, fragte mich die Wieselspinne und wischte sich eine hinunterkullernde Träne weg. Ich trat zu ihr ans Fenster, obwohl mich mein Bedürfnis nach einem kühlen Bier zu malträtieren begann. Für ein kurzes Schwätzchen am Fensterbrett war immer Zeit und ich mochte meinen Nachbarn, meinen Bekannten, denn um Olli einen Freund nennen zu können, dafür waren unsere gar nicht mal so seltenen Begegnungen zu ungeplant.

      »Nur s-s-spazieren, nichts Besonderes. W-wie geht's denn so?« Verflixtes stottern. Das hatte ich, wenn es frühabends und meine selten benutzte Zunge noch nicht warm war.

      »Same ol' same ol'«, erwiderte Olli tiefenentspannt, offensichtlich gut sediert, in einem unangenehmen, weil berlinerisch angehauchtem Englisch (ssemol ssemol), und streckte mir seine Flasche entgegen, die ich dankbar nickend ablehnte. Der erste Schluck, der mir die Trockenheit aus dem Mund vertreiben sollte, durfte kein Fusel sein, kein billiger Rotwein, an dem mein Nachbar schon den ganzen Abend genuckelt hatte und der mit Sicherheit schon aus einem inakzeptabel hohen Prozentsatz Olli-Speichel bestand.

      »Suit yourself«, sagte er, erneut mit grässlicher Aussprache (ssut jorsjelf), die mich innerlich zusammenzucken ließ. »Hab mir schon eenen anjedudelt und wär' startklar«, stellte der Mann im Fenster fest, der fälschlicherweise eine Einladung vernommen hatte. Sein hoffnungsvoller Blick, an den ungewaschenen Strähnen vorbei, und sein halb aufgerichteter Oberkörper unterstrichen das.

      »A-alleine«, brach es aus mir heraus. Olli sah mich verwundert an. Ein wenig zu spät schob ich einen weiteren Satzteil hinterher, den ich mir fix ausdenken musste, um den ersten, etwas unhöflichen Impuls zu verdecken. »… muss ich sein, um nachzudenken.«

      Enttäuscht lehnte sich die Wieselspinne wieder gegen das geöffnete Fenster und begann schweigend, über meinen Kopf hinweg, nach irgendetwas Ausschau zu halten. Olli konnte sehr schnell beleidigt sein, schlimmer als ein kleines Kind, und dann schmollte er, was seine Visage noch mehr entstellte, weil sich dann seine feuchten Rotweinlippen nach vorne stülpten wie glitschige Regenwürmer.

      Aufgrund meiner nicht selbst verschuldeten und doch unbezweifelbar vorhandenen Unhöflichkeit fühlte ich mich dazu verpflichtet, noch etwas hinterherzuschieben, obwohl ich nichts anderes wollte, als alleine zu sein und ein kühles Bier zu trinken. »Wenn du magst, v-v-vielleicht bin ich später im Labyrinth, so in einer Stunde. Also vielleicht sehen wir uns dann dort?«

      »Ja, klar, mach mal.« Gleichgültigkeit mimend winkte Olli mit einer Hand ab und sah noch demonstrativer weg von mir, nach oben, an der Hauswand vorbei, wo sich einige wenige rosa Wolken vor hellblauem Hintergrund auflösten.

      Eine kurze Weile blieb ich noch stehen, betrachtete meinen Nachbarn ungläubig und fragte mich, wie alt er wohl wirklich war. Dann war es an der Zeit zu gehen, also tat ich das, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, in Richtung nächstgelegener belebter Kreuzung: dem Rosa-Luxemburg-Platz.

      Als Stadtgespenst führte ich ein zurückgezogenes Leben. Soziale Kontakte war ich nicht gewohnt und große Menschenansammlungen machten mir Angst. Auf den Straßen fühlte ich mich trotzdem gut, obwohl es dort von Passanten nur so wimmelte. Es bereitete mir das größte Unbehagen, gesehen zu werden, doch genau das musste ich hier nicht befürchten, denn die Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts sahen meistens entweder auf ihre Smartphones oder durch einen hindurch.

      Auf den rund hundert Metern zwischen meinem Haus und dem Rosa-Luxemburg-Platz passierten ein junges Mädchen, um die sechzehn Jahre, zwei Kumpel, Mitte zwanzig, und eine weitere junge Frau, Anfang dreißig, meinen Weg. Keiner von ihnen hatte mir direkt in die Augen gesehen. Das junge Mädchen war als Einzige nahe dran gewesen, für einen kurzen Augenblick, als sie ihren Kopf gehoben hatte, um meine Umrisse zu erkennen, ihren Kurs minimal zu korrigieren und folglich nicht in das menschliche Hindernis vor ihr zu laufen. Das hatte ihr genügt, dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem handlichen Endgerät, dem Tor zu einer anderen Welt, mit der es die echte schwer hatte, mitzuhalten.

      Dass sich die Menschen gegenseitig nicht mehr ansahen, störte mich nicht im Geringsten. Ganz im Gegenteil; so hatte ich meinerseits die Gelegenheit, sie in Ruhe zu beobachten, ohne meinen Blick nervös senken zu müssen, wenn mein Gegenüber einen standhafteren draufhatte oder, wenn es eine Frau war, ein hübsches, mich einschüchterndes Gesicht.

      Am Rosa-Luxemburg-Platz angekommen lehnte ich mich gegen eine Hausmauer mit Premium-Blick auf die gesamte Kreuzung. Ich beschloss, mir etwas Kultur reinzuziehen. Wäre doch zu schade gewesen, hätte ich mir das weltbeste Theaterstück entgehen lassen. Der imaginäre Vorhang ging auf.

      Ich sah eine Straßenbahnhaltestelle, einen U-Bahn-Abgang, einige Cafés, Imbisse, Einkaufsgeschäfte, Restaurants und natürlich all die hin und her wuselnden Akteure, die den Straßen Leben einhauchten und authentischer spielten, als man es von Schauspielern in den renommiertesten Theatersälen gewohnt war.

      Offensichtlich ging es in dem Stück um eine kunterbunte Stadt, die einlud, sich zu amüsieren. Aber das war nur der Rahmen. Worum ging es wirklich? Es gab doch immer eine zweite Ebene, zumindest in guten Aufführungen, und das versprach eine fantastische zu werden. Ich musste genauer hinsehen.

      Da gab es vorwiegend gut gelaunte Jugend, Jungs und Mädchen jeglicher Hautfarben, denen es dem Anschein nach an nichts fehlte. Sie waren gut angezogen, hatten alle ihre obligatorischen Smartphones in ihren Händen und gingen, im Nebenbei, freundlich miteinander um. Manche waren allein, kamen aus Geschäften und hatten Besorgungen gemacht. Andere verbrachten ihren frühen Abend mit ihren Freunden, saßen vor einem Restaurant oder auf den Treppen eines Hauseinganges. In diesem Jahr würde es nicht mehr lange warm bleiben, das spürte man und das war auch der Grund, weshalb so viele ihre Zeit draußen verbrachten.

      Mich überkam ein Gefühl, dass es uns 2018 in dieser Ecke der Welt richtig gut ging, aber nahezu zeitgleich erinnerte mich ein junger Mann in etwa meines Alters, der unweit meines Logenplatzes an einem Tisch vor einer Pizzeria saß, dass ich mich auch irren konnte. Seine Freundin war gekommen, um ihn abzuholen. Sie war hübsch. Ich hörte, dass sie sich auf den Weg in eine Bar machten, um ein oder zwei Drinks zu nehmen. Die Hälfte seiner Schinkenpizza ließ er liegen und das Letzte, was ich ihn zu seiner Begleiterin sagen hörte, war: »Heute ist ein richtiger Scheißtag!«

      Wieso er das dachte, entzog sich meiner Kenntnis. Das musste sich der Zuschauer dieses Stückes wohl dazu reimen.

      Apropos Drinks … was wurde da vor meinen Augen weggetrunken! Für jeden Geschmack und jeden Geldbeutel war etwas dabei, weshalb beinahe jeder ein Getränk in der Hand hielt. Soweit ich das beurteilen konnte, stellte der Alkohol den Kitt dieser Berliner Abendgesellschaft dar, und ohne ihn wäre sie mit Sicherheit in viele traurige Einzelteile zerfallen.

      So