Nirgendsmann. Markus Szaszka

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Название Nirgendsmann
Автор произведения Markus Szaszka
Жанр Языкознание
Серия Großstadtballaden
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754170984



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war's.

      Für diesen Tag war ich fertig, konnte aufatmen und musste keine weitere Sekunde mehr mit dieser Tätigkeit verbringen, die mir über die Jahre so verhasst geworden war. Früher, als ich mit ihr begonnen hatte, war es noch interessant für mich gewesen, alle paar Tage in ein neues Thema einzutauchen, zu lernen, anderen einen Dienst zu erweisen und Geld mit der Hilfestellung für angehende Wissenschaftler zu verdienen.

      Mittlerweile dachte ich anders über meinen Job, den ich ausübte, weil ich schließlich irgendwo schlafen und etwas essen musste. Was genau mich daran störte, vergaß ich aber jedes Mal, wenn ich auf Senden klickte und die vorgefertigte E-Mail mit der Arbeit im Anhang in Richtung Kunde davonflog.

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      Drauf geschissen, dachte ich, und klappte den Laptop unsanft zu.

      2011, ich war jung, unreif, abenteuerlustig und noch nicht so abgezockt und schlitzohrig wie später, hatte ich begonnen, mit akademischen Arbeiten mein Geld zu verdienen. Damals waren hoffnungsvolle Tagediebe aus der ganzen Welt in das vermeintliche Mekka Berlin gezogen, um Erfahrungen zu sammeln, sich zu finden oder durchzustarten. Aus späterer Sicht war es eine relativ ruhige Zeit. Das Wort Hipster wurde noch nicht derart einfallslos durch alle Münder gezerrt, ebenso wenig wie der Flüchtling. Die AfD gab es noch nicht und der Bürgermeister der Bundeshauptstadt war schwul; und all das war gut so. Obgleich sich schon zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des dritten Jahrtausends sowohl der gemeine Hipster als auch das antiquierte Denken der 1930er Jahre in gleichem Maße unangenehm abzeichnete.

      Wie viele andere auch kam ich nach Berlin, weil ich mehr vom Leben wollte – was auch immer das bedeuten mochte. Davon überzeugt, dass ich dieses Mehr zu Hause, in meinem kleinen Kaff an der Ostsee, nicht haben konnte, floh ich. In Wahrheit flüchtete ich aber aus einem anderen Grund, und zwar vor den zwischenmenschlichen Beziehungen, die während des Erwachsenwerdens in die Brüche gegangen waren und darauf warteten, wieder zusammengeflickt zu werden. Ein niederer Grund sich zu verpissen, aber ich musste einfach raus, weg von den 3.600 Seelen meiner Ortschaft, in der es unmöglich war, den anderen aus dem Weg zu gehen. Es war wie bei den zufallsverdammten Simpsons; immer die gleichen Figuren auf der Straße.

      Dass ich nicht genau wusste, weshalb ich überhaupt ging, schob ich später meinem damaligen Alter in die Schuhe. Es war ein Alter, das verzweifelt darum rang, Identität zu finden, was bedeutete, dass alles Sonstige um einen herum vergessen wurde.

      Wieso Berlin? Ganz einfach; bei uns im Fischerdorf gingen die wildesten und somit für Mittzwanzigjährige reizvolle Geschichten über die Hauptstädter herum, und wie ich herausfinden sollte, waren sie alle wahr. Es war von Clubs die Rede, in denen man problemlos alle möglichen Drogen kaufen könne und die mehrere Tage hintereinander geöffnet hätten, von besetzten Häusern, in denen man kostenlos übernachten könne, wenn man keinen Schlafplatz fand, und darüber, dass man jeden Tag in der Woche feiern könne, die ganze Nacht lang, an unzähligen Plätzen, und dass man Fremde auf der Straße ansprechen und sich an Ort und Stelle mit ihnen verbrüdern könne.

      Bedachte man, dass ich ein erlebnishungriger Jungspund war, in dessen Dorf sich nachts bestenfalls Nachbars Lumpi bemerkbar machte, war es kein Wunder, dass mich die Hauptstadt zunehmend lauter lockte.

      Ich stieg mit meiner schwarzen Sporttasche in der einen Hand und einem Stadtplan in der anderen aus dem Zug. Mehr als ein paar Klamotten und ein paar Andenken, ohne die ich anscheinend nicht konnte, hatte ich nicht dabei. Das waren Fotos, ein kitschiger Aschenbecher aus Lissabon, den ich von meiner ersten Freundin geschenkt bekommen hatte, wenige Lieblings-CDs und ähnliches Zeug. Finanziell sah es nicht gerade rosig aus, und da ich keinen Abschluss vorweisen konnte, musste ich mich ranhalten, sonst wäre ich gefickt gewesen, wie man in der Weltstadt mit Herz und Schnauze zu sagen pflegte.

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      Es war Anfang Oktober, abends, ein bisschen kühl und es fiel Nieselregen. Schuldgefühle machten auf sich aufmerksam und krabbelten mir auf den Schultern herum, weil ich keiner Menschenseele gesagt hatte, dass ich ging und wohin. Aber dafür hatte ich keine Zeit, also ließ ich die entfesselte Ekstase in mir den unerwünschten Schuldgefühl-Wurm schlucken, was mühelos gelang; nur ein Happs und weg war er – fürs Erste zumindest.

      Vom Bahngleis, von dem aus das in die Höhe ragende Wahrzeichen Berlins, der Ost-Funkturm, wunderbar zu bestaunen war, ging es hinunter in die Eingangshalle, in der die zahlreichen Geschäfte nicht über mangelnde Kundschaft klagen konnten. Als ich einen Zeitungsstand passierte, erregte die Titelseite einer Tageszeitung mein Aufsehen. Steve Jobs war am gestrigen Tag verstorben. Der Tod dieses Mannes berührte mich nicht sonderlich, trotzdem blieb ich einen Moment lang stehen, um mir durchzulesen, was genau mit ihm passiert war. Ich vermutete, dass ich nur deshalb stehenblieb, weil der Name berühmt und die Schlagzeile derart fett abgedruckt worden war. Ich verschwendete also meine Zeit, aber davon hatte ich zum Glück genug.

      Obwohl ich zur U-Bahn musste, die sich noch eine Etage weiter unten befand, ging ich auf den Alexanderplatz, der mich trotz seiner nicht vorhandenen Schönheit anzog. Man hörte so oft von ihm in den Nachrichten sowie in Geschichten von Freunden und Bekannten, und in der Schule hatten wir sogar ein Buch mit gleichnamigem Titel lesen müssen, also musste etwas an ihm dran sein, dachte ich. Es war aber nicht so. Ich sah graue Gebäude auf grauem Beton, es stank nach Urin, und es schien, als ob es in Berlin Fashion gewesen wäre, wie ein Penner herumzulaufen. Diese Vermutung sollte sich bestätigen.

      Ich ging zurück in Richtung U-Bahn und wurde unterwegs gute vier- oder fünfmal angerempelt. Eine Entschuldigung? Fehlanzeige. Und dennoch, obwohl mich diese ersten Eindrücke meiner neuen Stadt vielleicht hätten vergraulen sollen, gefiel sie mir auf Anhieb. Mir gefiel diese Rohheit, und wie so oft in meinem Leben hatte ich keine Ahnung, wieso, aber ich wusste: Hier war ich richtig.

      Ich nahm die U8 zum Moritzplatz, einer wenig einladenden Ecke von Kreuzberg, aber nah an den spannenden Straßen, in denen sich all die berüchtigten Kneipen befanden. Dort sollte ich Jörg treffen, meinen ersten Vermieter, den ich einige Tage zuvor im Internet, auf irgendeiner der vielen gleich aussehenden Seiten für Wohnungen, kennengelernt hatte.

      Es war ein günstiger Schlafplatz, ein Altbauzimmer, um genau zu sein, das ich wöchentlich bezahlen durfte, mit nichts darin außer einer an einem Kabel von der Decke hängenden Glühbirne, mehr als genug Staub und einer abgeranzten Matratze. Jörg, das war ein Ketamin-Junkie-Typ, der für einen Mittdreißiger zu verbraucht aussah, den rechtzeitigen Absprung in seinen Zwanzigern nicht geschafft hatte und noch immer in der Experimentierphase festhing. Mit seinem kahlgeschorenen Kopf, seiner olivgrünen Bomberjacke, seinen grauen enganliegenden Jeans und den schwarzen Springerstiefeln sah er aus wie ein Nazi, war aber keiner, sondern mochte nur das Outfit, soweit ich das beurteilen konnte. Aus irgendeinem Grund besaß er eine ziemlich hübsche Wohnung, und man konnte gut mit ihm zusammenleben, da er meist entweder feiern war oder zu Hause in seinem selbstgebastelten Koma lag. Wir ließen uns so gut es ging in Ruhe. Er wollte nur mein Geld, und ich war noch viel zu wenig kaputt, um gerne mit ihm abhängen zu wollen.

      Ohne viele Worte zu verlieren, knüpfte mir mein neuer Mitbewohner an diesem Abend 70 Euro für die erste Woche ab, gab mir zwei lose Schlüssel, einen für oben, einen für unten, zeigte mir, wo mein Zimmer, das Bad und die Küche waren und verschwand für eine Weile, um sich zu holen, was er später im halbe-Stunden-Takt sniefen würde.

      Währenddessen richtete ich mich provisorisch ein, stellte die mitgebrachten Andenken an einer Wand entlang auf, stapelte meine Klamotten auf der leeren schwarzen Sporttasche, stellte meinen Laptop aufs Fensterbrett, rollte die Matratze zusammen, um eine Sitzgelegenheit zu haben und stellte eine Verbindung mit dem Internet her.

      Vom Späti holte ich mir eine kleine Flasche Jack Daniels, huschte wieder ins Haus und konnte es kaum erwarten, wieder in mein verstaubtes Berlin-Zimmer zu kommen, sodass ich mit jedem Sprung drei oder vier