Nirgendsmann. Markus Szaszka

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Название Nirgendsmann
Автор произведения Markus Szaszka
Жанр Языкознание
Серия Großstadtballaden
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754170984



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mich wie ein Geist, der zusah, aber nicht gesehen wurde. Und hätte es mich nicht gegeben, wäre rein gar nichts auf der Erde anders gewesen, dessen war ich mir sicher.

      Von der Arbeit und den verwirrenden Gedanken aufgescheucht, machte ich mich in der Diele ein bisschen zu hektisch gehfertig, um schnellstmöglich auf die gut belebten Straßen zu gelangen, die auch an diesem warmen und leicht nieseligen Abend im Spätsommer unaufdringlich mit ihrer Lebhaftigkeit lockten.

      Während ich auf dem Hocker saß und mir die Schuhe zuband, beobachtete mich mein Spiegelbild missmutig. Ich weiß nicht, was mit ihm los war, aber es sah mich auf eine beängstigend musternde Art an. Ich fühlte, wie seine Blicke an mir hochwanderten. Es begutachtete meine braunen Lederschuhe, die noch gut in Schuss waren, auch wenn sie mich schon weit getragen hatten, und es dachte, dass es bald Zeit für neue war. Dann inspizierte es meinen Anzug: einen Zweiteiler, Hose und Sakko, beide in einem schwarzweißen Bildrauschmuster. Wem willst du hier etwas beweisen?, fragte es mich. Der schicke Anzug, das existenzialistisch anmutende schwarze T-Shirt mit dem V-Ausschnitt, die braune Leder-Umhängetasche und die auffällige Retrobrille mit dem dünnen Gestell und den großen Gläsern. Willst wohl allen zeigen, wie intellektuell du bist, hä?

      Mein Spiegelbild konnte sehr gehässig werden, aber da musste ich durch. Ich schaffte es nie, mich von ihm loszureißen, wenn es mir eine Standpauke hielt.

      Ein Mann, der auf der Straße nicht sonderlich auffällt, der weder eine extrovertierte Ader besitzt, wie sie heutzutage en vogue ist, noch finanzielle Argumente sein Eigen nennen kann, die einen Mann schon seit jeher interessant erscheinen ließen. Dafür siehst du ganz schön schick aus, viel schicker, als du es bist.

      Da musste ich ihm recht geben. Aber was sollte ich tun? Es war 2018 und alles, was es teuer gab, gab es auch billig. Natürlich wollte ich gut aussehen, also kaufte ich, was mir in meiner niedrigen Preiskategorie gefiel. Das tat jeder. Man wusste zwar genau, dass irgendwer anderer dafür zahlen musste, mit Arbeit, Schweiß, Blut und manchmal auch dem Leben, aber es kaufte trotzdem jeder die billigen Sachen.

      Es begann, mein Gesicht zu inspizieren.

      Nicht mehr jung, noch nicht alt. Kurze blonde Haare, eine andere Frisur geht bei diesen Geheimratsecken ohnehin nicht. Ein Wochenbart, weil du ohne wie ein Milchbubi aussiehst. Kleine Augen, große Zähne, eine Hakennase – was für eine Visage!

      Ich fing an zu lachen. Mein Spiegelbild mochte es, mich zu foppen, was lustig war, wenn es derart übertrieb.

      »Halt's Maul!«, sagte ich, zeigte meinem Kontrahenten den Mittelfinger und ging hinaus.

      Während ich das Treppenhaus hinunterlief, war ich ungeduldig, wollte endlich draußen sein, schmutzige Straßenluft atmen und mich erfrischt fühlen. Das Haus war ein in der Nachkriegszeit erbautes, städtisches Mietshaus. Dieser Zeit entsprechend war auch der Flur farblos und nur darauf ausgerichtet, seine Funktion ordnungsgemäß zu erfüllen. Ein Jammer, bedachte man, was davor für ein Prachtbau an dieser Stelle gestanden hatte. In der Torstraße war '45 ja gar nicht einmal so viel kaputtgegangen, mit wenigen Ausnahmen, so wie hier, wo kein Stein mehr auf dem anderen gelegen hatte; zwar nicht durch die Nazis, aber wegen ihnen. Wie es hier vor Hitler ausgesehen hatte, zeigte eine im Erdgeschoss an die Wand genagelte schwarzweiß Fotographie. Auf ihr war ein geräumiger Eingangsbereich mit hoher Decke, Stuck, handbemalten Berlin-Motiven an den Wänden und einer in der Eingangstür eingefassten Glasmalerei, die einen brüllenden Braunbären abbildete, zu sehen. Und jetzt? Beton, Spanplatten, Gräue.

      Dumme Nazis!, überkam mich eine richtige und gleichzeitig recht stumpfe Emotion, bevor sie von einer anderen Empfindung verdrängt wurde, nämlich einer unangenehmen Trockenheit in meiner Kehle und auf meinen Lippen.

      Ein Bier musste her, so wie an fast jedem Tag, früher oder später, meistens aber in etwa um diese Zeit, gegen sieben Uhr abends das erste.

      Ein wenig übermotiviert stieß ich die Eingangstüre mit beiden Händen und dem Außenrist meines Schuhs auf. In Gedanken versunken vergaß ich, dass ihr Schloss vor Kurzem aufgebrochen worden war und sie keinerlei dämpfenden Mechanismus besaß. Hinzu kam, dass diese Tür nach außen aufging und nicht nach innen, wie es eigentlich sein sollte; womöglich der Streich eines gelangweilten Bauarbeiters, vielleicht auch nur ein Versehen, aber in jedem Fall brandgefährlich für vorbeilaufende Passanten. Wie man sich erzählte, hatte es in den vergangenen Jahrzehnten mehrmals handfeste Rangeleien, Veilchen und allerlei Tränen gegeben, weil Hunde- oder Menschennasen zertrümmert worden waren, Fahrradfahrer beinahe ihre Leben verloren hätten oder Omas vor Schreck das Gebiss aus dem Mund gefallen war. Mit einem geräuschlosen und doch bedrohlichen Ruck öffnete sich die hohle Holztüre auch dieses Mal in die falsche Richtung, doch an diesem Abend war glücklicherweise keiner da, um Schaden zu kassieren.

      Es war soweit. Ich musste nur noch hinaustreten, durch die 0,9 x 2 Quadratmeter, die mir nicht weniger präsentierten als pure Freiheit, a.k.a. die Straßen der Stadt, a.k.a. ein verheißungsvolles Versprechen.

      Ich machte einen Schritt nach vorne und nahm einen Atemzug, der sich für mich anfühlte wie ein Schuss Heroin für den Herrn Junkie. Es war, als wäre mir mit einem Ruck ein Klumpen aus der Luftröhre gesaugt worden, der mich zuvor stundenlang am freien Atmen gehindert hatte.

      Jetzt ging es rasch. Vitalisierender Sauerstoff drang in meine Lunge, von dort aus in die Blutbahn, ritt auf den Blutkörperchen durch Venen, schien sie in alle Regenbogenfarben einzufärben und füllte meine Gliedmaßen bis in die Enden der Finger- und Zehennägel mit Energie.

      Zugegeben, dafür, dass ich derart high wurde, passierte noch nicht viel. Nur wenige Passanten dackelten über die abendliche Torstraße. Ein hippes Pärchen hier, ein Hip-Hop-Junge mit Kopfhörern da, eine stark verbrauchte, Zigarette rauchende Fünfzigjährige mit zur Hälfte rosa eingefärbten Haaren dort, doch alleine die Möglichkeit, dass irgendetwas passieren könnte, machte für mich den Unterschied zwischen drinnen und draußen, zwischen Wohnzimmercouch und der Straße aus.

      Aber da die Welt kurzlebig geworden war, ließ schon der zweite Schritt meinen Puls wieder sinken. Ein Blick nach rechts, einer nach links, ach ja, ein Bier.

      Ohne gleich zu verstehen, woher es kam, ob es sich um einen Menschen, ein Tier oder ein Fahrzeug handelte, vernahm ich ein Geräusch.

      Wououououou. Ich erschrak, weil es so nahe war.

      Die schwer zu definierenden Laute kamen von Olli, meinem Nachbarn aus dem Erdgeschoss, der auf seiner Fensterbank saß und seinerseits erschrocken dreinblickte, weil er aufgrund meines wuchtigen Auftrittes offensichtlich aus seinen Tagträumereien gerissen worden war.

      »Sorry, Mann«, sagte ich.

      »Kein Ding«, erwiderte er, mit dem Po auf dem Brett, dem Rücken gegen den Drehflügel gelehnt und die Füße am gegenüberliegenden Gemäuer abgestützt. Im Inneren seiner Wohnung brannte kein Licht, trotzdem erkannte ich Raudis Umrisse auf dem Sofa, Ollis Hund, ein junger Schäferhund-Mischling, der nur kurz den Kopf hob, um mich anzusehen und dann weiterzudösen. Sein Herrchen hielt eine Rotweinflasche in der einen Hand, in der anderen ein Stofftaschentuch, mit dem er sich alle paar Minuten Tränen von einer Wange wischte, denn Olli hatte ein chronisch erkranktes, tränendes Auge.

      Im Fenster zu sitzen und den Passanten beim Vorbeigehen zuzusehen, war eines seiner Hobbys. Es befriedigte seine sadistische Ader, wenn die Fußgänger ihn im letzten Moment entdeckten und einen Schreck bekamen, obwohl er nichts tat, nichts sagte, sich nicht rührte, sie lediglich beobachtete, von Dunkelheit umhüllt. Das unsichere Wegschauen der Menschen bereitete ihm große Genugtuung, denn dann fühlte sich Olli zur Abwechslung auch mal überlegen.

      Die dunkelblonden Haare wuchsen dem – seiner Aussage nach – enddreißigjährigen Urberliner, der älter aussah, nur dünn um das Gesicht herum. Ein hübsches Antlitz hatte er noch nie gehabt, nicht einmal als junger Knabe. Der Dreitagebart, die spitze Nase und die tiefen Falten auf der Stirn und um die Augen ließen ihn wie ein Wiesel aussehen.

      Das T-Shirt, das Olli anhatte und auf dem Slayer, Diabolus in Musica World Tour 1998 stand, war ihm