Nirgendsmann. Markus Szaszka

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Название Nirgendsmann
Автор произведения Markus Szaszka
Жанр Языкознание
Серия Großstadtballaden
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754170984



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mich war es wie ein Spiel, die Kunden digitale Avatare, meine Gegner, wenn man so wollte, und meine Arbeit notwendig, um das nächste Level zu erreichen. Denn je mehr Arbeiten man geschrieben hatte, desto mehr Aufträge konnte man annehmen. Hinzu kam, dass die Kunden einen bewerteten.

      Schon am ersten Tag erhielt ich den Zuschlag für drei Hausarbeiten mit jeweils 10 bis 15 Seiten. Eine Pädagogische, eine Wirtschaftliche und eine aus dem Fachbereich Geschichte. Ich hatte gute Preise gemacht, und die Kunden, die mit dieser neuen Internetseite genauso unvertraut waren wie ich, hatten meinem Profil vertraut. Kein Wunder, denn laut Profil, das man nach Belieben bearbeiten konnte, hatte ich bereits zwei Studiengänge abgeschlossen, Philosophie und Wirtschaft, sprach mehrere Sprachen fließend und war Mitte dreißig. So einem hätte ich auch vertraut.

      So weit, so gut. Mit diesen drei Arbeiten alleine konnte ich ein paar hundert Euro verdienen, genug für einen ganzen Monat Berlin-Spaß. Jetzt galt es nur noch, eine letzte Hürde zu meistern, nämlich herauszufinden, wie man akademische Arbeiten schrieb. Ich hatte keinen blassen Schimmer.

      *

      In den kommenden Tagen ließ mich das Gefühl nicht los, dass mein Start in mein neues Leben viel zu einfach gewesen war. Da musste es doch einen Haken geben. Kam ich wirklich so einfach davon? Konnte es sein, dass mir ISDA die Schmach ersparte, in mein kleines Dorf am Meer zurückzukehren, wo ich mich erst wenige Tage zuvor viel zu großspurig von meinen Freunden verabschiedet hatte?

      »Hinaus muss man«, hatte ich gesagt, »die Welt sehen, wachsen, sonst kann man es doch nie weit bringen.«

      Zunächst dachte ich noch, dass ich etwas Unrechtes machte, doch diese Sorgen wurden mir rasch genommen. ISDA versicherte mir, dass an meiner neuen Tätigkeit nichts verkehrt war. »Wir stellen nur Vorlagen bereit«, hieß es. »Was die Kunden mit den Arbeiten machen, ist nicht unsere Sache.«

      Ich war kein kompletter Trottel und wusste schon damals, dass die ganze Sache stank und die bei ISDA auch nur auf die 20 Prozent Provision scharf waren, die sie von jedem Ghostwriter für jeden vermittelten Auftrag bekamen.

      Aber es schien alles legal abzulaufen, nicht versteckt, höchstens unmoralisch. Wie es sein konnte, dass es kein Gesetz gegen das Schreiben akademischer Arbeiten für andere gab, war mir schleierhaft. Der Gesetzgeber sah weg, aber wieso? Dass hiermit das Bildungssystem der Hochschulen zu einer Farce degradiert wurde, war klar, ebenso, dass jährlich tausende Studenten ihren Bachelor, Master und Doktor machten, ohne wirklich etwas zu leisten. Diese gingen dann in Berufe, von denen sie keine Ahnung hatten.

      Doch damals, als ich mit dem Schreiben anfing, schob ich derartige Gedanken weg von mir, sobald sie auftauchten. Ich wollte Geld verdienen, wollte in Berlin bleiben, wollte nicht für einen Hungerlohn arbeiten, wollte auch mal was übrighaben, um auszugehen, wollte ein Mädchen auch mal auf ein Bier einladen können, wollte Teil der Gesellschaft sein und wollte tun, was mir Spaß machte. Diese Bedürfnisse ließen jegliche Bedenken endgültig verstummen, für eine Zeit lang zumindest. Sieben Jahre, um genau zu sein.

      Also lernte ich, wie man wissenschaftliche Arbeiten schrieb, las mich in die jeweilige Materie ein und gab das Gelesene mit eigenen Worten wieder. Die ersten Wochen verließ ich mein staubiges Paradies kaum, ging nur zum Späti oder zum Aldi runter, um mir Essen und Whiskey zu holen. Die Stadt musste warten, auch wenn ich sehr gespannt war, was sie für mich bereithielt. Aber zuerst musste ich das eine Spiel spielen, um beim anderen mitmachen zu dürfen. Ich recherchierte, aß, paukte, trank, schrieb, machte Nickerchen und wurde schnell gut in dem, was ich tat, mit dem schniefenden Jörg im Rücken und der belebten Oranienstraße vor mir.

      Wir Menschen sind hochgradig wandelbare Wesen, die zwischen Geburt und Tod mehrere Metamorphosen erleben. Erst sind wir Säuglinge, dann Kinder, Teenager, junge Erwachsene, gereifte Erwachsene und schlussendlich Greise, wenn alles glattgeht. Wie eine Raupe, die einem Schmetterling nicht im Geringsten ähnelt, so ist es auch mit den Entwicklungsstufen eines Menschen. Das Baby ist dem Kind fern, so wie das Kind dem Teenager, dieser dem jungen Erwachsenen und so weiter. Während das Baby und das Kind noch etwaige Ähnlichkeiten aufweisen können, ist die Transformation zwischen einem Baby und einem Greis derart fortgeschritten, dass der Vergleich mit der Raupe und dem Schmetterling leicht verständlich wird. Es ist fast so, als ob sich mehrere Menschen denselben Namen teilen würden, der wie der Stock im Staffellauf, den es über die Ziellinie zu tragen gilt, weitergegeben wird.

      Die Persönlichkeit eines Homo sapiens ist nichts Festes, nichts, woran man sich festhalten kann, jedoch gibt es einen anderen Anker, falls Halt etwas ist, wofür man sich interessiert, und zwar der Teil von uns, der sich nicht verändert, der vielleicht weniger ein Teil ist, sondern die gewisse Couleur eines Menschen, die Art und Weise, wie er sich verändert, wie er auf seine Umwelt reagiert und wie er seine Persönlichkeiten wechselt. Diese Couleur macht den Hans Meiser zum Hans Meiser, die Karolin Bauer zur Karolin Bauer und den Tom Schulz zum Tom Schulz.

      Für mich war die Couleur seit jeher das eigentlich Interessante am Menschsein, ein Funke unzerstörbarer Individualität, eine Art Entschuldigung des Universums für die Bürde des Wissens um den eigenen Tod.

      Ähnlich wie mit unseren Persönlichkeiten verhält es sich mit unseren Körpern. Auch sie erneuern sich im Laufe des Lebens, tauschen sich aus und sind zum Schluss nicht mehr dieselben wie am Anfang. Dem Mythos vom siebenjährigen Zyklus nach, erneuert sich während dieses Zeitraumes jede einzelne Zelle im Körper, physisch entsteht also ein vollkommen neuer Mensch, und ähnlich wie bei der Persönlichkeit bleibt nur der Name gleich. Auch wenn es sich um einen Mythos handelt, ganz falsch ist er nicht. Beinahe unser ganzer Körper erneuert sich, manche Körperteile schneller, manche langsamer. Die Leber, zum Beispiel, erneuert sich schon innerhalb von zwei Jahren, das Herz wiederum bleibt zu einem großen Teil das ganze Leben lang dasselbe, die Linsen in den Augen verändern sich als Einzige nie, sie bleiben uns Zelle für Zelle erhalten.

      Wir Menschen sind äußerst interessante Wunder, die weder physisch noch psychisch gesehen am Ende unserer Reise dieselben sind wie am Anfang. Nichtsdestotrotz, die meisten werden sich ihr Leben lang als der- oder dieselbe fühlen. Selbst ein Greis wird in den allermeisten Fällen von sich als einem Kind sprechen und Erinnerungen an das erste bewusst genossene Eis, den ersten Sommerurlaub am Strand, die erste kindliche Verliebtheit und den ersten gröberen physischen Schmerz beschreiben können.

      Bei mir war es ein Meloneneis an einem heißen Sommertag vom Italiener an der staubigen Hauptstraße, der sandige Weg durch einen Birkenwald, das baltische Meer war schon zu hören und wenige Schritte später in all seiner Pracht hinter einer Anhöhe zu sehen, Pia in der Dritten, ein schüchternes Mädchen aus der Parallelklasse mit schulterlangen schwarzen Haaren und gerade geschnittenen Stirnfransen, und aufgescheuerte Knie und Handflächen, nachdem ich in einem Park einige Stufen mit dem Fahrrad hinunterfahren wollte und es nicht geschafft hatte, die Balance zu halten.

      Dieser letzten Erinnerung haftete seit meiner Kindheit ein Beweis an, und zwar eine kleine Narbe auf der rechten Handfläche. Manchmal begutachtete ich diese Narbe ungläubig, so wie auch an jenem 2018er Septemberabend, nachdem ich meinen Laptop zugeklappt hatte und drauf und dran war, hinauszugehen, um frische Luft zu schnappen.

      Wie kann das nur sein?, fragte ich mich. Ich war 32 und es fiel mir schwer zu verstehen, dass ich einmal der Säugling, das Kind, der Teenager oder der Mittzwanzigjährige gewesen war. Was ich jetzt dachte, sprach und tat, war so grundlegend anders als früher. Doch da, vor meinen Augen, auf meiner Hand, hatte ich den Beweis.

      Mir begann es schwindlig zu werden.

      Zu viel Nachdenken tut dir nicht gut, das weißt du doch. Hör auf damit!

      Für diesen Tag war meine Arbeit getan und ich konnte endlich hinaus auf die Straßen, wo ich mich am wohlsten fühlte. Nicht, dass es mir in meiner Wohnung an irgendetwas gefehlt hätte, ganz im Gegenteil, ich mochte meine zwei Zimmer sehr, doch sie waren nicht die Straßen. Nur sie vermochten mich von den seelischen Wunden des vergehenden Lebens zu heilen, wenn ich ziellos herumwanderte, die Geschäfte links liegen ließ und die Menschen