Fontanka. Markus Szaszka

Читать онлайн.
Название Fontanka
Автор произведения Markus Szaszka
Жанр Языкознание
Серия Großstadtballaden
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754170960



Скачать книгу

ein und begann zu improvisieren, wie er es in seiner Laufbahn schon häufig getan hatte:

      »Wissen Sie, wir tun nur unsere Pflicht. Das Mädchen ist in den Fluss gefallen und wir haben sie wieder herausgefischt. Das war eine Kleinigkeit. Für solche Fälle werden wir trainiert.«

      »Hier Tatjana Schukowa vom fünften Kanal. Sie sind also einem Mädchen in die Fontanka hinterhergesprungen und haben Ihr Leben riskiert, um ein anderes zu retten? Stimmt das? Dann sind Sie ja ein Held!«, fragte eine zweite, blonde Reporterin, die sich mit ihrem Kameramann und aller Kraft ihrer Ellbogen an der ersten vorbeizwängte. Sämtliche Fotografen und Gaffer richteten ihre Linsen auf die Lehrer und die beiden Feuerwehrmänner versuchten sich unauffällig in den Bildhintergrund zu mogeln – mit Erfolg.

      »Ach, das war keine große Sache, wissen Sie? Das Wasser ist ruhig und ich bin ein exzellenter Schwimmer. Es ist nur ziemlich kalt und es stinkt wie Scheiße«, sagte Komarow und merkte, dass er dieses letzte Wort nicht hätte sagen sollen. Das bemerkte auch die Klassenlehrerin, die sofort darum bemüht war, diesen unpassenden Kommentar zu kaschieren: »Wir Lehrer von der Schule Nr. 348 im Nevsky-Bezirk sind stets darum bemüht, alles in unserer Macht Stehende zu tun, damit es unseren Kleinen gutgeht.«

      »Lassen sie uns doch ein Gruppenfoto machen!«, rief einer der Zeitungsfotografen und bekam ein synchrones »Pscht!« von den Reporterinnen zurück.

      Hinter der Gruppe aus Polizisten, Lehrern und Feuerwehrmännern stand die kleine Anuschka allein beim Brückengeländer und sah, Misha Masha fest an sich gedrückt, auf die sanft wogenden Wellen des Kanals. Hätte sie nicht zufällig in genau diesem Moment, als sich der Tumult kurz beruhigte, leise geniest, wäre sie von den Medienvertretern womöglich vergessen worden. Tatjana Schukowa aber hatte das Geräusch vernommen und bat die unglückliche Protagonistin dieses frühen Vormittages, nach vorne zu kommen.

      »Wie ist dein Name, kleines Mädchen?«

      Eine Antwort blieb aus.

      »Gut, ich nenne dich einfach Fontanka.« Die blonde, puppenähnliche Reporterin kniete sich neben Anna und sprach mehr in die Kamera als zu dem Kind. »Wieso bist du in den Fluss gesprungen? Weißt du nicht, dass das gefährlich ist?«

      Anna sagte weiterhin nichts, hob aber zögerlich ihre Misha Masha hoch und zeigte sie der Reporterin, die amüsiert tat.

      »Ein süßes Bärchen hast du, aber möchtest du nicht auf meine Frage antworten?«

      Anna verstand nicht, weil sie dachte, das schon getan zu haben, und schüttelte ihren Kopf.

      Noch kurz schnatterten die beiden Reporterinnen in ihre Kameras, räumten dann gemeinsam mit den meisten Schaulustigen das Feld und überließen die Reste den Printmedien. Es wurden Augenzeugeninterviews geführt und Gruppenfotos geschossen, mit den mutigen Lehrern in der Mitte, flankiert von den beiden Polizisten und Feuerwehrmännern. Vor ihnen wurde das in goldene Rettungsfolie eingewickelte Kind medienwirksam platziert.

      Noch am gleichen Tag war Anuschka in allen TV- und Radionachrichten zu sehen und zu hören und am nächsten Tag auch in allen Zeitungen zu bestaunen. Es war von einem tollpatschigen Mädchen die Rede, das liebevoll Fontanka genannt wurde, die Glück im Unglück gehabt und deren Lehrer eine Heldentat vollbracht hatte.

      Die Protagonistin dieses Abenteuers bekam nichts von all der Aufregung mit, weil sie mit einer leichten Verkühlung im Bett lag und damit beschäftigt war, Misha Masha zu pflegen. Ihr Schock würde bald vergehen, ihr neuer Spitzname aber bleiben.

      Die 1-c war pünktlich zur Mittagspause wieder in der Schule angekommen. Klassenlehrerin Koslowa und Sportlehrer Komarow führten die nach wie vor bibbernde Anna ins Direktorat, während die restlichen Kinder sich selbst überlassen wurden. Laut Vorschriften musste aufgearbeitet werden, was an diesem Vormittag geschehen war, und Koslowa hielt sich immer an die Regeln.

      Tatsächlich hatte es einen Vorfall dieser Art bislang noch an keiner Petersburger Schule gegeben, weshalb niemand so genau wusste, was zu tun war – nicht einmal Rektorin Baranowa. Sie aber befand, dass ein solches Verhalten nicht übersehen werden durfte und erst mal die Mutter des unartigen Kindes kontaktiert werden musste.

      »Wo haben wir nur die Telefonnummern der 1-c? Verfluchte Ordner«, murmelte sie in ihren penibel steif gebügelten Hemdkragen und ging nahtlos ins Schreien über: »Olga, kommen Sie doch bitte!« Nach diesem Ausbruch sank Baranowa tief in ihren Holzstuhl und atmete schwer, als ob sie eine große Anstrengung hinter sich hätte.

      Aus dem Nachbarzimmer kam eine der beiden hörigen, bebrillten Sekretärinnen des Rektorats angedackelt, die sich derart ähnlich sahen, dass sie problemlos als Zwillinge durchgingen. »Ja?«

      »Olga, suchen Sie mir bitte die Nummer der Mutter von Anna Smirnowa heraus, 1-c. In diesem Chaos kann man doch wirklich nichts finden. Immerhin haben Sie sich dieses System ausgedacht, dann können Sie auch«, weiter kam das Oberhaupt der Lehranstalt nicht, denn schon hielt Olga den passenden Schnellhefter in ihrer Hand.

      »Bitte schön.«

      Ungläubig prüfte Baranowa den Inhalt. »Gut, fürs Erste wäre das alles.« Sie wählte Feodoras Nummer, richtete ihren Blazer, schnaubte, einem Stier ähnlich, der sich auf einen Angriff vorbereitete, und wartete.

      »Feodora Smirnowa.«

      »Guten Tag! Hier spricht Warwara Baranowa…« Von Anfang an nahm sie einen strengen Tonfall an, um zu signalisieren, dass Feodoras Kind unartig gewesen war. Sie wollte nichts Genaues sagen, nur so viel, dass es einen Unfall gegeben habe, alle gesund und unverletzt waren, aber die Mutter bitte sofort in die Schule kommen solle, um die Angelegenheit zu besprechen und ihr Kind abzuholen, da es aufgrund des Vorfalls verschreckt und vom Nachmittagsunterricht freigestellt sei.

      Ebenfalls überlegte Frau Baranowa, ob sie erwähnen sollte, dass Annas Verhalten ein Nachspiel haben müsse, da sie der Stadt Kosten verursacht habe, aber sie ließ es bleiben. Dieses Argument wollte sie sich aufheben, falls Feodora aufmüpfig werden würde.

      Bisher war die Rektorin meistens gut damit gefahren, die Schuld für innerschulische Unfälle oder mutmaßliches Fehlverhalten möglichst den Schülern unterzujubeln. Ihr war zwar vollkommen bewusst, dass die Lehrer und letztlich sie für die Kinder verantwortlich waren, aber die meisten Eltern ließen sich einreden, dass ihre Kinder etwas ausgefressen hatten, was dem Direktorat eine Menge Papierkram und Ärger ersparte. Und damit diese Taktik aufging, musste sie möglichst selbstbewusst und aggressiv auftreten.

      An diesem Tag aber würde sich diese Regel nicht bestätigen. Rektorin Baranowa hatte ihre Rechnung ohne Dora gemacht, mit der sie deutlich zuvorkommender gesprochen hätte, wäre ihr bewusst gewesen, mit wem sie es zu tun hatte.

      Vermutlich hätte sie sogar die süßesten und beschwichtigendsten Worte gefunden, hätte sie geahnt, wer sich aufgrund ihres Anrufes vielmals bei der Büroleitung der Kanzlei Medwedew & Partner entschuldigen musste, um mitten am Arbeitstag und außerplanmäßig zur Schule fahren zu dürfen. Es war ein unbarmherziger Tornado, der sich auf den Weg zu ihr machte und der weder Verständnis noch Geduld für die Ausreden einer Direktorin hatte.

      Aber da Frau Baranowa nicht wissen konnte, welches Unheil auf sie zukam, genauso wenig wie Komarow und Koslowa es wissen konnten, befanden sie es für sinnvoll und schlüssig, erst mal mit Anna zum Schularzt zu gehen. Das taten sie aber nicht, um das Mädchen auf Verletzungen untersuchen zu lassen, sondern mit der Hoffnung, dass Dr. Schtscherbakow eine psychische Ungereimtheit beim Kind diagnostizieren konnte, zumindest aber eine abnormale Verträumtheit.

      Das Sprechzimmer des Allgemeinmediziners, der nicht nur für die Schüler der Schule Nr. 348 zuständig war, sondern zu bestimmten Uhrzeiten auch für Privatpatienten, befand sich im Erdgeschoss. Meistens aber, so wie jetzt, als der straßenseitige Eingang zur Praxis verschlossen und nur der innerschulische geöffnet war, drehte Schtscherbakow gelangweilt Däumchen, blätterte in Klatschblättern, die für Patienten bestimmt waren, und wartete auf verunglückte Kinder. Ein Plausch mit der Rektorin, einer Klassenlehrerin und dem Sportlehrer Komarow, mit dem