Fontanka. Markus Szaszka

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Название Fontanka
Автор произведения Markus Szaszka
Жанр Языкознание
Серия Großstadtballaden
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754170960



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musst vorsichtig mit mir sein, ich bin doch eine Lady. Masha stand auf, machte einen Knicks und tat, obwohl sie kein Kleid anhatte, als ob sie eines hochheben würde. Siehst du?

      Der kleinen Anna entwischte ein knappes Freudenquieken. Vor lauter Begeisterung über ihre neue Freundin fing sie an, kindlich auf dem Fleck zu Hüpfen, besann sich aber sofort wieder, als ihr einfiel, dass sie leise sein musste.

      Vorsichtig zog sie ihr Plüschtier an sich und drückte es diesmal behutsam.

      So ist es richtig, flüsterte das Eisbärenmädchen Anna ins Ohr, küsste sie auf die Nasenspitze, hüpfte ihr auf die Schulter, kletterte auf ihren Kopf und dann rüber auf ihre andere Schulter, wo es sich setzte und wieder die Beinchen übereinanderschlug. Mir ist es hier zu dunkel, Mama. Wollen wir durch das Schlüsselloch auf die Straße schauen? Vielleicht sehen wir ja etwas Spannendes?

      »Au ja. Das ist eine tolle Idee!« Anna wollte sich vorsichtig an der Wand entlang zur Haustür tasten, als Schritte in der Wohnung Nummer drei lauter wurden, die Tür aufging und Licht das Vorzimmer durchflutete. Sie öffnete ihre Augen und sah ihre Mutter, wie sie die Tür schnell hinter sich zumachte und ihr zuzwinkerte. Kurz wunderte sich Anna, wann Misha Masha sich in ihre Hände gezwängt hatte, die sie jetzt wieder fest gegen ihre Brust gepresst hielt. Das fünfjährige Mädchen besann sich und lockerte ihren Griff, um Masha nicht wehzutun.

      »Oh, meine arme Anuschka, wie erschrocken du bist. Nicht weinen, Mama ist wieder da.« Feodora küsste ihr Kind auf die Stirn und auf den Mund, machte die Haustür auf, stellte erst ihre beiden Koffer auf den Gehsteig, nahm dann Anna an die Hand und führte sie nach draußen. »Jetzt können wir einkaufen gehen. Was meinst du?«

      »Mhm.«

      »Jetzt schmoll doch nicht so.« Dora musste ihr Lächeln nicht mehr spielen. Sie hatte den Schlüssel zu ihrer neuen Wohnung in der Tasche und der Vermieter war nicht so unfreundlich gewesen, wie sie befürchtet hatte. Es würde zwar noch anstrengend werden, mit den Koffern und Anna einkaufen zu gehen und dann mit den Einkäufen nach Hause zu fahren, aber das Wichtigste hatte sie erledigt.

      Bald würde alles ruhiger werden und ein neues Leben für sie beide beginnen. Feodora wischte Anna ein paar Tränen aus dem Gesicht und vermutete, dass es Tränen der Anspannung waren, da der Blick ihrer Tochter leer war und sie weder traurig noch wütend aussah.

      »Wie müde du bist, Anuschka.«

      Ich habe noch immer Hunger, quengelte Misha Masha, halb ernst, halb spielerisch.

      »Hast du gehört, Mama?«, fragte Anna ruhig und sah ihrem Bärchen in die Augen. »Misha hat noch immer Hunger.«

      »Was mag die Kleine denn?«

      Bananen.

      »Bananen, sagt sie.«

      »Dann holen wir ihr gleich ein ganzes Kilo. Okay?«

      Anna nickte.

      »Lass uns die Kleine in deiner Jackentasche verstauen, so, damit ihr nicht kalt wird, und du ziehst wieder deine Mütze und deine Handschuhe an.«

      Feodora steckte das Stofftier in Annas äußere Brusttasche, sodass es mit dem Köpfchen herausguckte.

      »Also, folgt mir wie vorher, dicht neben mir, und nicht mehr trödeln!«

      »Ja.«

      Jaja, bemerkte Masha und rollte frech mit den Augen, weshalb Anna kicherte.

      Feodora ging voraus und ihre Tochter folgte ihr. Die imperiale Architektur, die sie umgab und an glorreiche Zeiten erinnerte, wurde vom fallenden Schnee und der festlichen Straßenbeleuchtung malerisch in Szene gesetzt.

      Mama Dora bemühte sich, ihre Tochter bei Laune zu halten. Sie wollte vermeiden, nebst den Koffern und Einkäufen noch ihr müdes Kind nach Hause tragen zu müssen.

      Wäre jemand vor dem Haus Nr. 32 in der Sadovaya gestanden und hätte dieser jemand den beiden hinterhergeschaut, wie es der polnische Vermieter Kowalski problemlos hätte tun können, dann hätte er Frau und Kind bereits nach wenigen Metern in der Menschenmenge aus den Augen verloren. Derart kurz vor Neujahr waren die Straßen St. Petersburgs besonders voll. Und wäre dieser jemand ein aufmerksamer Beobachter gewesen, wäre ihm nicht entgangen, dass die Gesichter der Passanten in den vergangenen Jahren zunehmend grimmig geworden waren, vermutlich, weil die Feiertagsbesorgungen nicht weniger geworden waren, das Geld in den Taschen aber schon.

      Anna und Misha Masha sahen beim Fenster hinaus. Es war ein verregneter Nachmittag im April, an dem keine Menschenseele nach draußen ging, wenn sie nicht musste. An solchen Tagen war Abenteuerlust rar gesät. Pyjama, Pantoffeln und Couch wiederum lockten verführerisch. Ein Tee oder ein heißer Kakao mit Marshmallows, ein halbwegs gutes Fernsehprogramm, zum Beispiel Mary Poppins, Annas Lieblingsfilm, und ein Kuschelpartner verliehen solchen Nachmittagen einen lebensbejahenden Zauber, aber hierzu sollte es an diesem Tag nicht kommen.

      Aus der Küche schwappte ein Geruch von frischgekochtem Borschtsch zu Anna ins Wohnzimmer, das gleichzeitig Schlafzimmer war. Was dieser süßliche Geruch bedeutete, wusste sie. Ihre Mama würde bald nach ihr rufen, sie würden miteinander essen und gleich darauf würde Mama sie wieder allein lassen.

      Feodora war zwar erst eine halbe Stunde zuvor von der Arbeit nach Hause gekommen, aber dort musste sie wieder hin, wie jeden späten Nachmittag. Es waren diese unbezahlten abendlichen Überstunden, dank derer sie ihre Arbeit behalten durfte, auf die genügend andere und auch qualifiziertere Anwärterinnen hofften. Feodora musste sich auf die Spielregeln ihres Arbeitgebers, des Advokaten Medwedew, einlassen. Was im Arbeitsvertrag stand, war irrelevant. Sie hatte zu tun, was er ihr sagte, ansonsten flog sie und mit ihr ihre Träume von einem besseren Leben für ihre Kleine.

      Schlimm war das für die 43-jährige Dora aber nicht, die gerne arbeitete, weil ihre Arbeit sie erfüllte. Zum ersten Mal fühlte sie sich als Teil der Gesellschaft und das, obwohl sie ihrer Meinung nach nichts Großartiges leistete. Handschriftlich geschriebene Texte abzutippen, sie zu kopieren, einzuordnen oder zur Post zu bringen, Passagen aus Büchern zu kopieren und Ähnliches zu erledigen, was in einer Anwaltskanzlei an Hilfsarbeiten anfiel, konnte jeder, pflegte sie zu sagen.

      Somit war es gar nicht Dora, die unter ihrer vielen Arbeit litt, sondern die kleine Anna, die nur bedingt verstehen konnte, weshalb ihre Mutter kaum bei ihr und sie Tag für Tag auf sich allein gestellt war. Sie ahnte, dass Mama tun musste, was sie tat, und dennoch konnte sie nicht anders, als während der einen Stunde, in der Feodora nachmittags zu Hause war und für sie kochte, zu schmollen und beleidigter zu tun, als sie es tatsächlich war.

      Und deshalb blieb Anuschka, als ihre Mutter nach ihr rief, noch ein Weilchen sitzen und sah den Regentropfen zu, wie sie unberechenbare Wege über die Fensterscheibe nahmen.

      Die drei Smirnowa-Damen hatten sich in der 14ten von 16 Etagen niedergelassen, in einer kleinen Wohnung, deren Inhalt und Bedeutung in Relation zur Größe des Plattenbaus verblassten. Der riesenhafte Bau verkümmerte wiederum im Großsiedlungsmeer, das sich wie ein Gürtel um die Stadt zog, zu einem vernachlässigbaren Pixel. So verhielt es sich auch mit den Straßen, Geschäften, Parks und Höfen dieser Gegenden, was noch zu ertragen gewesen wäre, aber genauso unsichtbar wie ihre Bezirke waren die Arbeiter selbst.

      Diejenigen, die das größte Land der Erde in Gang hielten, waren Unsichtbare, und diejenigen, die das Land in den Ruin trieben, kannte die ganze Welt.

      Während die einen immer reicher wurden, sich prachtvolle Paläste, Denkmäler und Feriendomizile errichten ließen, wurden die Unsichtbaren zunehmend ärmer. Und seit die unliebsamen Vorfälle auf der Krim ein Jahr zuvor begonnen hatten, war es besonders schlimm geworden. Der Rest der Welt konnte nicht mit ansehen, wie ein sowjetischer Prinz sein verlorenes Erbe zurückholen wollte, und ließ es Russland spüren. Doch dem Prinzen war es egal gewesen, denn er hatte, was er brauchte, und darüber hinaus noch viel mehr. Er musste die Rechnung nicht begleichen. Anders verhielt es sich mit den Unsichtbaren, deren Armut mit wachsender Unzufriedenheit Hand in Hand ging, Mundwinkel