Fontanka. Markus Szaszka

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Название Fontanka
Автор произведения Markus Szaszka
Жанр Языкознание
Серия Großstadtballaden
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754170960



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Hinzukam, dass sie mit ihren sieben Jahren schon erstaunlich viel herumgekommen war.

      In Moskau geboren, hatte sie mit zwei Jahren nach Nowosibirsk müssen, ein halbes Jahr später nach Tomsk, wo ihre Familie immerhin eineinhalb Jahre geblieben war, dann zurück nach Moskau, für drei Jahre, und jetzt hierher, an die Newa. Das viele Reisen hatte das dürre Kind redselig gemacht, denn einen anderen Weg gab es nicht, neue Freunde kennenzulernen. Gleichzeitig war Polina einigermaßen immun gegen die vielen Sticheleien der anderen Kinder geworden, die sie für blöd befanden, weil sie von woanders kam und frech war, mehr noch, sich manchmal robust und widerstandsfähig wie ein Junge gab, manchmal sogar Spuckte, Fluchte, ihren Stinkefinger zeigte oder ähnlich Unschickliches an den Tag legte.

      Anna und Polina waren also beide anders. Jede auf ihre Art. Und das war auch der Grund, weshalb ihnen ihre Freundschaft guttat, weil sie sich beieinander sicher fühlten, normal, nicht wie Ausgestoßene, sondern wie ein Team, das zusammen stark gegen den Rest der Welt war.

      Und so, wie sie ihr Glück teilten, teilten sie auch ihren Kummer, wenn eine von ihnen gehänselt wurde. Wenn Polina als Bohnenstange, Pinocchio oder Assi und Anna als Zurückgebliebene, Dumme oder Verrückte bezeichnet wurde, fühlten sich beide schlecht. Meistens hatte Polina einen kecken Spruch als Antwort parat und tröstete Anna, dass die anderen blöd seien und sie beide viel toller wären, eben weil sie anders als die anderen waren. Das hatte ihr Bruder Iwan früher zu ihr gesagt, wenn sie geärgert wurde, und jetzt sagte sie es ihrer Freundin, die schwächer als sie war und um die sie sich kümmern musste.

      Bald fingen die Jungs der 2-c an, noch frecher zu werden. Sie zupften die beiden Mädchen an deren Schuluniformen, zogen leicht an ihren Zöpfen, nahmen ihnen Stifte und Blöcke weg und versteckten ihre Rucksäcke, wenn sie nicht hinsahen. Ähnliches trieben die Jungs auch untereinander, weshalb keiner großes Aufhebens um dieses typisch rowdyhafte Verhalten machte. Aber es fiel dennoch auf, dass Polina und Anna die bevorzugten Opfer solch kindlicher Streiche waren.

      Je enger Polina und Anna aneinanderwuchsen, je glücklicher sie miteinander waren und das auch offen zur Schau stellten, indem sie kicherten, sich gegenseitig Zöpfe flochten und Klatschspiele spielten, desto gemeiner wurden die anderen Kinder zu ihnen. Die Jungs konnten jetzt nicht nur ihre Andersartigkeit nicht leiden, sondern auch ihr Glück. Und die anderen Mädchen waren neidisch auf ihre enge Freundschaft.

      Also begann der härtere Tobak. Einmal stellte Artjom, der schamloseste Rüpel der Klasse, Anna ein Bein, als sie eine Treppe im Schulgebäude hinunterstieg. Ihr passierte nichts, aber vor lauter Schreck weinte sie. »Was wollt ihr tun?«, fragte der Junge provokant und stand breitbeinig da, wie er es sich von einem Erwachsenen abgeguckt haben musste. Aber mit Polinas Faust, die in seinem Gesicht landete und eine blutende Nase hinterließ, hatte er nicht gerechnet, weshalb auch er sich zu Boden warf und zu weinen begann.

      »Hilfe, Hilfe, Frau Lehrerin, Hilfe«, schrie er und wand sich übertrieben auf dem Boden. Die anderen Jungs und Mädchen zeigten mit den Fingern auf ihn und er wurde rot im Gesicht. Polina half ihrer Freundin auf und war mächtig stolz auf sich. Als Koslowa kam, um zu sehen, was los war, petzte Artjom seine Version der Geschichte: »Sie hat mir ins Gesicht geschlagen!« Polina aber blieb still und wurde ins Rektorat geschickt, was ihr nicht viel ausmachte.

      Dort musste sie zwar von ihrem Vater abgeholt werden, dem Generalmajor Gromow, aber er würde sie verstehen, daran hegte sie keinen Zweifel. Ihr Papa war ein Berg von einem Mann, mit dem man nicht gerne diskutierte, außer man hieß Polina und war Papas kleiner Schmetterling, denn dann konnte es sogar Spaß machen.

      Da sich der Generalmajor nahezu immer im Dienst befand, traf man ihn zumeist in seiner autoritären moosgrünen Uniform an – so auch an diesem Tag, als er das Schulgebäude Nr. 348 betrat. Aus Gewohnheit übernahm er, ohne zu zögern, die Gesprächsführung, ließ erst Schulleiterin Baranowa reden und dann seine Tochter, deren Geschichten sich deutlich voneinander unterschieden. Auf die Frage hin, wieso Baranowa nicht beide Parteien zum Vorfall befragt hatte, wusste sie nicht recht zu antworten.

      »Herr Gromow, das hätten wir natürlich tun sollen, da gebe ich Ihnen vollkommen recht, aber Gewalt darf in unserer Schule nicht vorkommen. Ich denke, das verstehen Sie.«

      Der Generalmajor war streng und geradlinig, aber nicht ungerecht und er hütete sich davor, seine machtvolle Erscheinung auszunutzen.

      »Ich verstehe vor allem, dass meine Tochter sich und ihre Freundin vor einem Aggressor verteidigt hat und darauf bin ich sehr stolz. Sollte sie noch einmal angegriffen werden, hoffe ich, dass sie couragiert genug sein wird, sich wieder zu verteidigen. Mit allen Mitteln.« Papa Gromow wendete sich liebevoll zu seiner Tochter: »Gut gemacht, Engelchen. Ich bin stolz auf dich.«

      Von der Reaktion des Vaters überrascht und von seiner Uniform angetan, gab Baranowa ihm schließlich nicht nur Recht, weil sie sich rhetorisch nicht mehr zu helfen wusste, sondern sie überlegte, ob sie vielleicht wirklich falsch gehandelt hatte. »Natürlich, Sie haben wahrscheinlich Recht.«

      Er sah sie zweifelnd an.

      »Sie haben Recht, Sie haben sicher Recht.«

      *

      Da Artjom die Erniedrigung Polinas nicht auf sich sitzen lassen konnte, kam es schon bald zu einem weiteren Gefecht zwischen ihm und den beiden Klassenopfern. Es passierte nach einem Schultag. Die Kinder strömten aus dem Schulgebäude und machten sich auf ihre Wege in Richtung Zuhause. Da stellten sich der Chefrüpel und zwei seiner Komplizen vor Anna und Polina und bespritzten sie mit Mayonnaise, Ketchup und Remoulade. Als Artjom sah, dass die Mädchen zwar geschockt waren, aber nicht aufgelöst und schreiend davonliefen, ging er zu Polina und fing an, sie übel zu beschimpfen. Er sagte Dinge über ihre Mutter, ihren Vater und ihren Bruder. An anderen Tagen hätte sie diesen Attacken vielleicht standgehalten, aber nicht an diesem. Sie fing an zu weinen und lief weg – und Anna lief ihr hinterher.

      Bis zum nächsten Morgen durfte sich Artjom in Sicherheit wiegen und mit seiner Tat vor seinen Mitschülern brüsten. Bis dahin wusste er noch nicht, dass sich seine Gegnerin bei Bruder Iwan ausgeheult und dieser auf ihren Kummer mit den Worten »Mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich darum, dass er dich nie wieder belästigen wird«, geantwortet hatte. Und wenn Iwan seiner jüngeren Schwester ein Versprechen gab, dann hielt er es auch.

      Am nächsten Morgen, noch vor dem Läuten zur ersten Unterrichtsstunde, bekamen Artjom und seine Freunde wenig elegant, dafür äußerst diskret und effektiv, die Gesichter von Iwan und seinen beiden besten Freunden poliert. Hinterher gab es eine Drohung, die sicherstellte, dass keines der Kinder ihren Lehrern oder Eltern petzte, wer es gewesen war. Ab diesem Tag hatten Polina und Anna es deutlich einfacher. Artjom und seine Freunde suchten sich neue Opfer, aber sie schafften es nie wieder, mit der gleichen Energie und Leidenschaft wie zuvor zu ärgern und gemein zu sein.

      Den Mädchen konnte es egal sein und sie hatten nie erfahren, was passiert war. Sie merkten nicht einmal richtig, dass sie keiner mehr ärgerte. So sehr waren sie damit beschäftigt, einander kennenzulernen, sich Märchengeschichten auszudenken und darin zu verlieren, wie Siebenjährige es nun mal gerne tun.

      Und als die Mädchen der 2-c während eines Bastelunterrichts lernten, wie man Freundschaftsbänder knüpfte, bestand kein Zweifel daran, wer Annas und wer Polinas Bastelei bekommen würde.

      Anna stand in der Wohnungstür und Feodora musterte sie. »Wann bist du nur so groß geworden?«

      »Mama, ich muss los, Polina wartet schon.«

      »Sie kann sicher ein paar Sekunden warten«, winkte Mama Dora ab. »Wenn ich daran denke, dass du bald Vierzehn wirst, Anuschka, verstehe ich nicht, wo die Zeit abgeblieben ist!« Sie zupfte ihrem Kind die Schuluniform zurecht und wischte ihm mit dem Daumen eine verlorengegangene Wimper von der Wange.

      »Zu hübsch«, murmelte Feodora gedankenverloren und betrachtete die flachen Ballerinas, die dunklen Strümpfe, den kurzen dunkelblauen Faltenrock, die weiße Bluse mit dem Kragen aus Spitze, die beiden brünetten Zöpfe, die reine weiße Haut, rosa Wangen, das dezente Muttermal über