Fontanka. Markus Szaszka

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Название Fontanka
Автор произведения Markus Szaszka
Жанр Языкознание
Серия Großstadtballaden
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754170960



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einzige, die schüchtern war, aber sie hatte etwas unbestimmbar Besonderes an sich. Sie war verträumt und häufig geistesabwesend, ängstlich und naiv. Am liebsten sprach sie mit niemanden und wenn ihr jemand etwas erzählte, glaubte sie in der Regel alles.

      Wie es unter Kindern üblich war, wurde jede Andersartigkeit erbarmungslos mit Hänseleien bestraft. Und hatte sich eine Klasse erst mal auf ein Kind eingeschossen, dann blieb dieses Kind meist für eine lange Zeit das Klassenopfer. In der 2-c war es Anna, die regelmäßig drangsaliert wurde, mal mehr, mal weniger und manchmal unaufhörlich, bis ihr stumme Tränen über ihre Wangen liefen oder schlimmer, sie aufgelöst nach Hause lief. In diesen Fällen hielt sie die Gemeinheiten, die ihr angetan wurden, nicht mehr aus und sie verstand nicht, weshalb die anderen Kinder ihr fiese Namen gaben, sie an den Zöpfen zogen, ihre Lernzettel zerknüllten und ähnlich kindlich Gemeines taten.

      Von ihren Lehrern und Rektorin Baranowa, die Angst vor Feodoras Anwaltskanzlei Medwedew & Partner hatten, wurde Anna Iljinitschna Smirnowa in Ruhe gelassen. Aber sie sahen auch dann weg, wenn Anuschka misshandelt wurde, weil sie ihnen genauso suspekt war, wie sie es für die anderen Kinder war. Nur gingen die Erwachsenen anders mit ihrem Unbehagen um. Sie befanden das hässliche Entlein für zurückgeblieben und versuchten, es nach Möglichkeit nicht anzufassen. Ihrer Meinung nach brachte es Unglück.

      Mama Dora hingegen sah ihr gemartertes Kind am Anfang eines Weges, von dem kein Mensch wissen konnte, wohin er führen würde - sie hoffte, ins gelobte Land. Immerhin prüfte Gott nur diejenigen, die stark genug waren, diese Prüfungen zu bestehen. Und er tat es niemals ohne Grund.

      Seit dem Beginn des neuen Schuljahres waren zwei Wochen vergangen und der Alltag hatte die Randbezirke fest im Griff. Die Kälte, die sich nie weit von St. Petersburg entfernte und es das ganze Jahr über im Blick behielt, schlich sich auch 2016 schon früh im September an die Betten der Bürger. Manch einer sehnte sich morgens nach ein wenig Wärme, aber die Zentralheizungen würden voraussichtlich erst Anfang Oktober eingeschaltet werden. Das genaue Datum wusste keiner so genau, denn diese Bauchentscheidung blieb dem gesunden Menschenverstand der Obrigkeit überlassen.

      Die Sensationen der wenigen sonnigen Wochen des Jahres waren beinahe vergessen. Trägheit und ein Hauch von Resignation schlichen sich in die Stuben. Hatte das Land im Sommer noch viel über die politischen Entwicklungen debattiert, dachte es jetzt wieder zuallererst an genügend Pelmeni und Kompott auf dem Abendtisch.

      Den Menschen entging nicht, dass der Gürtel enger geschnallt werden musste, dass die guten Waren in den Geschäften teurer wurden und die Arbeit weniger. Aber noch ging es, noch hielten die Unsichtbaren an den Stadträndern durch, sie ackerten und existierten. Das war schon immer ihr Leben gewesen.

      Der sowjetische Prinz versprach, dass alles gut werden würde, und die meisten glaubten ihm. Nur diejenigen nicht, die ganz unten angekommen waren. Männer im besten Alter etwa, die sich außer Wodka nichts mehr leisten konnten und das öffentlich zur Schau stellten. Oder Omas, die ihr letztes Hab und Gut an den unsanierten Straßenecken für wenige Rubel verkauften. Oder die jungen Mädchen daneben, die dasselbe mit ihren Körpern versuchten.

      Es war nicht zu übersehen, was passierte, aber da jeder seine eigenen Sorgen hatte, sprach keiner darüber. Und wenn das Straßenbild jemandem doch einmal naheging, dann fragte er im Vorbeigehen leise vor sich hin: »Und das alles wegen der verdammten Krim?«

      Lange grübelte aber keiner über diese Missstände nach, weil stets ein Abendessen gekocht, für ein bisschen Geld gearbeitet oder ein Fläschchen mit 100 Gramm Hochprozentigem besorgt werden musste. Außerdem; was half es schon, dachten sich die meisten. Es würde sich ja doch nichts ändern.

      Auch in der Schule Nr. 348 hatte sich der Alltag eingependelt. Die Pädagogen brachten den Kindern bei, was das Curriculum von ihnen verlangte. Die Kinder lernten, weil sie lernen mussten. Und Anna wurde gehänselt, weil sie anders war. Wenn ihr das zu viel wurde, dann weinte sie und als Konsequenz wurde sie auf den Gang oder ins Rektorat geschickt, damit sie sich beruhigen konnte. Es sah nicht danach aus, als ob sich irgendetwas an diesem bedauernswerten Status quo hätte verändern können. Und dann kam Polina.

      In der ersten Schulstunde, an einem verschlafenen Montag, wurde sie von Koslowa ins Klassenzimmer geführt und vorgestellt: »Setzen. Das ist Polina Gromowa aus Moskau. Sie ist neu in St. Petersburg und ab heute in unserer 2-c.«

      »Polina Burattina«, sang einer der Streichholzkopf-Jungen kleinlaut und erntete kindliches Gekicher. Mit seiner Anspielung auf Pinocchio verglich er die Neue, die sehr dünn war und deren Arme und Beine wie Zahnstocher aus ihrer kurzärmeligen Bluse und ihrem kurzen Rock ragten, mit dem Jungen aus Holz.

      »Ruhe!«, keifte Koslowa, was den Jungen nicht sonderlich beeindruckte, der weiterhin stumpf und gemein in Richtung der Neuen grinste. »Neben Anna ist noch ein Platz frei. Hier. Setzt dich. Wir können dich später noch genauer vorstellen. Jetzt gibt es erst mal Mathe. Schlagt euere Bücher auf Seite vierundzwanzig auf. Plusrechnen bis 100.« Geschlossen seufzten die Schüler, weil sie wussten, dass sie in spätestens einer halben Stunde vor Langeweile auf ihren Stühlen zerfließen würden.

      Während Koslowa erste Rechenübungen mit Kreide auf die grüne Tafel schrieb, setzte sich Polina neben Anna und fing an, ihren Platz einzurichten.

      »Hallo. Mein Name ist Polina Andrejewna Gromowa. Und du bist Anna, und wie noch?«, flüsterte sie, sah zu Annas Tischhälfte rüber, auf der ein Schreibblock, das Mathelehrbuch, ein Federpenal, eine Safttüte und eine Banane lagen, holte ihrerseits Block, Buch, Federpenal, Safttüte und eine Birne aus ihrem Rucksack und platzierte ihre Utensilien spiegelverkehrt, damit sich ihre beiden Tischhälften glichen. Anna sah zu, blieb aber still.

      »Willst du nicht meine Freundin sein?«, fragte Polina uns sah ihrer Sitznachbarin direkt in die Augen. »Wir müssen keine Freundinnen sein, wenn du nicht willst.«

      Anna wollte antworten, aber etwas in ihr hielt sie zurück. Stattdessen holte sie einen Bleistift, einen Marker und einen Radiergummi aus ihrem Federpenal, um mitschreiben zu können. Polina tat es ihr nach und lächelte sie an. Anna war schüchtern, aber als sie sich die wiederhergestellte Symmetrie ansah, musste auch sie lächeln. In diesem Moment erfuhr sie ein warmes Gefühl in ihrem Bauch, dass sie so noch nicht gekannt hatte. Es umspielte ihn und er kribbelte.

      »Anna Iljinitschna Smirnowa«, sagte sie leise und hielt ihre Augen geschlossen, als ob sie sich verstecken wollte, riss sie aber quieksend wieder auf, weil Polina sie stürmisch umarmte.

      »Also willst du doch meine Freundin sein? Danke! Wir werden eine Menge Spaß zusammen haben. Polina und Anna, beste Freundinnen. Magst du Birnen? Ich nicht. Magst du meine haben? Dafür mag ich Bananen. Wollen wir tauschen?« Polina sprach so schnell und so viel, dass Anna weiter gar nichts mehr sagen konnte und nur mehr nicken musste. Aber das machte ihr nichts aus. Sie mochte die Neue trotzdem, weil sie lustig war.

      »Ruhe«, rief Koslowa, ohne nach hinten zu sehen.

      An diesem Tag lernte Anuschka also ihre erste Freundin kennen und in den kommenden Tagen, Wochen und Monaten wuchsen die beiden zusammen. Da Polina mit ihren Eltern und ihrem fünf Jahre älteren Bruder Iwan in eine der drei benachbarten Blockbauten gezogen war, verbrachten die Mädchen nicht nur alle Pausen zusammen, sondern auch die Wege zur und von der Schule. Jeden Morgen, wenn Schule war, trafen sie sich vor dem Blumenladen der Babuschka Tsvetkova, dem kleinen Häuschen, das unmittelbar vor ihren Plattenbauten an der Pribrezhnaya Straße stand und wie ein übergebliebenes Legosteinchen aussah. Und nachmittags trennten sie sich dort wieder.

      Während ihrer Unterhaltungen sprach vor allem Polina, die nur schwer zu bremsen war, wenn sie einmal losgelegt hatte. Sie war eine Quasselstrippe, wie sie im Buche stand, hielt nichts zurück, was ihr durch den Kopf ging, und das war nicht immer gesellschaftstauglich, höflich oder nett, wie es die meisten Erwachsenen von einem siebenjährigen Mädchen gerne gehabt hätten. Dieses Verhalten war anhand der abenteuerlichen Verhältnisse zu erklären, in denen Polina und Iwan aufgewachsen waren.

      Als Tochter eines Generalmajors der russischen Streitkräfte hatte sie eine strenge und auf Disziplin ausgelegte