Fontanka. Markus Szaszka

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Название Fontanka
Автор произведения Markus Szaszka
Жанр Языкознание
Серия Großstadtballaden
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754170960



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beeinflusst – ihn milde gestimmt.

      Der ältere Herr kniff Anna zum Abschied ein bisschen zu doll in ihre Wange, was sie gar nicht mochte und das auch zum Ausdruck brachte, indem sie ihn ansah, als ob sie in eine frisch gepflückte Zitrone gebissen hätte.

      »Auf Wiedersehen, der Herr.«

      »Auf Wiedersehen, die Damen.«

      Fast hätte die kleine Anuschka dem für sie nun blöden Herrn die Zunge ausgestreckt, aber dafür war sie schon wieder zu sehr damit beschäftigt, Misha Masha von allen Seiten zu begutachten.

      Zu dritt verließen Mutter, Tochter und das Eisbärenmädchen das traditionsreiche Geschäft in der Innenstadt St. Petersburgs, gerade noch rechtzeitig, bevor eine wahre Flut an geschenklosen Bürgern ins Innere des Ladens drängte.

      »Was für ein freundlicher Verkäufer«, bemerkte Feodora und zog ihrer Kleinen, die sich da nicht so sicher war, Mütze und Fäustlinge an. »Und was für ein süßes Bärchen du jetzt hast. Sie scheint auch recht zufrieden zu sein, dass sie mit uns nach Hause kommen kann, oder?«

      »Ja«, meinte Anna kurz angebunden, mit Masha in ihren Händen, die sie an ihre Brust gedrückt hielt wie zuvor ihre Mütze. Nun ließ sie sich widerstandslos durch die Straßen der Stadt führen, ohne weiter zu hinterfragen, weshalb sich alles um sie herum verändert hatte. Sie glaubte ihrer Mutter. Alles würde gut werden.

      Mama Dora hingegen konnte sich den Luxus Sorgenfreiheit nicht erlauben. Sie wusste nicht, ob alles gut werden würde. Sie konnte sich nicht einmal sicher sein, ob der wortkarge Vermieter, mit dem sie wenige Tage zuvor telefoniert hatte, tatsächlich zur vereinbarten Zeit und am vereinbarten Ort auf sie warten würde, um ihr die Schlüssel zur versprochenen Einzimmerwohnung zu übergeben. Eine weitere ihrer Sorgen galt dem Zustand der Wohnung und eine nächste, ob sie es an diesem Tag noch schaffen würde, einzukaufen, um sich und ihrer Tochter ein Abendessen kochen zu können, das beide schon jetzt nötig hatten.

      Diese und andere Gedanken drehten sich wie rastlose Kreisel in Feodoras Kopf und es fiel ihr schwer, sie ruhen zu lassen. Aber jedes Mal, wenn sie ihre Anuschka ansah, wusste die fürsorgliche Mutter, weshalb sie diese Strapazen auf sich nahm und nicht in ihrem Dorf blieb, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, und zwar, damit nicht auch Anna ihr ganzes Leben dort verbringen musste. Nicht, dass es dort derart schrecklich war, aber das Leben musste mehr zu bieten haben, als die immergleichen Strommaste, Kuhherden und Nachbarn.

      Es ging nicht einmal um die Strommaste, Kuhherden und Nachbarn, vielmehr ging es ihr um die Entscheidungsfreiheit, diese sehen zu müssen oder auch nicht, eine Qualität des Lebens, die sie nie gehabt und die ihr, zumindest in jungen Jahren, gefehlt hatte.

      Es war eine Qualität, von der Feodora wusste, dass sie einzig mit Geld zu erkaufen war. Und um Geld zu haben, war Bildung von Nöten, jedenfalls im Falle ihrer Tochter. In ihrem war es zu spät für Bildung, dessen war sie sich ebenfalls sicher. Aber es gab einen zweiten Weg, um an Geld zu kommen, nämlich die Schufterei, und die war sie schon von klein auf gewohnt, seit sie mit sechs Jahren gelernt hatte, auf dem Hauseigenen Acker in Derevnya das Obst und Gemüse selbständig zu säen, zu pflegen und zu ernten.

      Das alles vergaß Dora für wenige Augenblicke, wenn sie zu ihrem schutzbedürftigen Kind und dessen Plüschtier sah. Denn dann war sie froh, dass es sie beide überhaupt gab.

      »Mama, Misha Masha hat Hunger. Können wir etwas essen?«

      »Ja, mein Mädchen. Wir sind gleich da und danach können wir nach Hause fahren und etwas essen.« Feodora wusste, dass es noch mindestens zwei Stunden dauern würde, bis sie in ihrem neuen Zuhause ankommen würden, und auch, dass sie es sich nicht leisten konnten, unterwegs zu essen, aber sie wusste nicht, was sie ihrem Mädchen anderes sagen sollte.

      Feodora war gezwungen, erneut zu hoffen. Dieses Mal bat sie den kleinen Jesus, der auf ihrem Brustbein lag, dass Anna durchhalten würde. Sie konnten nach der Schlüsselübergabe irgendwo in der Nähe einkaufen gehen und das Kind konnte eine Banane oder ein Brötchen für Zwischendurch bekommen, überlegte Dora. Die mit Mohn bestreuten mochte es doch so gerne. Dann würden die beiden zwar mit ihren Rollkoffern und den Einkäufen durch die ganze Stadt fahren müssen, aber die Öffnungszeiten der Lebensmittelläden würden kein Problem mehr darstellen.

      Vor der Nr. 32 in der Sadovaya Straße blieben sie stehen.

      »Anuschka, ich muss für ein paar Minuten hier rein.« Während Feodora das sagte, klingelte sie bei der Nummer drei und ihr wurde aufgemacht. Sie zog erst die Koffer und dann ihr Mädchen mit hinein und stellte allesamt an der Wand entlang im Flur auf. »Du wartest auf mich. Ich komme gleich wieder und dann gehen wir etwas zu essen für Misha Masha kaufen.« Sie beugte sich zu Anna, zog ihr Fäustlinge und Mütze aus, steckte sie in ihre eigene Jackentasche und gab der Kleinen einen Kuss auf die Stirn. »Gleich bin ich da, gut? Pass auf Masha auf. Rühr dich nicht vom Fleck und mach keinen Mucks. Ich bin gleich wieder da«, wiederholte sich die besorgte Mama, die ihre Tochter nicht allein in einem kaum beleuchteten Gang in einem Stiegenhaus mitten in St. Petersburg zurücklassen wollte, aber keine andere Möglichkeit sah.

      Sie hatte dem ungalanten Vermieter am Telefon versichert, dass sie allein lebte, damit die Miete günstiger ausfiel. Im Nachhinein war sie sich nicht mehr sicher, ob das eine gute Idee gewesen war. Wenn er ihre Anna jetzt sehen sollte, würde er ihr vielleicht doch noch absagen. Aber nun, da es nicht anders ging, hieß es Augen zu und durch.

      Dora war der Überzeugung, dass Gott jedem Menschen mindestens eine Chance gab, sich ein besseres Leben zu ermöglichen, aber nicht jeder erkannte oder nutzte sie. Diesen Fehler, hatte sie sich geschworen, würde sie nicht begehen.

      Sie wollte ihrem Kind ein besseres Leben ermöglichen, koste es, was es wolle, also nahm sie all ihren Mut zusammen, ging zur Tür Nummer drei, die sich nur ein paar Schritte weiter im Erdgeschoss befand, und klopfte.

      Anna sah ihr zu und wusste nicht, was von ihr erwartet wurde. Sie wollte einen Schritt nach vorne tun, da deutete ihr Feodora energisch, haltzumachen. Sie gehorchte, blieb in ihrer dunklen Ecke am Ende des Ganges stehen und beobachtete, wie sich die Tür öffnete und eine Männerstimme ihre Mutter ins Innere der Wohnung dirigierte.

      Die Türe wurde geschlossen. Anna blieb reglos stehen und lauschte. Die Stimme ihrer Mutter und die des unbekannten Mannes wurden leiser und verschwanden schließlich.

      Nach wenigen Augenblicken ging die schwache Flurbeleuchtung aus, da sich im gesamten Treppenhaus niemand bewegte. Bis auf einen dünnen Streifen gelben Lichtes, das in der Ritze zwischen Boden und Tür der Wohnung Nummer drei eingeklemmt lag, war es stockdunkel. Annas Augen würden noch ein Weilchen benötigen, bis sie erste Umrisse wieder schemenhaft erkennen konnten. Für einen Moment konnte sie nur hören. Das Holz unter ihren Füßen knarrte und von draußen drangen Geräusche von Autos ins Wohnhaus, die über matschig verschneite Straßen rollten.

      Anuschka spürte ihr kleines Herz zum ersten Mal in ihrem Leben bewusst in ihrer Brust schlagen und ihre Handflächen begannen zu kribbeln. Ohne zu wissen, was mit ihr los war, schnappte sie tief nach Luft. Und nochmal. Und nochmal. Obwohl sie nichts lieber getan hätte, als ihrer Mama nachzulaufen, tat sie es nicht. Sie durfte es nicht tun, also blieb sie weiterhin an Ort und Stelle stehen und bemerkte gar nicht, dass sie mit ihrem Mund lautlos die beiden Silben Ma-ma formte.

      Am oberen Ende der Treppen zum ersten Stockwerk raschelte es, Anna sah hin und dachte, ein schwärzeres Schwarz im helleren Schwarz hin- und herpendeln zu sehen. Sie machte einen kleinen Schritt zurück, die Wand berührte ihren Rücken und sie presste ihre Augenlider so fest sie konnte zusammen.

      Hey, sagte jemand.

      Im ersten Moment erschrak das Kind, aber die junge, mädchenhafte Stimme, die das Hey geäußert hatte, hatte etwas Lebensfrohes und Beruhigendes an sich. Sie lenkte Anuschka ab und ließ sie die Schatten am Treppenende vergessen.

      »Hallo? Wer ist da?«

      Kannst du mich bitte nicht so fest drücken? Sonst tut mein Bauch weh!

      »Misha?« Anna sah in ihre aufgefalteten Hände, wo tatsächlich das lächelnde Eisbärenmädchen