Coloman. Ralf Lothar Knop

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Название Coloman
Автор произведения Ralf Lothar Knop
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754184844



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dafür, ob es ein Vormittag oder Abend war. Wenn man ihn gefragt hätte, ob ihm das Mittagessen geschmeckt hat, hätte er darauf keine Antwort gewusst, denn er wusste ja nicht einmal, was er gegessen hatte.

      Diese buddhistische Lösung von der Welt und seinem Leben gaben ihm die Kraft, die ewige Wiederkehr des Gleichen nicht nur zu ertragen, sondern als die Erfüllung seines Lebens zu betrachten, obwohl er natürlich auch darüber nicht nachdachte. Manche Menschen sind davon überzeugt, dass es für den Menschen absolut unmöglich sei, nicht zu denken, aber Coloman hatte diesen Zustand erreicht, er war frei, frei von allen Bindungen, jedenfalls bis zu dem Tag, an dem Belinda ihn in der Justizvollzugsanstalt besuchte.

      Von diesem Tag an war sein Leben von Erwartungen geprägt, er wartete auf den ersten Brief, er wartete auf Belindas Besuch, er wartete auf das Abendessen, damit der Tag, an dem weder ein Brief von Belinda noch sie selbst erschien, endlich vorüber ging. In der Nacht wartete er auf den nächsten Tag, der ihm die Hoffnung auf die Erfüllung seiner Erwartungen gab. Sein Leben war zerstört, denn seine Zufriedenheit war durch eine ständige Unruhe ersetzt worden.

      Dann kam endlich ihr erster Brief.

      Lieber Coloman,

      ich habe lange darüber nachgedacht, warum mich die Nachricht von deinem Prozess so fasziniert hat, dass ich unbedingt bei jeder Verhandlung dabei sein wollte und warum ich dich unbedingt besuchen wollte. Endlich bin ich zu einem vorläufigen Ergebnis gekommen, ich sage vorläufig, weil diese Antwort noch mit sehr vielen Fragezeichen verbunden ist. Meine vorläufige Antwort lautet: Ich habe keinen Vater!

      Natürlich muss dir diese Antwort sehr merkwürdig vorkommen, deshalb will ich sie erklären. Meine Mutter hatte eine sehr intensive, wie sie selbst es nannte, Selbstfindungsphase. In dieser Zeit wollte sie sich auch sexuell verwirklichen und ist deshalb sehr viele Verbindungen zu verschiedenen Männern und anderen Frauen eingegangen. Als sie dann endlich erkannte, dass die sexuellen Erlebnisse mit Frauen für sie viel beglückender waren, als diejenigen mit Männern, war sie dann allerdings schon mit mir schwanger, ohne es zunächst noch zu wissen.

      Sie hatte eine Partnerin gefunden, mit der sie bis zum heutigen Tage zusammen lebt und die sich über die Nachricht, dass meine Mutter schwanger war, sehr freute. Bei den vielen Kontakten zu Männern, die meine Mutter gehabt hatte, wäre es sehr schwierig gewesen, meinen Vater zu finden, aber die beiden Frauen hatten auch gar kein Interesse daran, denn ich war ihre Tochter, die Tochter von Johanna und Elisabeth.

      Ich hatte eine sehr glückliche Kindheit, wahrscheinlich habe ich von Johanna und Elisabeth mehr Liebe bekommen als manche Kinder, die eine Mutter und einen Vater haben. Trotzdem fing ich an, mir immer wieder einen Vater vorzustellen, als ich in die Pubertät kam. In meinen Vorstellungen entwickelte ich die unterschiedlichsten Bilder, je nachdem in welcher Stimmung ich gerade war.

      Ich saß auf dem Schoß meines Vaters, der mich streichelte und mir sagte: ich liebe dich. Mein Vater las mir meine Lieblingsbücher vor. Ich ging an der Hand meines Vaters durch einen Zoo und er erklärte mir all die Tiere, die wir dort sahen. Mein Vater saß neben mir und half mir bei den Hausaufgaben, am Abend saß mein Vater neben meinem Bett und sang für mich das Lied: Guten Abend, gute Nacht. Immer wieder, bis ich einschlief und auch im Schlaf meinen Vater noch singen hörte.

      Und dann war da auch noch der andere Vater, der mich bestrafte, wenn ich etwas Verbotenes getan hatte. Mein Vater hat mich niemals geschlagen, aber er hat mich in meinem Zimmer eingesperrt und mich von der Familie ausgeschlossen. Selbst in Gedanken war der Zustand, dass mein Vater nicht mehr mit mir sprach und mich nicht mehr in den Arm nahm, absolut unerträglich und ich habe ihn dann angefleht: Bitte, bitte sei doch wieder gut.

      Je nachdem, welchen Vater ich mir in meinen Phantasien vorstellte, habe ich meinen Vater geliebt oder ich habe ihn gehasst, doch egal, welches Gefühl gerade vorherrschte, immer endeten meine Phantasien mit einem Gebet: Du hast im Himmel viele Väter bei dir, schick doch einen davon auch zu mir.

      Du, lieber Coloman, hast einen wirklichen Vater, dessen Wirkung auf dich so intensiv war, dass du diese Wirkung schließlich nicht mehr ertragen konntest und ihn deshalb töten musstest. Hast du dich dadurch von deinem Vater befreit oder ist er immer noch da und ist seine Wirkung jetzt vielleicht noch viel stärker als vorher?

      Ich möchte dich verstehen, um mich besser verstehen zu können, um meine Sehnsucht nach einem Vater zu verstehen. Vielleicht klingt das alles jetzt ziemlich egoistisch für dich, aber ich versichere dir, dass ich ein aufrichtiges Interesse an dem Menschen Coloman habe. Deshalb würde ich mich sehr darüber freuen, wenn du meinen Brief beantwortest und wenn du bereit wärst, dich ein wenig für mich zu öffnen.

      In deinem Prozess hast du nur geschwiegen und ich bin überzeugt, dass dein Urteil so hoch ausgefallen ist, weil du nicht bereit warst, dem Gericht deine ausweglose Situation darzustellen und weil die Richter deshalb annahmen, dass du deine Tat nicht bereust. Dein Prozess ist vorbei und ich bin nicht gekommen, um zu urteilen oder gar zu verurteilen, sondern ich bin gekommen, um zu verstehen. Deshalb bitte ich dich, zeige mir den Coloman, wie er wirklich ist.

      Im Moment habe ich sehr viel zu tun, aber im nächsten Monat werde ich wieder einen Besuchsantrag stellen, natürlich vorausgesetzt, dass du mich überhaupt sehen willst. In Gedanken bin ich bei dir und erlaube mir, dich zu umarmen.

      Sei ganz herzlich gegrüßt

      Belinda

      Liebe Belinda,

      voller Sehnsucht habe ich deinen ersten Brief erwartet und bin nun nicht nur sehr froh, ihn endlich in meinen Händen zu halten, sondern deine Worte haben mich geradezu beglückt, weil aus ihnen so viel Liebe spricht. Liebe, Verständnis und Anerkennung sind die Lebens-Not-wendigen Eigenschaften, ohne die ein Mensch zugrunde geht. Alle drei haben in meinem Leben gefehlt, sodass mein Leben zu Ende war, bevor es richtig angefangen hatte.

      Weil ich „da draußen“ nicht das bekam, was ich brauchte, habe ich mich in eine Zelle zurückgezogen, in der für mich die Zeit stillstand. Hier in meiner Zelle hatte ich bisher keinerlei Erwartungen mehr, sodass ich auch nicht enttäuscht werden konnte, dadurch habe ich in meiner Einsamkeit eine Zufriedenheit entwickelt, die meinem Leben einen Sinn gab und die ich schließlich sogar als ein Glück empfand, das nur wenigen Menschen geschenkt wird.

      Bisher hatte ich keine Erwartungen mehr an das Leben, bisher, bis du mir erschienen bist. Du hast all das zerstört, dies ist kein Vorwurf, sondern ich bin froh, dass du mich enttäuscht hast, dass du endlich die Täuschung aufgehoben hast, der ich mich so lange in dieser Anstalt hingegeben habe. Alleine dein Anblick hat mich ins Leben zurück geholt und mich mit einer Sehnsucht erfüllt, die ich schon vergessen hatte.

      Diese Sehnsucht bedeutet aber auch, dass ich nun wieder voller Erwartungen bin, ich warte darauf, dass die Nacht vorüber geht, in der Hoffnung, am nächsten Tag einen Brief von dir zu erhalten, ich warte darauf, dass die Woche vorüber geht, in der Hoffnung, dass du mich am Wochenende besuchst, ich warte darauf, dass meine Zeit in der Anstalt vorüber geht, damit ich dir endlich begegnen kann.

      Ich weiß nicht, ob ich schon bereit oder in der Lage bin, über meinen Vater nachzudenken oder gar einem anderen Menschen über ihn zu berichten. Bisher hatte ich immer Angst, dass andere Menschen mich gar nicht verstehen können und mich deshalb verurteilen würden. Du hast mir diese Angst genommen, weil aus deinem Brief so viel Empathie spricht, dass ich mir sicher bin, dass du meine Gedanken und Gefühle verstehen wirst, mehr noch, du wirst mit mir fühlen können.

      Wenn du in deinen Träumen unterschiedliche Bilder von deinem Vater entstehen lässt, dann werden alle diese Bilder für dich zur Wirklichkeit, zu einer Wirklichkeit, in der du deinen Vater entweder lieben oder hassen kannst. Beide Gefühle zeugen von einem sehr intensiven Verhältnis zu deinem Vater. Wenn ich von einem Vater träume, wie ich ihn gerne gehabt hätte, dann wird diese Wirklichkeit jedes Mal durch die Realität zerstört, in der ein Vater vor mir steht, den ich weder liebe noch hasse, sondern von dem ich einfach nur die Anerkennung meines Lebens erwarte, eine Anerkennung, die er mir Zeit seines Lebens immer verweigert hat und das ist der Grund, warum die Zeit seines Lebens vorüber ist.

      Wenn ich Bilder sehe, auf denen Jesus am Kreuz hängt, dann sehe ich keine Hinrichtung, dann sehe ich