Das Überlebensprinzip. Christian Ruf

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Название Das Überlebensprinzip
Автор произведения Christian Ruf
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742735614



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konnte. Ich meine - verstehst du mich? Kannst du diese zwingende Notwendigkeit meiner Situation überhaupt nachvollziehen? Ich hatte Menschen gesehen, die andere am Leben ließen, teilweise aus Mitleid oder Ehrfurcht vor dem Leben. Sie wurden letztendlich alle Opfer ihrer Entscheidung. Es ist einfach nicht mehr möglich jemand anderen am Leben zu lassen. Oder glaubst du dich einfach Schlafen legen zu können ohne ein Risiko einzugehen der Andere neben dir könnte dich nicht doch umbringen?

      So entschloss ich mich die nächste Nacht noch abzuwarten. Seine Tagesgewohnheiten waren mir durch die ständige Beobachtung ja schnell vertraut geworden. Er ging immer wieder an den Fischteich um dort Fische zu angeln und dann roh zu verspeisen. Der Junge hatte wohl kaum Erfahrungen im Überleben sammeln können denn er war gerade mal schätzungsweise zehn Jahre alt. Als das Ende von allem stattfand war er noch nicht einmal eingeschult gewesen. Meistens saß er dann nach dem Essen noch lange am Ende des Stegs am Fischteich und blickte ohne einen Ton zu sagen ins Wasser. Er redete eigentlich nie, was ungewöhnlich war. Ich selber führe ständig Selbstgespräche mit mir - schon aus purer Einsamkeit.

      Keine Ahnung was den Jungen so innerlich beschäftigt hat, jedenfalls stand er an diesem Tag auf, stellte sich an die Kante des Stegs und ließ sich mitsamt der Kleidung hineinfallen. Es war aber kein echtes Springen. Es war ein „sich einfach fallen lassen“.

      Im ersten Moment dachte ich mir nicht viel dabei. Nur als der Junge nicht wieder auftauchte, wurde es mir mulmig. Ich durfte ihn nicht aus den Augen verlieren. Ich musste immer wissen, wo er war! Das war für mich höchste Alarmstufe! Das ganze Ufer beobachtet ich - aber er tauchte einfach nicht mehr auf.

      So rannte ich den Hang hinunter zum Steg und blickte in das klare Wasser des Fischteichs. Da lag er auf dem Grund in etwa zwei Meter Tiefe. Regungslos und mit dem Gesicht nach unten. Es sah unheimlich aus. Sofort wurde mir klar, dass dies kein Zufall war. Der Junge wollte, warum auch immer, seinem Leben wohl ein Ende setzen. Ich hatte leider schon viele Leute sehen müssen die sich selbst das Leben genommen haben - es schockiert mich bis heute noch. An so etwas kann man sich nicht einfach gewöhnen.

      Plötzlich entdeckte ich im Augenwinkel ein paar abgepflückte Blumen, die auf den Planken des Steges lagen. Erst waren sie mir gar nicht aufgefallen. Sie waren von ihm liebevoll an die Stelle neben sich gelegt worden, wo er eben noch gesessen hatte. Ein merkwürdiges Gefühl überkam mich.

      Sofort zog ich einen Teil meiner Kleidung aus und sprang hinterher, tauchte runter zu ihm und griff nach seinen treibenden Armen. Ich versuchte ihn hochzuziehen, aber es ging nicht! Da war irgendetwas, was ihn schwerer machte. Und tatsächlich: ich musste ihm die Jacke ausziehen da er sie mit Steinen beschwert hatte. Mühsam kamen wir beide zurück an die Oberfläche. Mehr oder weniger geschickt schwamm ich auf dem Rücken mit ihm im Arm und legte ihn durch den mit Schilfgras überwucherten Uferrand endlich auf festen Boden.

      Keine Ahnung welche der von mir ausprobierten und hilflosen Wiederbelebungsmaßnahmen letzten Endes halfen. Er kotzte mir den flüssigen Inhalt seine Lunge ins Gesicht und begann richtig ekelig zu röcheln. So legte ich ihn auf die Seite, dass er alles restliche Wasser erstmal aushusten konnte…

      Schließlich bemerkte er, dass jemand ihn gerettet hatte. Das war der kritische Moment! Mein Messer hatte ich bereits in meiner Hand um es in einem Nahkampf schneller benutzen zu können. Er aber blickte nur erstaunt in mein Gesicht und fing dann einfach an zu weinen. Ganz lautlos, zuckend und voller Scham und Schmerz. Er tat mir Leid. Verwirrt sah ich ihn an wie er sich zusammenkrümmte und vor tiefem Kummer zitterte.

      Prüfend schaute ich nach ob er vielleicht doch noch bewaffnet war. Sein Messer hatte er nach dem Essen auf dem Steg zurück gelassen.

      „Hallo … du“ sprach ich ihn an „kann ich dir vielleicht helfen?“

      Aber es war ganz offensichtlich: dieser Junge brauchte jemanden der ihn nach so einem Erlebnis einfach nur in den Arm nahm. Und das tat ich schließlich. Ganz ohne weitere Worte.

      „Wie heißt du eigentlich? Wie ist dein Name?“ fragte ich schließlich meinen neue Begegnung.

      Statt zu antworten blickte er nur verwirrt an mir vorbei.

      „Okay - ich heiße Michael. Und du?“

      Wieder keine Reaktion von ihm und ich wurde ungeduldig.

      „Kannst du nicht sprechen oder was? Sag’ schon.“ - eigentlich eine sinnlose Frage wie mir im Nachhinein klar wurde.

      Als Antwort bekam ich zu meiner Überraschung ein zögerliches Nicken. Ich war völlig verblüfft. Wie es sich allmählich herausstellte, hätte er zwar reden können, war aber nicht fähig dazu. Eine Art festgesetzter Schockzustand oder so. Wer weiß was der Junge alles erlebt hatte und was ihm die Sprache blockierte? An seinen Namen konnte er sich auch nicht erinnern. So war jedenfalls meine Hoffnung auf Kommunikation in der Einsamkeit erstmal dahin!

      Dennoch entwickelte sich mein neuer Partner prima: er war immer an meiner Seite und lernte schnell durch seine Hilfsbereitschaft die nötigen Handgriffe. Das tat mir wirklich gut. Ich wurde für ihn sogar zu einer Art Vorbild. Schließlich entschloss ich mich eines Tages ihm einen neuen Namen zu geben weil er sich an seinen alten eh nicht erinnern konnte.

      „Junge, komm mal her zu mir.“ rief ich ihn eines Morgens. „Ich werde dich ab heute mit einem Namen rufen. Wie wäre es mit: Ben?“

      Er nickte eifrig und fand es echt cool einen eigenen Namen zu bekommen. Man war er stolz wenn ich ihn mit „Ben“ ansprach! Das schweißte uns noch mehr zusammen und ich muss ehrlich gestehen, dass ich nach langer Zeit das Gefühl hatte, dass das Ende von allem ein wenig an seiner Unveränderlichkeit verloren hatte…

      9. Tag

      Unser Weg führte weiter durch die Wälder und an einigen Dörfern vorbei. Wir wollten ein Bachtal überqueren, doch blöderweise standen wir plötzlich an eine Kante von abschüssigen Felsen, so dass wir erst gut einen Kilometer seitlich einen brauchbaren Weg ins Tal hinunter nehmen konnten. Unten angekommen gab es dann aber wieder keine Möglichkeit über den nur zwei Meter breiten Bachlauf zu kommen: kein Engpass zum drüber springen, keine Steine als Insel oder ein umgefallener Baumstamm. Kaum zu glauben, dass so eine lächerliche Situation ein echtes Hindernis darstellen konnte!

      Nun, es half nichts - Schuhe aus, Hosen hochgekrempelt und durch das zum Glück nur knietiefe, eiskalte Wasser durchwaten. Das prickelnde Stechen in den Beinen hinterher und die tauben, paprikaroten Zehen werde ich so schnell nicht vergessen… So etwas kostete einfach nur Zeit. Gut eine ganze Stunde dauerte es, bis wir auf der anderen Seite wieder auf der Höhe waren.

      In der Regel schafften wir so ca. 15 bis 20 Kilometer am Tag. Das war nicht viel, aber wir marschierten ja auch quer durch das Gelände. Dazu kam noch, dass wir morgens und abends das Zelt auf- und abbauten sowie Essen zubereiten mussten. Jeden zweiten oder dritten Tag verbrachten wir dann noch mit der Suche nach neuer Nahrung. Am Sonntag machten wir sogar eine Pause. So komisch es klingt - es gibt zwar keinen Grund dazu, aber einen Tag Ruhe in der Woche braucht der Mensch. Man hat dann wieder mehr Lust und Motivation das nächste Etappenziel anzugehen.

      Wenn ich unsere Tagesleistung auf gut tausend Kilometer hochrechnete und die Unterbrechungen dabei berücksichtigte, dann könnten wir in ungefähr drei Monaten im Süden hinter dem Gebirge angekommen sein. Genau mitten im Sommer. Da wäre dann noch genug Zeit, um sich Vorräte und einen Unterschlupf für den Winter zu organisieren…

      Am Abend kam Ben auf einmal mit leicht gequältem Gesicht zu mir. Er humpelte ein wenig. Fragend schaute ich ihn an. Als er seine Schuhe auszog, konnte man seitlich eine feuchte Stelle an seinem Socken erkennen. Ich ahnte schon woran das lag und als er diesen dann vorsichtig ausgezogen hatte, kam eine hässliche, ausgewachsene Blase zum Vorschein die zu allem Übel auch noch aufgegangen war. Autsch!

      „Du hast deine Füße nicht richtig trocken gemacht nach unserer Bachüberquerung. Jetzt haben sich die nassen Socken an deinen Schuhen und Füßen wund gerieben.“ erklärte ich verärgert im Anbetracht der nun erzwungenen Pause und der dadurch verlorenen Zeit.

      Ben schaute nur beleidigt und stöhnte