Die richtige Chemie. Günter Wirtz

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Название Die richtige Chemie
Автор произведения Günter Wirtz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754184929



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schrie nach ihm und schon wühlte es sich tief in seine Eingeweide. Melanie hatte den Mund zum Schrei geöffnet, aber bevor sie einen Laut von sich geben konnte, zog die Klinge bereits einen breiten blutigen Strich über ihre Brust.

      Ich verbeugte mich, wie es die Tradition verlangt. Dann ließ ich mein Katana mit geübten Bewegungen gesäubert in seine Scheide zurückkehren, während mein Blick auf den Opfern ruhte.

      Ich hatte ein furchtbares Gemetzel angerichtet: zerschnittene, durchstoßene, blutgetränkte Körper. Es würde etliche Stunden dauern, die lebensgroßen Puppen wieder zusammenzunähen und die Kunstbluttaschen im Hals, im Bauch und in der Brust zu erneuern. Im Moment aber fühlte ich mich frei, frei von allen Stacheln. Und das war es mir wert!

      Anna

      Marmelade, grummeln, Tal und Schlafmohn sind wunderschöne Wörter. Fast so schön wie Sesam, Wind, Seifenblase oder Rosenkohl, aber das schönste Wort von allen, das Wort der Wörter, lautmalerische Poesie in Vollendung, euphonische Krone der sprachlichen Schöpfung, ist: Anna. Anna vorwärts, Anna rückwärts, Anagramm.

      Ach, Anna: A wie Atem, wie Alabaster, wie Aura, wie All, wie Amigo, Antike und Amor, wie Aphrodisiakum, Antilope und Antivirenprogramm.

      N wie Neumond, Nacht und Natur, wie Nimbus, Nebel oder Nabel, wie nackt, wie Nest, wie Nudelholz.

      Ach, Anna, immerzu möchte ich Anna singen, lachen, schreien, murmeln, gurgeln, flüstern, stöhnen. Tanzen möchte ich deinen Namen, ihn mit Badeschaum als weiße Wattewölkchen in den Himmel modellieren, ihn zu Kuchen backen, ihn hinter meine Augenlider tätowieren.

      Wenn ich könnte, würde ich deinen Namen in fetten Lettern in den Mond malen, damit er mir im Schlaf erscheint. Wenn ich könnte, würde ich der Sonne deinen Namen ins Gesicht sprayen, damit seine Strahlen meine Haut versengen. Wenn ich könnte, würde ich deinen Namen in meinen Grabstein meißeln.

      Ach, Anna, den ganzen Tag möchte ich dich sehen, dich riechen, dich hören, dich spüren, dich schmecken, dich atmen: an-na, an-na, jeden Tag, jede Stunde, jede Sekunde, jeden Augenblick!

      Ach, Anna, du bist der Wind und ich die Möwe, du der Strand und ich das Meer, ich das Herz, du das Blut, ich das Haar und du das Gel, du Latte, ich Macchiato, ich Elmex, du Aronal! Ohne dich, Anna, bin ich nichts, mit dir bin ich alles.

      Ach, Anna, die Welt hängt voller Annas, Anna in allem, wofür es sich zu leben lohnt: Anarchie, Anabolika, Analyse, überall und immerzu Anna. Weißt du eigentlich, dass ich nur noch esse, was deinen Namen in sich trägt, damit ich dich stets in mir tragen kann? Ananas, Banane, Panna cotta. Und ist es Zufall, dass selbst Gott Manna regnen ließ und das auf dem Weg nach Kanaan?

      Ach, Anna, Anna, Anna, Anna, Anna, Anna, Anna: Alles sollte Anna heißen, nicht Universum, sondern Annaversum, nicht Sonne, sondern Sanna, nicht Henne, sondern Hannah. A und N, N und A, Anna am Annafang, Anna am Endanna. Meine Zanga kanna fast nur noch Anna saganna: Anna Anna Anna.

      Ach, Anna, ana dich, Anna, ist alles sannalos. Du machst mich so anna, Anna. Ana dich kanna ich nicht mehr sein, ana dich, Anna, ist alles nur Panna, aber mit dir, Ana, bin ich im Nirwana. Ich kanna anna nichts annaderes mehr denken, danken, dannaken, Anna, als anna dich, Anna. Komanna in manna Armanna, Anna!

      Das Handy summt.

      Ah, Anna!

      „Hallo, Anna, ich habe gerade an dich gedacht. Ich … Was sagst du? Wie nochmal überlegt? Wieso über…? Netter Abend? Also für mich war das der schönste … One-Night- Stand? Betrunken? Aber du hattest doch nur fünf Cock… In der Kürze liegt die Würze, verstehe, aber wollen wir nicht doch noch ein wenig …? Also, einmal ist keinmal würde ich jetzt nicht gerade sa… hm, hm, hm. Jedem Ende wohnt ein Zauber inne? Was willst du denn damit …? Nicht dein Typ? Nett, aber nicht mehr? Verstehe … ja … ja … ja … nein … ja … Ob ich sauer bin? Pff, sauer, ich? Da kennst du mich aber schlecht. Ne ne, das ist schon okay. Klar, sicher, bis irgendwann mal. Bombe! Ciao.“

      Jedem Ende wohnt ein Zauber inne. Was ist das denn für ein beknackter Spruch? Will die mich verarschen oder was? Na warte, Anna, du schmierige Schleimschlampe, du bist es nicht wert, dass ich deinen Namen ausspreche. Ich werde ihn wegwischen, auslöschen, zermalmen, zerquetschen, zertreten, zerhacken, zerfetzen, ihn in Salzsäure zersetzen. Ihn gibt es nicht mehr. Ihn hat es nie gegeben. Mein Mund wird ihn noch nicht einmal ausspucken, weder ihn noch auch nur eine Silbe deines widerlichen, abstoßenden, würgreizauslösenden Namens, dieser Kakophonie des Grauens. Bis zum Ende meiner Tage ein Leben ohne AN und NA. Du hast es nicht …ders verdient. Wie k...st du mir das …tun. Einfach so, von einem Moment auf den …deren. Keinen Ged…ken werde ich mehr … dich verschwenden, … sie verschwenden. … wen verschwenden? Wer ist sie? Keine …ung.

      „Ein Esel kann kein Löwe sein!“

      Der alte Mann roch nach Tod. Zwei Wochen, schätzte Timo, und er irrte nur selten. Zehn Jahre arbeitete er nun schon hier im Geriatrie-Zentrum. Er wusste, wie der Tod roch. Auch wenn er bei jedem Sterbenden eine besondere Note annahm, seine Essenz blieb unverwechselbar.

      Aber es war nicht jener Geruch nach bitterem Honig, der ihn hatte stocken lassen, sondern etwas im Gesicht des alten Mannes. Seine seltsam geformte Nase, die ihn an jemanden erinnerte.

      Der Mann schlug die Augen auf. Seine Lider zitterten vor Schmerz. Erwartungsvoll richteten sich die trüben Pupillen auf die Hände des Pflegers, die eine Morphium-Injektion vorbereiteten.

      Timo erschrak, als ihm bewusst wurde, woher er den Greis kannte. Ein Blick auf die Patientenmappe bestätigte seinen Verdacht: Doktor Alfred Zink.

      „Zink wie Blei“, hatte er sich ihnen in der ersten Stunde vorgestellt und dann über seinen Witz laut gelacht. Es war der erste und einzige Witz, den er über sich selbst gemacht hatte, und das einzige Mal, dass sie ungestraft über ihn lachen durften. Danach war ihnen das Lachen im Halse stecken geblieben. Dafür hatte er gesorgt, dieses miese Schwein!

      Timos Mundwinkel zuckten, als er die Spritze aus der sterilen Packung zog.

      Ihr Lateinlehrer hatte ihnen und vor allem ihm das Leben zur Hölle gemacht, zum Infernum. Nein, er hatte nicht alles vergessen. Und das, was er ihm angetan hatte, war ohnehin in sein Gedächtnis eingeätzt wie Säure, Acidum.

      Nach wenigen Wochen hatte ihn Zink zu einem „Betonfünfer“ klassifiziert und zu einer permanenten Zielscheibe seines Spotts gemacht.

      Während Timo den Kunststoffpfropfen von der Nadel löste, kam ihm die Szene in den Sinn, die sein Leben in eine Sackgasse gelenkt hatte und die er darum nie vergessen würde. Alle sollten im Stowasser nachschlagen und auf Lateinisch den Beruf nennen, den sie später einmal ergreifen wollten.

      „Medicus“, hatte er gesagt, als er an der Reihe war.

      Daraufhin hatte Herr Zink schallend gelacht: „Na, das wollen wir um der armen Patienten willen besser nicht hoffen, was? Asinus leo esse non potest. Ein Esel kann kein Löwe sein. Oder wie wir sagen würden: Schuster, bleib bei deinem Leisten!“

      Seine Mitschüler, diese Arschkriecher, hatten noch die ganze Stunde darüber gelacht, und in den Pausen musste er fortan ihre spöttischen I-A-Rufe ertragen.

      „Asinus leo esse non potest.“ Nein, er hatte den Spruch nicht vergessen. Er war ihm als Kainsmal in die Stirn gebrannt. Doktor Zink hatte ihn mit einem Satz vor den anderen zum Esel gemacht und dafür gesorgt, dass er sich selbst als Esel fühlte.

      Während Timo langsam die klare Flüssigkeit aufzog, spulten sich in seinen Gedanken all die Ereignisse ab, deren Auslöser sein Lehrer gewesen war.

      Da er fortan jegliche Mitarbeit verweigerte, verwandelte sich seine Betonfünf in eine Sechs, wodurch er trotz guter Noten in den anderen Fächern sitzenblieb. Seine große Liebe wurde versetzt und fand bald eine noch größere Liebe, die nicht aus einer unteren Klasse kam. Der Trennungsschmerz trieb ihn in den Wahnsinn. Betrunken und in einem Anfall blindwütiger Verzweiflung stürzte er sich von einer Brücke. Ein