Die richtige Chemie. Günter Wirtz

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Название Die richtige Chemie
Автор произведения Günter Wirtz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754184929



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Dort haust sie im Erdgeschoss eines ehemaligen Fabrikgebäudes. Das Geschäft mit dem Pfand ist offenbar so gut, dass man sich die Miete leisten kann.

      Um vier Uhr in der Frühe betritt Martin den Eingangsbereich des Gebäudes mit Hilfe eines Dietrichs und sieht sich um. Tische, auf denen sich schmutziges Geschirr türmt, jede Menge Wein- und Bierflaschen, die Stühle kreuz und quer, drei alte Sofas, an den Wänden Regale und billige Poster, der Steinboden übersät mit Zigarettenstummeln. Martin zieht Ampullen aus seiner Tasche, zerbricht das Glas an einem Ende und wirft sie in die verschiedenen Zimmer, die von der Halle abgehen. Kurze Zeit später ist die gesamte Etage in eine Wolke aus Schwefelwasserstoff gehüllt. Die Kerle wachen auf, riechen, würgen, suchen das Weite. Martin, mit der Gasmaske auf dem Gesicht, hat sich in eine Nische zurückgezogen und wartet. Als der Muskelprotz als letzter rausgestürmt ist, sucht er die Räume nach seinem Fotoapparat ab. Er beginnt bei dem Anführer und wird fündig. Martin steckt die Kamera ein, geht in das Depot, schüttet Benzin über die Plastik- und Glasflaschen und zündet den Haufen an. Dichter Rauch steigt auf, rachsüchtige Wolken, die durch die Fenster nach draußen quellen. Ganz in der Nähe ertönt ein Martinshorn. Jens hat bereits die Feuerwehr verständigt. Bis jetzt funktioniert der Plan. Doch nun kommt der schwierige Teil.

      Martin verlässt das Haus. Dort stehen die Kerle, sie würgen und fluchen. Er läuft an ihnen vorbei zu einem Fahrrad, das er in der Nebenstraße abgestellt hat. Der Kläffer sieht ihn zuerst. „Da, der Pisser, der war‘s!“

      Die Typen rennen hinter ihm her. Martin schwingt sich auf das Rad und fährt so schnell, dass die Meute ihn nicht erreicht, aber auch nicht aus den Augen verliert. So lockt er sie bis zur Mühlheimer Brücke. Dort lässt er sein Fahrrad stehen und läuft zu Fuß weiter. Die Flaschenmafia kommt immer näher. Fast schon hat ihn der Kläffer erreicht. Plötzlich schwingt sich Martin über das Geländer und brüllt: „Noch einen Schritt weiter und ich springe!“

      „Dann spring doch, du Arsch!“ Der Kläffer greift nach Martins Jacke. In diesem Moment schreit Martin auf, rudert mit den Armen und fällt. Wenige Sekunden später klatscht der Körper in den Fluss, geht unter und kommt zurück an die Oberfläche. Bewegungslos, mit dem Gesicht nach unten, reißt ihn die Strömung mit sich. Die Typen von der Flaschenmafia starren der Wasserleiche erschrocken hinterher. Noch geschockter aber sind sie, als sie plötzlich Stimmen hören.

      „Polizei! Mörder! Sie haben ihn umgebracht!“

      „Was? Er ist gesprungen! Von allein, er war verrückt, ein Selbstmörder!“, bellt der Kläffer zurück.

      „Er hat ihn gestoßen! Ich hab‘s genau gesehen.“

      „Ich auch, ich kann‘s bezeugen.“

      „Ich hab‘s gefilmt. Die Schweine haben ihn zu Tode gehetzt!“

      Polizeisirenen nähern sich der Brücke.

      „Weg hier!“, schreit der Anführer und flieht als Erster. Die anderen hetzen ihm hinterher.

      Als die Polizei eintrifft, finden sie ein paar Stadtstreicher vor, die auf der Brücke eine Flasche Sekt trinken.

      „Ein Mord? Jemand von der Brücke gefallen? Ne, hier war alles ruhig“, antworten sie auf die Fragen der Polizisten, die sichtlich verärgert wieder abziehen. Kurze Zeit später erscheint Martins Gesicht am Brückenrand. Die anderen helfen ihm über das Geländer und drücken ihm die Flasche in die Hand.

      „Die Idee mit der alten Schaufensterpuppe war genial. In deinen Klamotten sah sie total echt aus. Die Typen sind weggerannt, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Ich wette, die sehen wir nie wieder“, sagt Jürgen. Die anderen nicken. Lachend lassen sie den Sekt kreisen.

      In dieser Nacht schläft Martin tief und fest. Als er am Morgen aufwacht, schwebt über der Zoobrücke eine rötliche Wolke.

      „Antawara“, murmelt Martin und freut sich auf den Tag.

      Stachel

      Ich nahm das schwarz umrahmte Bild aus dem Regal und betrachtete das Foto unseres Betriebsausflugs. Der Duftkringel eines Räucherstäbchens umtanzte die Köpfe meiner Kollegen. Genüsslich ließ ich den betörenden Moschusduft auf mich wirken und versank in den Klängen esoterischer Sphärenmusik. Langsam griff ich zu meinem roten Lippenstift und begann mit den Markierungen.

      Ralf, zweiter von links, ein Kreuz über das Gesicht, Dennis in der Mitte, an seinen Kehlkopf ein Punkt, Olaf, rechts daneben, ein Kreis auf seinem Bierbauch, und schließlich Melanie, zweite von rechts, breiter Strich quer über die Brust. Die anderen kannte ich nur vom Namen, gehörten anderen Abteilungen an, interessierten mich nicht.

      Vorsichtig stellte ich das Bild zurück an seinen angestammten Platz und faltete die Hände vor der Brust. Dann schloss ich die Augen, atmete tief durch die Nase ein und durch den Mund aus, ein — und aus —

      Als ich meine innere Ruhe gefunden hatte, öffnete ich die Augen wieder und betrachtete das gelbe Bündel, das vor meinen Knien auf dem Teppich lag. Mit Daumen und Zeigefinger faltete ich das Leinentuch behutsam auseinander. Da war es, mein Katana. Andächtig bestaunte ich die makellose Form des Schwertes. Bevor ich die Klinge aus der Scheide zog, verbeugte ich mich kurz und ließ dann den Stahl im hereinfallenden Sonnenlicht funkeln.

      Draußen im Garten warteten sie schon auf mich, auf mich und mein Schwert. Ich würde ihnen eine Vorführung von dem geben, was ich in den letzten fünf Jahren gelernt hatte. Eine Vorführung, die sie in ihrem Leben nicht mehr vergessen würden, denn …

      Ich lächelte mein Spiegelbild über dem Regal an, erhob mich in einer fließenden Bewegung und prüfte, ob Hemd und Rock richtig saßen. Mit dem Zeigefinger schnippte ich eine Fluse von meinem Ärmel, zupfte ein schwarzes Haar von der Schulter und richtete den Gürtelknoten exakt auf die Höhe meines Bauchnabels aus. Mit dem Schwertgriff in beiden Händen begab ich mich zu meinen Gästen.

      Ralf Guhl, mit ihm würde ich beginnen. In meinen Gedanken hörte ich seine nörgelnden Kommentare, mit denen er mich täglich im Büro traktierte: „Wo, zum Teufel, bleibt das Schreiben für Gerber? Da fehlt ein Komma! Ihr Kaffee, Fräulein Dünnbier, macht Ihrem Namen alle Ehre.“

      Zu dünn? Mein Kaffee ist perfekt, und niemand tippt schneller und macht dabei weniger Fehler als ich. Und dein Fräulein, mein Bösslein, kannst du dir in dein Doppelkinn stecken!

      Dann, Dennis, kommst du an die Reihe. Wie konntest du mich wegen dieses Flittchens sitzen lassen? Läufst ihr nach wie ein rolliger Kater, ihrem viel zu weiten Ausschnitt, dem viel zu kurzen Rock, dem viel zu breiten Hintern. Aber da stehst du drauf, nicht wahr? Vorher war ich dein Kätzchen, und sie, wie nennst du sie jetzt, vielleicht Tiger? Mops würde besser passen. Aber warte nur, dein Kätzchen hat Krallen und die wird sie dir gleich zeigen, dir und Olaf!

      „Arrogante Schreckschraube!“ Ja, ich habe genau gehört, wie du mit Dennis über mich getuschelt und gelacht hast. Die Schreckschraube wird dir im Hals stecken bleiben!

      Und zum Schluss zu dir, Melanie. Kommst einfach in mein Revier gestöckelt und verdrehst allen den Kopf mit deinem Schlangen-Tattoo und deinem Silikonbusen. Ich wette, man könnte aus deinen Kunststoffanteilen ein Dutzend Klodeckel recyceln. Ja, das würde zu dir passen, zu dir und zu euch allen.

      Inzwischen hatte ich den Garten erreicht. Dort standen und saßen sie und schauten mich verwundert an, wie ich mit meinem Schwert auf sie zuschritt. Wortlos beobachteten sie mich, aber in ihren Augen las ich ihre Gedanken:

      Was hat denn die Dünnbier da?

      Hej, Kätzchen, schicke Aufmachung!

      Kampfsport? Das hätte ich der Schreckschraube gar nicht

       zugetraut!

      Der Anzug würde mir viel besser stehen.

      Das war das Letzte, was sie denken würden. Bevor sie reagieren konnten, zog ich mein Katana aus der Scheide und schlug zu. Zwei Striche schräg über Ralfs Gesicht. Nase und Mund zerschnitten unter dem scharfen Stahl. Im nächsten Moment wirbelte ich herum und stieß Manfred die Spitze in den Hals. Ungläubig