Die richtige Chemie. Günter Wirtz

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Название Die richtige Chemie
Автор произведения Günter Wirtz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754184929



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in den Sitz gepresst zu werden; der atemberaubende Augenblick, in dem die Räder sich vom Boden lösen; die wahnsinnige Freude, den Wolken immer näher zu kommen; der Schwindel beim Eintauchen in die weißen Schwaden; das Herzrasen, als die Maschine das weiße Meer durchpflügt, die Wolkengischt gegen die Fenster schlägt, das trübe Weiß immer lichter wird, bis es so gleißend leuchtet, dass er die Augen schließen muss. Und dann, dann der magische Moment, in dem das Flugzeug in den blauen Himmel auftaucht. Die Wolken unter ihm eine Landschaft pulsierender Krater, ein Türmen und Blähen, Wölben und Strecken, Schrumpfen und Zerfließen, als besäßen sie ein Eigenleben. Später reißt die Wolkendecke auf, formt langgezogene Inseln, auf deren Grund sich Felder, Straßen, ein Fluss abzeichnen, so unerreichbar, wie es zuvor der Himmel war. Wolken wie Tiere, wie Baumkronen, wie Blumenkohl, wie Köpfe, wie Buchstaben, Stiefel, Münder, Augen, wie Herzen. Was Martin immer schon geahnt hat, wird nun zur Gewissheit: Wolken sind Bilder, gemalt von göttlichen Wesen, die ihre Finger in Farbe tunken, um sie über eine blaue Leinwand zu streichen.

      Als er aus seinen Träumen in die Gegenwart zurückkehrt, ist das Flugzeug verschwunden. Nur noch die faserigen Kondensstreifen erinnern an seine Existenz. Langsam lösen sie sich auf. Wie unser Leben, denkt Martin und schiebt sein Fahrrad am Rheinufer entlang, bis er das Basketballfeld erreicht. Da sieht er sie auf der anderen Seite des Flusses. Ein Cumulo-Nimbus, und was für ein Prachtexemplar: weiß leuchtend die Schultern, der Rücken elfenbeinfarben und der Bauch in einem strahlenden Blaugrau. Auf dem Kopf erheben sich drei Wirbel, die an eine Krone erinnern. Das Spektakuläre aber ist, dass sich die Wolkenkrone wie ein Heiligenschein über die Türme des Kölner Doms gelegt hat. Der Anblick ist so atemberaubend, dass Martin alles um sich herum vergisst. Erst als ein Windstoß die Plastiktüten an seinem Fahrrad klappern lässt, kommt er wieder zu sich. Er zückt seinen Fotoapparat und macht Aufnahmen.

      „He, du Arschloch!“ Die Stimme hinter seinem Rücken lässt ihn zusammenzucken. Vielleicht ist ja gar nicht er gemeint.

      „Eh, Pisser!“ Die Stimme hat sich genähert, ist direkt hinter ihm.

      „Der Penner ist taub“, mischt sich eine zweite Stimme ein, quäkend, kläffend.

      Martin dreht sich langsam um. Die Flaschenmafia! Den Muskelprotz mit der Mütze und dem Bart hat er schon häufiger hier am Rheinufer gesehen. Er scheint der Anführer zu sein. Den Besitzer der quäkenden Stimme erkennt er auch wieder. Er war derjenige, der Frank ins Gesicht getreten hat, als er bereits am Boden lag. Martin sackt das Herz in die Kniekehlen.

      „Meinen Sie mich?“, sagt er, um irgendetwas zu sagen.

      „Siehst du sonst noch ein Arschloch hier?“

      Zwei, denkt Martin, aber schüttelt den Kopf.

      „Na dann. Was machst en hier?“

      „Ich gehe spazieren, fotografiere Wolken. Ist ein Hobby von mir“, antwortet Martin so beiläufig wie möglich.

      „So so, der Herr macht einen Spaziergang und fotografiert Wolken. Das ist ja en Ding. Dann wollen wir nicht weiter stören“, sagt der Bärtige und wendet sich ab. Martin atmet auf. In diesem Moment schnellt der Mann herum und schmettert ihm die offene Hand ins Gesicht. Martin fliegt rückwärts über sein Fahrrad und bleibt benommen am Boden liegen. Sofort sind die beiden über ihm. Der Große stemmt seinen Schuh auf Martins Hals, der Kleine tänzelt wie ein Boxer um ihn herum: ein Hund, der darauf wartet, dass sein Herrchen die Beute freigibt.

      „Willst du uns verarschen? Ein Flaschensammler bist du, aber im falschen Revier. Das sind unsere Flaschen, die du da in deinen Tüten hast. Und Leute, die uns bestehlen, die mögen wir nicht. Weißt du, was wir mit denen machen?“ Sein Fuß verstärkt den Druck auf Martins Luftröhre. Belustigt beobachtet der Muskelprotz, wie sein Opfer versucht, sich zu befreien.

      „Du willst, dass ich den Fuß wegnehme? Gern.“ Er grinst und nickt seinem Kumpel zu. Der nimmt Anlauf und tritt Martin in die Rippen, einmal, zweimal, dreimal. Martin schnappt scharf nach Luft. Der Anführer hebt die Kamera auf, die Martin aus der Hand gefallen ist, und schaut sich die Bilder auf dem Display an.

      „Wolken!“, ruft er verächtlich und will den Fotoapparat in den Rhein werfen. Im letzten Moment überlegt er es sich jedoch anders und steckt ihn ein.

      Der Kläffer nimmt die Tüten vom Lenker. „Und was machen wir mit dem Rad?“ Kaugummifletschend schaut er seinen Boss an. Der hebt das Fahrrad hoch und schmeißt es in den Fluss. Dann wendet er sich Martin zu. „Wenn wir dich nochmal hier sehen, fliegst du hinterher!“ Er spuckt ihm ins Gesicht. Der Kläffer lacht.

      „Wir zischen ab, bevor jemand die Bullen ruft“, befiehlt der Anführer.

      Kurze Zeit später sind die beiden verschwunden. Martin schwindelt. Er schmeckt Blut. In dem Blut liegt ein Klumpen. Ein Zahn. Die Rippen schmerzen bei der kleinsten Bewegung. Er muss sich übergeben. Während er daliegt und darauf wartet, dass Schmerz und Übelkeit nachlassen, zählt er fünf Jogger, sieben Hundespaziergänger und zehn Fahrradfahrer. Sie schauen kurz zu ihm herüber und wenden dann den Blick ab. Ein Penner, der sich ins Koma gesoffen hat und nun in seinem Erbrochenen liegt. Das will keiner sehen.

      Irgendwann gelingt es Martin aufzustehen. Er schleppt sich zum Fluss, taucht seine Hand in das Wasser und wischt sich über das Gesicht. Vergeblich hält er nach seinem Fahrrad Ausschau. Es liegt auf dem Grund oder ist von der Strömung weggespült worden.

      Schließlich macht er sich auf den Weg. Bei jedem Schritt verzieht er schmerzhaft sein Gesicht. Doch irgendwann hat er die Mühlheimer Brücke erreicht. Eigentlich zu spät, um sein Nest aufzusuchen. Zu viel Verkehr. Aber heute ist ihm das egal. Er will nur auf seine Matratze und schlafen.

      In der Mitte der Brücke setzt er sich auf den Boden. Die Fußgänger meiden seinen Blick. Das ist gut. So kann er unbemerkt an dem Seil ziehen, das unterhalb des Geländers befestigt und mit einer Holzplatte verbunden ist. Durch das Ziehen schiebt sie sich wie eine Schublade unter der Brücke hervor. Martin rappelt sich auf und wartet, bis er allein ist. Als der Moment kommt, lässt er sich über das Geländer gleiten, klammert sich an den unteren Rand und setzt seine Füße auf die Holzfläche. Er kniet sich hin und zieht sich unter die Brücke.

      Sein Nest hat er vor einem Jahr gebaut, als man die Brücke wegen Bauarbeiten eingerüstet hatte. Nachts hat er das Gerüst dazu benutzt, mit Bohrern, Winkeln, Schrauben und Holzlatten einen Bretterverschlag unter der Brückendecke zu montieren, einen hölzernen Kasten, drei mal drei Meter Fläche, ein Meter hoch. Das Holz hat er grün gestrichen, sodass es von den Metallverstrebungen der Brückenkonstruktion kaum zu unterscheiden ist. Mit einem Klappmechanismus kann er die Vorderseite von oben verschließen. Zwei Gucklöcher als Fenster. Dann noch die geniale Idee, einen Teil des Bodens mit Rollschienen zu verankern, sodass man ihn herausziehen kann. Als man am Ende der Bauarbeiten das Gerüst abgebaut hatte, war sein Verschlag zurückgeblieben. Seitdem lebt er hier oben. So ist er den Wolken näher. Der Lärm über ihm stört ihn nicht.

      Nachts kommt er heraus, um Flaschen zu sammeln. Die Flaschen für den Bauch, die Wolken für die Seele, sagt er oft zu sich selbst. Heute sagt er nichts. Heute stöhnt er auf seinem Matratzenlager, zwingt sich trotz der Schmerzen zu trinken und ein paar Kekse zu essen. Als er einschläft, träumt er von dem Muskelprotz. Der Mann packt ihn und wirft ihn in den Fluss. Doch er landet nicht im Wasser, sondern in einer Wolke, die ihn hoch hinauf in den Himmel trägt. Dort löst sie sich auf, und Martin fällt. Mit einem Schrei wacht er auf. Alles tut weh, aber der Traum hat ihn auf eine Idee gebracht.

      Drei Tage und Nächte verbringt er in seinem Schwalbennest, ernährt sich von Wasser und Keksen. Als sein Vorrat verbraucht ist und die Schmerzen nachlassen, wagt er sich nachts hervor. Er durchstreift Köln-Riehl und Nippes, sammelt Flaschen, verbringt den Tag im Weidenpescher Park. Nach einer Woche hat er genug Geld, um seinen Plan auszuführen. Die Flaschenmafia hat seine Wolken. Er will sie wiederhaben. Er weiß, wo sie wohnen. Nicht er muss verschwinden, sondern sie. Dazu braucht er ein paar Sachen. Und Hilfe.

      Er geht zu Jens, zu Markus, zu Jürgen, ehemalige Kumpel von Frank. Normalerweise redet er nicht mit anderen Obdachlosen. Heute schon. Sagt: „Die Plastikmafia muss weg.“ Sagt: „Wir müssen zusammenhalten.“ Erklärt ihnen den Plan. Sie halten