Mord aus gutem Hause. Achim Kaul

Читать онлайн.
Название Mord aus gutem Hause
Автор произведения Achim Kaul
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753182087



Скачать книгу

am ehesten mit Ausschreitungen rechnete. Und weil dort die meisten Kameras und Reporterteams versammelt waren. Nur wenige seiner Männer patrouillierten an den Rändern des Demonstrationszuges durch die Annastraße. Als Melzick den Mann erreichte, kniete ein junger Polizeibeamter neben ihm. Er hatte den Helm abgesetzt und wendete sein schweißüberströmtes Gesicht ihr zu.

      »Weitergehen! Nicht stehenbleiben!«, rief er ihr entgegen. Melzick zückte ihre Dienstmarke.

      »Was ist mit ihm?« Wortlos deutete der Polizist auf zwei kleine, kreisrunde Löcher auf dem verschwitzten Superman-T-Shirt. Sie saßen genau da, wo die letzten zweiundvierzig Jahre bis vor wenigen Minuten ein Herz geschlagen hatte.

      Der tote Riese blickte aus erloschenen dunklen Augen verwundert in den blauen Sommerhimmel über Augsburg. Auf seiner Stirn klebten schweißfeuchte Haare. Seine schwarze Afrolook-Mähne wirkte wie eine Perücke. Sein schwarzer, ungepflegter Vollbart verstärkte die wilde Erscheinung. Melzick spürte immer noch die unbändige Energie, die bis vor wenigen Minuten in diesem Körper gelodert hatte. Sie hatte einen Moment lang den verrückten Eindruck, der Mann könnte urplötzlich mit einem Wutschrei hochfahren, sie an den Schultern packen und durchschütteln, weil sie nicht besser aufgepasst hatte.

      »Drei Schüsse«, dachte Melzick, »und ich habe keinen einzigen gehört.«

      »Wir müssen ihn hier wegschaffen«, rief der junge Polizist. Melzick schüttelte den Kopf.

      »Auf gar keinen Fall. Er darf nicht bewegt werden! Holen Sie Verstärkung! Wir müssen die Stelle absperren.« Er starrte sie an und rührte sich nicht.

      »Der Mann ist erschossen worden. Das hier ist Mord. Er bleibt liegen! Ist das klar? Und jetzt ruf endlich die Verstärkung!« Er nickte etwas verwirrt und griff nach seinem Sprechfunkgerät. Melzick zögerte kurz, dann griff sie dem toten Falk in die Hosentasche, um zu sehen, ob er einen Ausweis bei sich hatte. Außer einem flachen Kieselstein mit einem perfekt ausgeschnittenen Loch fand sie nichts. Vermutlich ein Talisman, dachte sie und überlegte, ob sie den Körper umdrehen sollte, um seine Gesäßtaschen zu untersuchen. Sie entschied sich jedoch anders. Sie wollte seine Lage nicht verändern. Es war immerhin möglich, dass sich daraus ableiten ließ, von wo die Schüsse abgefeuert wurden. Melzicks Blick ging hinüber zur anderen Seite der Annastraße. Zwischen all den Vorbeimarschierenden, die unvermindert energisch ihre Sprechchöre schmetterten, sah sie einen alten Mann auf dem Boden sitzen, neben sich einen Hund.

      »Hat es den etwa auch erwischt?«, dachte sie und fühlte ein Kribbeln im Nacken.

      Der Lärm der Demonstranten drang hoch in den ersten Stock des „Weißen Hasen“. Der Blick ging durch den riesigen Raum, in dem diffuses Licht den Eindruck vermittelte, es sei alles in Ordnung. Die Werkzeugtasche wog merkwürdigerweise schwerer. Aber das war Einbildung. Das wichtigste Ziel, und darauf kam es an, war erreicht. Er war beseitigt und würde nun vielleicht die Engel nerven. Auf Erden würde ihm niemand nachweinen. Also war alles in Ordnung. Nur dieser unselige Bettler. Warum hatte der sich auch im letzten Moment bewegen müssen? Das Risiko für weitere Schüsse war zu groß gewesen. Bei dieser großen Menschenmasse konnte es immer einen geben, der seinen Blick nach oben gleiten ließ. Sicherheit hatte absolute Priorität. Das Problem mit diesem Bettler musste anders gelöst werden. Diese junge Frau aus dem Esprit-Laden hatte ihm eine Schale Wasser für seinen Hund gebracht. Und sie hatte ihn am Morgen begrüßt. Sicher hatte er seinen Stammplatz vor diesem Laden. Das haben diese Bettler doch meistens. Möglicherweise wusste sie, wo er wohnte. Es war sicher nicht schwer, sie zum Reden zu bringen. Ja — das war sicher nicht schwer. Der Blick ging noch einmal durch den Raum. Es gab unzählige Spuren. Und keine einzige würde die Polizei zum Ziel führen. Es war Zeit, zu gehen. Den „Weißen Hasen“ unbemerkt zu verlassen, war ein Kinderspiel bei dem Tumult, der auf der Annastraße herrschte. Nur noch kurz den Bauzaun wieder zurechtrücken und alles war gut.

      7. Kapitel

      Melzick sah, wie sich der Alte zu seinem Hund hinunterbeugte. Sie atmete erleichtert auf und hörte im gleichen Moment einen markerschütternden Schrei. Zwei Schülerinnen, vielleicht vierzehn Jahre alt, mit Greta-Zöpfen in Rot und Schwarz und mit weit aufgerissenen Augen rannten direkt auf sie zu. Melzick breitete die Arme aus und stoppte sie.

      »Halt, halt, halt, Mädchen!« Die beiden sahen den jungen Bereitschaftspolizisten, der sein Sprechfunkgerät ans Ohr hielt. Melzick beachteten sie gar nicht.

      »Er ist getroffen! Sein Bein! Sie müssen kommen! Das Bein ist kaputt! Schnell! Schnell!«, schrien sie wild durcheinander und zerrten an der Uniform des Polizisten. Er schüttelte sie ab und drehte sich weg.

      »Ruhig, Mädels, ganz ruhig. Ich bin auch von der Polizei. Was ist passiert?« Endlich beachteten sie Melzick. Zum Glück hatten sie keinen Blick für die Leiche, vor der Melzick breitbeinig und mit verschränkten Armen stand. Melzicks Ton wirkte beruhigend auf die beiden. Die Rothaarige antwortete.

      »Mein Papa! Er liegt da vorn. Etwas ist mit seinem Bein. Er blutet ganz stark, es hört nicht auf. Und ich glaube, er ist bewusstlos.« Das schwarzhaarige Mädchen nickte heftig.

      »Den hat was getroffen. Ganz plötzlich. Ich war direkt daneben.«

      »Wo ist er?« Beide deuteten mit ausgestreckten Armen auf eine Stelle etwa sieben oder acht Meter rechts von dem alten Mann mit dem Hund.

      »Okay, mein Kollege hier geht mit euch rüber. Wir holen sofort einen Arzt. Wir helfen euch. Wir helfen deinem Vater, okay?« Beide nickten heftig. Melzick drehte sich zu dem jungen Bereitschaftspolizisten um, der sein Sprechfunkgerät einsteckte.

      »In zwei Minuten ist Verstärkung da«, sagte er. Melzick schaffte es, ein Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern.

      »Wie heißen Sie eigentlich?«

      »Griebl, wie der OB, nur mit e.«

      »Gut. Zu mir kann man Melzick sagen«, sagte Melzick, die keine Ahnung hatte, wie der Oberbürgermeister von Augsburg hieß. »Gehen Sie mit den zwei Mädchen mit. Irgendwo da drüben liegt der Vater von ihr hier. Höchstwahrscheinlich hat er einen Schuss abbekommen.« Griebl reagierte sofort, ohne unnötige Fragen zu stellen, wie Melzick erleichtert feststellte. »Guter Mann«, dachte sie. »Was geht heute bloß hier ab? Schießt da ein Irrer auf die Demonstranten? Zum Glück hat die Masse nichts davon mitbekommen. Aber wo hat er sich versteckt? Sicher irgendwo erhöht, um einen guten Überblick zu haben.« Melzick prüfte rasch die Möglichkeiten ringsum, entdeckte aber nichts Verdächtiges. Die Trommelgruppe war nun schon ein gutes Stück entfernt. Augenblicklich bewegte sich ein etwas ruhigerer Teil der Demonstration an ihr vorbei. Die Leute waren zwar gut mit Bannern und Plakaten bestückt, schienen aber den stillen Protest vorzuziehen. Sie waren aber auch aufmerksamer, was Melzick gar nicht recht war. Immer häufiger zog sie die Blicke auf sich. Irgendeine Decke oder ein Mantel, um den Körper des toten Mannes zu verbergen, wäre gut gewesen. Auch wenn ihn die meisten wohl für eine Schnapsleiche hielten. Sie sah den Klamottenladen, in dem Zacharias mit Jocelyn verschwunden war. Ihr Bruder kam heraus und entdeckte sie sofort. Eilig kam er heran. Er war kreidebleich im Gesicht.

      »Ist er …«, fragte er mit Blick auf den Mann namens Falk. Melzick nickte.

      »Wir müssen ihn irgendwie zudecken. Vielleicht …«

      »Ich hol was.« Er war schon auf dem Weg zurück zu dem Laden.

      »Und Jocelyn?«, rief Melzick ihm nach. Er antwortete nicht, sondern reckte nur den Daumen in die Höhe.

      »Nur ein Streifschuss«, dachte Melzick, »nichts Ernstes. Oder doch?« Was hier passierte war vielleicht ernster, als sie sich vorstellen konnte. Wieso hatte sie die Schüsse nicht gehört? Und was, wenn es noch mehr Schüsse gab? Es war auf die Schnelle nicht möglich, festzustellen, von wo geschossen worden war. Wie sollte man die Leute schützen? Wird das ein Amoklauf werden? Sie musste an Phils Worte denken: »Das wird viel mehr, das kann ich dir versprechen.« Dieser Falk war erschossen worden, Jocelyn war getroffen und der Vater des rothaarigen Mädchens. Die Wahrscheinlichkeit, dass über diese Demo in der Tagesschau berichtet werden würde, wuchs mit jedem weiteren Opfer. Was für ein zynischer Gedanke. Melzick