Mord aus gutem Hause. Achim Kaul

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Название Mord aus gutem Hause
Автор произведения Achim Kaul
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753182087



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dem sie das Transparent hochhielt. Melzick hatte beschlossen, gruppendynamisch immun zu bleiben und so wachsam wie möglich diesen ungewöhnlichen Marsch hinter sich zu bringen. Jocelyns Angst hatte sie in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Sie sah die Polizisten. Sie sah deren Nervosität. Sie hörte die Sprechchöre lauter werden. Sie spürte die rasenden Trommeln hinter sich und sie blickte in die Gesichter der Menschen ringsum. In diesem Moment wünschte sie, sie wäre zuhause geblieben und hätte Lucys Einladung angenommen.

      Carlo räumte die Holzschatulle, in der nur wenige Münzen lagen, zur Seite und rollte seinen Teppich zur Hälfte zurück. Sokrates winselte unruhig. Die Trommeln und die Schreie der Menschen waren nichts für seine empfindlichen Ohren. Carlo hatte beschlossen, den Platz nicht zu räumen. Er wusste, worum es bei der Demo ging. Mehrere Passanten dicht neben ihm hatten sich darüber unterhalten. Die meisten zeigten Unverständnis, Ärger, waren entsetzt und besorgt über die Auswirkungen auf die Wirtschaft, auf Augsburgs Ruf und witterten bürgerkriegsähnliche Zustände. Carlo wäre nie auf die Idee gekommen, für oder gegen etwas zu demonstrieren. Das kam ihm so sinnvoll vor, wie den Lech um Augsburg herumzuleiten oder den Rathausplatz zu überdachen. Aber er respektierte jeden, der sich für etwas einsetzte, der seine Meinung sagte und sich dafür auch beschimpfen ließ. Im Beschimpfenlassen war er Experte. Die Leute, die für das Klima kämpften, waren ihm sympathisch, vor allem wegen ihrer Naivität. Die Vorstellung, die Wirtschaft würde auf die Vernunft hören, wenn sie nur laut genug hinausposaunt wurde, belustigte ihn.

      »Es wird etwas eng werden, Sokrates«, brummte er. Sokrates knurrte zustimmend und rollte sich an der Mauer neben Carlo zusammen.

      »Bleibt nur, wo ihr seid«, murmelte die Stimme. »Bewegt euch nicht.« Dieser Bettler schaute schon wieder herüber. Aber das war jetzt gleichgültig. Er würde ein leichtes Ziel sein, sofern die Demonstranten nicht zu dicht hintereinander herliefen. Würden sie das tun? Nein, das war nicht zu erwarten. Solche Umzüge zogen sich erfahrungsgemäß auseinander. Da kommen ja schon die ersten. Diese albernen Gutmenschen und Wichtigtuer mit ihrer Mission. Er würde leicht zu erkennen sein. Er war ja nicht zu übersehen. Und höchstwahrscheinlich war er auch nicht zu überhören.

      Die Frau, die direkt vor Melzick auf der linken Seite des Demonstrationszuges lief und sich bisher ruhig verhalten hatte, fing plötzlich an zu schreien.

      »Hey Falk! Falk! Hier bin ich! Huhu, Falk! Hey Mann!« Melzick schätzte sie auf etwa vierzig. Die leuchtend blonden Haare waren auf einer Seite kurzgeschoren, auf der anderen schulterlang. Sie trug ein kleines, braunes Pappschild, auf dem mit blauer Acrylfarbe in unbeholfenen Blockbuchstaben „ALLE MACHT DER FREIEN ENERGIE“ gepinselt war. Der Mann, den sie auf sich aufmerksam machen wollte, war fast zwei Meter groß. Er war Melzick schon vorhin auf dem Königsplatz aufgefallen, weil er auf die einsetzenden Trommelschläge mit wilden Zuckungen seiner Arme und Beine reagiert hatte. Aber dann hatte sie ihn aus den Augen verloren. Er musste sich von weiter hinten nach vorne durchgedrängelt haben. Mit seiner schwarzen Afrolook-Frisur und dem schwarzen Vollbart war er alles andere als unauffällig. Abgesehen davon gebärdete er sich, als wäre er mit hunderttausend Volt geladen. Seine Stimme war rau und kräftig. Er gab die Parolen vor und alle Teilnehmer in seiner Hörweite antworteten im Chor. „HOCH MIT DEM KLIMASCHUTZ — RUNTER MIT DER KOHLE“ oder „AUF DIE BARRIKADEN — AUF DIE BARRIKADEN“ oder „WHAT DO WE WANT? — CLIMATE JUSTICE! — WHEN DO WE WANT IT? — NOW!!“ Wie ein Irrwisch zappelte er dabei mit seinen Armen und verscheuchte damit jeden in seiner unmittelbaren Nähe. Die blonde Frau versuchte es noch einmal.

      »Verdammt nochmal, Falk! Hörst du nicht? Falk! Falk!!« Ihre Stimme überschlug sich. Er reagierte nicht darauf. Er lief rechts außen und war nicht zu bremsen.

      »Der hört Sie nicht«, rief Melzick der Blonden zu. Sie drehte sich zu Melzick um.

      »Der will mich nicht hören, der will mich nicht sehen, der will überhaupt nichts mehr, dieser …« Ihr Schimpfwort ging im nächsten Sprechchor unter. Melzick zuckte mit den Schultern. Die Frau warf einen kurzen Blick auf Jocelyn und dann nach rechts.

      »Wo ist er denn plötzlich hin?« Melzick deutete nach vorn.

      »Scheint ein Drängler zu sein.« Sie waren jetzt auf der Höhe des Teeladens „Eilles“. Der schwarze, wilde Haarschopf war vier, fünf Reihen weiter vorn zu sehen. Er lief direkt auf den „Weißen Hasen“ zu. Die Trommelgruppe hinter Melzick schlug einen neuen Rhythmus an. Zacharias grinste zu seiner Schwester hinüber. Er legte den Arm auf Jocelyns Schulter, die zwischen ihnen ihre zaghaften Schritte machte.

      »Läuft doch alles prima!«, rief er in ihr Ohr, um die Djemben zu übertönen. Melzick hörte weiter vorn die unverkennbare Stimme des Mannes, der Falk genannt wurde. Seine Energie war unerschöpflich, als hätte er eine doppelte Dosis Aufputschmittel genommen. Der Demonstrationszug kam ins Stocken. Carlo hatte seine schwere Hand beruhigend auf Sokrates’ Nacken gelegt. Inmitten der unzähligen Menschen fielen ihm zwei besonders auf: Dieser riesige verrückte Mann mit der gewaltigen Stimme und ein paar Reihen weiter hinten eine junge Frau mit einem Turm aus roten Dreadlocks auf dem Kopf. Nie im Leben wäre er auf die Idee gekommen, dass es sich dabei um eine Polizistin handeln könnte. Er sah, wie der Mann wild mit den Armen um sich schlug.

      »WHAT DO WE WANT?«, schrie er

      »CLIMATE JUSTICE!«, antwortete ihm die Menge.

      »WHEN DO WE WANT IT?«

      »NOW!«

      Jetzt war die Sekunde gekommen. Den Mann ins Herz zu treffen, schien schwierig. Er zappelte herum wie ein Techno-Freak auf Ecstasy. Doch plötzlich hielt er inne, stand stocksteif im träge fließenden Strom der Demonstranten da, als hätte man dem unter Strom Stehenden den Stecker rausgezogen. Er stand da, das Gesicht dem „Weißen Hasen“ zugewandt, die Augen geschlossen. Seine breite Brust unter dem albernen T-Shirt eine Zielscheibe wie sie deutlicher nicht sein konnte. Es klackte zweimal kurz hintereinander. Der erste Schuss war bereits tödlich. Der Griff nach der zweiten Waffe. Es waren noch ein paar Treffer erforderlich. Opfer gab es reichlich zur Auswahl. Es klackte noch drei Mal. Ein Geräusch, wie es Kieselsteine machen, wenn man sie aneinanderschlägt.

      Die blonde Frau, die versucht hatte, den Mann auf sich aufmerksam zu machen, hatte es kurz davor aufgegeben, sich umgedreht und lief nun die Annastraße gegen den Strom zurück Richtung Königsplatz. Melzick sah diesen Mann plötzlich stillstehen, als wäre er zu Eis erstarrt. Dann sah sie ihn fallen. Jocelyn neben ihr schrie auf. Zacharias war im wilden Rhythmus der Trommelgruppe gefangen und begriff nicht, was geschah. Jocelyn sank zu Boden. Melzick sah das Blut an ihrem Bein. Jocelyn stöhnte vor Schmerzen und Angst, Tränen schossen aus ihren Augen. Sie hielt das verletzte Bein umklammert. Melzick ließ das Transparent fallen. Die nachrückenden Demonstranten versuchten, der am Boden kauernden jungen Frau mit dem vor Schmerz verzerrten Gesicht auszuweichen und trampelten dabei über die blaugrüne Erdkugel hinweg. „VEGAN FOR THE PLANET“ wurde mit staubigen Turnschuhabdrücken gestempelt.

      »Zack! Hilf mir!«, rief Melzick und war dabei, Jocelyn hoch zu helfen. Zacharias starrte entsetzt auf das Blut, das aus einer fünf Zentimeter langen Wunde heraussickerte.

      »Was ist denn los?«, schrie er fassungslos, »Jocelyn, was ist passiert? Was hast du?«

      »Quatsch nicht, hilf mir lieber! Heb sie unter den Achseln hoch. Wir müssen hier weg!« Melzicks Befehlston wirkte. Gemeinsam hievten sie Jocelyn hoch. Sie schrie auf, als sie das verletzte Bein belastete.

      »Da rüber, in den Laden rein!«, rief Melzick. »Schaffst du es allein? Jocelyn, stütz dich auf seine Schultern. Zack hilft dir. Ruf einen Notarzt. Es ist wahrscheinlich nur ein Streifschuss.«

      »Ein was?«, kreischte Zacharias, doch Melzick war schon in Richtung des nächsten Opfers unterwegs.

      »Ruf mehr Notärzte!«, schrie sie Zacharias über die Schulter hinweg zu. Die Sambatrommler hämmerten unvermindert laut und rasend schnell ihren mitreißenden Rhythmus, begleitet von unzähligen Trillerpfeifen. Die aufgeheizte Stimmung trieb die Menge an, einfach weiter zu marschieren. Nur wenige hatten Jocelyns Sturz überhaupt mitbekommen. Melzick drängelte sich zu dem Mann durch, der ein paar Meter weiter vorn auf dem Pflaster lag. Sie hatte eine böse Ahnung