Der Gott des Zwielichts. Joachim Kurtz

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Название Der Gott des Zwielichts
Автор произведения Joachim Kurtz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754187104



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wie er sie nach der endlos erscheinenden Zeit im Steinbruch nicht mehr zu träumen gewagt hätte. Dagegen folgte sein inneres Wesen, ob er es wollte oder nicht, einem durch beständige Wiederholung eingeübten Ritual, und wappnete sich wie all die vorausgegangenen Jahre um die gleiche Zeit gegen die erbarmungslose Härte, mit der die Kälte der bevorstehenden langen Nächte und kurzen, lichtarmen Tage ihn und seinesgleichen immer getroffen hatte. Das Ergebnis war ein Zustand tiefer Verwirrung, wo er doch eigentlich hätte dankbar sein sollen, nicht mehr und nicht weniger.

      Bis ihn eines Tages völlig unvorbereitet die Erkenntnis traf, daß es nicht anging. Pendari hatte das Rad für ihn weitergedreht, ja, und es würde auch weiterhin nicht stillstehen, weder für ihn noch für sonstwen. Das Glück war veränderlich wie der Mond: heute ein hell erleuchtetes Rund, dann eine dünne Sichel, und manchmal gar nicht zu sehen. Und es war, in der Tat, wie das Rad eines dahinrollenden Wagens, woran jede einzelne Speiche bald zu Boden wies, bald senkrecht nach oben gerichtet war. Aber was war er selbst, er, Hadhuin?

      Er mußte sich eingestehen, daß er es nicht wußte. Wenn aber das Glück einem Rad und sein eigenes Leben einem Wagen glich, dann wußte er immerhin, was er sein wollte, nämlich der Lenker. Pendari teilte Glück und Unglück aus, mit vollen Händen oder spärlich bemessen, nach ihrem eigenen Gutdünken, aber wenigstens wollte er selbst die Richtung bestimmen, die das Gefährt seines Daseins nahm, selbst wenn er es direkt in den Abgrund steuerte. Diesen bereits unwiderruflich gefaßten Entschluß trug er im Sinn, als er das Heiligtum zu einem letzten Gebet betrat. Das war zwei Tage vor seiner Flucht gewesen, und der Winter regierte bereits mit eiserner Faust.

      Er kam von der einen Tagesmarsch entfernt liegenden Burg eines Fürsten zurück, wo er Stoffe und Tücher abgeliefert und die vergangene Nacht verbracht hatte. Unterwegs hatte er am Wegrand eine flügellahme Taube gefangen. Es dämmerte bereits, als er das Lastpferd am äußersten Baum des Hains festband. Das Heiligtum selbst war eine Art steinerner Tisch, der als Altar diente. Er wurde von einer mächtigen, ausladenden Esche überragt und bestand aus vier unbehauenen, nur durch die Witterung geformten Teilen, von denen drei senkrecht in der Erde verankert waren. Unter der wuchtigen Abdeckung lag eine Klinge aus Feuerstein, deren Gebrauch für jedermann bestimmt war, der Pendari ein Blutopfer darbringen wollte. Die allgemeine Ehrfurcht vor der Göttin war so groß, daß nicht die allergeringste Gefahr eines Diebstahls aus dem ihr geheiligten Bezirk bestand. Hadhuin nahm das Messer von dem kleineren, abgeflachten Stein, wo es seinen Platz zwischen den drei Stützpfeilern hatte. Trat man von hinten an den Altar heran, konnte man mühelos eine weitere, flach auf dem Boden liegende Felsplatte ersteigen, um ihn zu überblicken. Hadhuin stellte sich mit dem Rücken zum Stamm der Esche, in einer Hand das Opfermesser haltend, mit der anderen seine Gabe darbietend, wobei er beide Arme weit von sich streckte. Er schloß die Augen und bemühte sich, alle seine Sinne auf die Anrufung der Göttin zu richten. In der zum festen Griff geschlossenen Linken spürte er das zum Zerspringen schlagende Herz des Vogels, der regungslos seines Schicksals harrte. Die Arme wurden ihm schon fast schwer, als er leise, um nicht vor dem schroffen Widerhall seiner eigenen Stimme zu erschrecken, eine Beschwörung murmelte.

      Ein schneller, entschlossen ausgeführter Schnitt durchtrennte die Kehle des Täubchens, das ein letztes Mal den Schnabel zu einer lautlosen Klage öffnete und sich aus dem Griff seiner breiten Hand winden wollte. Hadhuin hielt es kopfüber, so daß sich sein warmes Blut auf den Stein ergoß, der schon mit dem Blut so vieler anderer Opfertiere durchtränkt war, und wer weiß, ob nicht auch mit dem von Menschen. Nach wenigen Augenblicken war alles vorbei. Hadhuin legte seine Gabe auf den Altar und ließ die letzten Blutstropfen von der Klinge abrinnen, ehe er sie wieder an ihrem Platz hinterlegte und sich anschickte, den Hain zu verlassen. Wenn er an einem der darauffolgenden Tage wiederkommen würde, wäre das Opfer wahrscheinlich verschwunden, und das wäre ein überaus gutes Zeichen. Es würde nämlich bedeuten, daß Pendari seine Gabe in Gestalt eines Fuchses oder Marders entgegengenommen hätte.

      Als er in das Haus des Händlers in der Stadt zurückgekehrt war und das Pferd dem Stallburschen übergeben hatte, ließ der Hausherr ihn zu sich rufen, um ihn über den Hergang seiner kurzen Reise zu befragen. Während Hadhuin die verlangte Rechenschaft ablegte und gerade von einem Disput mit dem Kämmerer der Fürstin berichtete, der die Qualität eines nicht von ihm selbst ausgesuchten Tuchs bemängelte, fragte sein Herr ihn unvermittelt, ob da etwa Blut auf seinen Händen zu sehen sei. Er rückte die flackernde Lampe auf dem Tisch näher an ihn heran und forderte ihn auf, sie in ihren Schein zu halten.

      Hadhuin, dem im ersten Moment der Atem stockte, tat wie ihm geheißen. Sofort fühlte er kalte Schweißperlen aus seinen Achselhöhlen treten, verlor aber keinen Moment an Haltung. Während er sich insgeheim noch einen Narren schimpfte, weil er es versäumt hatte, das Taubenblut von seinen Händen zu waschen, schoß es ihm durch den Kopf, daß er nichts verbotenes getan hatte. Jedem, wirklich jedem, waren Kulthandlungen zu Ehren Pendaris erlaubt, und dies zu jeder sich bietenden Gelegenheit. Nicht dem Geringsten unter den Sklaven und Leibeigenen war es versagt, die Hüterin des Glücks an einem ihr geweihten Ort anzurufen und ihren Beistand mit einem Blutopfer zu erwirken. Also berichtete Hadhuin mit fester Stimme, zu welchem Zweck er sich auf dem Heimweg kurz aufgehalten hatte, und bis hierher entsprach sein Bericht voll und ganz der Wahrheit. Schwierigkeiten bereitete es dagegen zu erklären, wofür er den Beistand der Göttin hatte erwirken wollen. Denn ein Blutopfer war unweigerlich ein Bittopfer. Zu seiner grenzenlosen Erleichterung gab sein Herr sich aber schon zufrieden und winkte lächelnd ab. Er wußte von seinen häufigen Besuchen in Pendaris Hain und sah sie mit Wohlgefallen, denn die gläubigsten seiner Diener waren in der Regel auch die zuverlässigsten und folgsamsten.

      Hadhuin achtete seinen Herrn, der ihn von einem grimmigen Schicksal befreit und nicht ein einziges Mal schlecht behandelt hatte. Und er hätte ihn geliebt, wäre da nicht sein unbändiger Freiheitsdrang gewesen, sein Verlangen nach Unabhängigkeit und Anerkennung, wovor jeder Sinn für Loyalität verblaßte. Er ging nicht einmal so weit sich zu fragen, was sein Herr gerade in ihm gesehen haben mochte, als er beschloß ihn in seinen Dienst zu kaufen – ihn, der zur Verrichtung einer der denkbar rohesten Arbeiten abbeordert war! Selbstbespiegelung war Eitelkeit, und Eitelkeit war der Trost der Schwächlinge. Hadhuin zog es vor, sich dem blinden Glauben an eine fremde, ungreifbare Macht zu überlassen, deren höchst willkürliche und nie absehbare Gunst er sich durch Opfergaben zu erkaufen suchte, die aber sonst keinen Treuebeweis von ihm verlangte.

      Nur so besaß er die Kaltblütigkeit, sich in der Morgenfrühe des übernächsten Tages, lange vor Sonnenaufgang, unbemerkt vom restlichen Gesinde wie auch den sonstigen Hausbewohnern, von seinem Lager zu schleichen und eilendst das Nötigste zum Überleben zusammenzusuchen. Dazu gehörte zunächst ein Messer, und daß Hadhuin einen Dolch besaß, hatte er einem weiteren Glücksfall zu verdanken, den er als Wink Pendaris verstand. Er hatte ihn nämlich kürzlich von einem Fremden im Tausch gegen vier Goldringe erhandelt, die er zufällig hinter einem losen Mauerstein an einer der Außenwände des Hauses entdeckte hatte. Offensichtlich wurden sie dort von jemand anderem gehortet. Von wem, und zu welchem Zweck, war Hadhuin unbekannt. Allein, daß sie auf diese Art versteckt waren, deutete jedoch auf eine verbotene Absicht hin, denn wer immer aus dem Gesinde etwas in rechtmäßiger Weise besaß, konnte es bei seinem Herrn in sichere Verwahrung geben. Auch war ungewiß, wie lange die Ringe dort schon gelegen hatten, und womöglich war der einstige Besitzer schon gestorben. Hadhuin hatte jedenfalls keinerlei Skrupel, sich des kleinen Schatzes zu bemächtigen, war aber darauf bedacht, ihn schnellstmöglich wieder loszuwerden, indem er etwas anderes dafür erwarb. Eines Tages hörte er von einem geheimnisvollem Fremden, der dringend Gold zu brauchen schien und dafür verschiedene Besitztümer veräußerte. Als er den Mann ausfindig gemacht hatte, bot dieser ihm ohne weitere Umschweife den Dolch für die vier Ringe. Das war gewagt, denn auf den Verkauf von Waffen an einen Sklaven stand die Todesstrafe. Hadhuin war von dem Anblick der stählernen, makellosen Klinge, die den blauen Himmel und das weiße Sonnenlicht so grell widerspiegelte, daß ihm die Augen schmerzten, sofort gebannt. Er brauchte nicht lange zu überlegen. Im Nu war der Handel abgeschlossen, und seither war ihm der Fremde nicht mehr begegnet.

      Daß er nun als allererstes den Dolch aus seinem Versteck holte und sich damit gürtete, geschah wie von selbst. So fühlte er sich sicherer, sollte etwas unvorhergesehenes geschehen. Der Mond leuchtete ihm den Weg zur Vorratskammer. Hadhuin deckte sich mit der größtmöglichen