Название | Yorick - Ein Mensch in Schwierigkeiten |
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Автор произведения | Philip Hautmann |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738045956 |
Der alte Schwede Lasse Benissen war in außergewöhnlichem Maße Sozialtalent, da er so dick, gutmütig und leutselig war. Es war erstaunlich, mit wie vielen Menschen Lasse Benissen bekannt war oder fortwährend Bekanntschaft schloss. Yoricks wissenschaftlichen Schätzungen zufolge kannte er gut 0,2 Prozent aller auf der Straße ihm entgegenkommenden Personen, weshalb es im Übrigen mühsam war, sich mit Lasse Benissen gemeinsam durch die Innenstadt zu bewegen, noch dazu, wenn man ein konkretes örtliches oder zeitliches Ziel vor Augen hatte, das zu erreichen man bestrebt war. Es entsprach nämlich Lasse Benissens Art, sämtliche ihm irgendwie bekannten Leute, welche unversehens seinen Weg kreuzen sollten, nicht allein, wie es unter normalen Menschen üblich war, bloß zu grüßen, sondern in ein gut fünfminütiges Gespräch zu verwickeln, welches sich um so Themen drehte wie ich gehe dort und dort hin, und wohin gehen Sie? oder wir kommen von dort und dort her und von wo kommen Sie? oder wir beide haben uns ja schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen! oder wir beide sehen uns ja schon wieder! oder wir sehen uns ja heute schon zum dritten Mal! um obligatorischerweise mit dem Vorschlag zu schließen, dass man unbedingt wieder einmal miteinander telefonieren müsse, um sich wieder einmal zu sehen, da es völlig klar sei und notwendig, dass man sich wieder einmal sehen müsse, daher man also auf jeden Fall Telefonnummern austauschen müsse (für den Fall, dass sie einander nicht gegenseitig vorlagen), um sich etwas auszumachen, um sich wieder einmal zu sehen, er, Lasse Benissen, freue sich schon ungemein darauf. (Es handelte sich also um einen sogenannten Smalltalk. Yorick dachte dabei, etwas dümmlich daneben stehend, immer an Heideggers Begriff vom Gerede.) So ging das vor sich, und es konnte gut sein, dass Lasse Benissen fünf Meter weiter wieder auf irgendeinen Bekannten traf, das heißt, das Ganze sich also wiederholte. Ging man durch die Innenstadt, allein, den Innenstadtlärm wahrnehmend, in seinen einzelnen Sensationen natürlich bestenfalls halbbewusst, da man in der Regel ja ein konkretes Ziel vor Augen hatte, welchem die eigene innere Konzentration galt, welche wiederum die Konzentration auf das Äußere für sich vereinnahmte und in sich hinein ablenkte, dahin also führend, dass man für die äußeren Sensationen eine allein halbartige Aufmerksamkeit aufzubieten hatte, so passierte es hin und wieder (eigentlich ziemlich oft), dass man angesichts zufällig im Vorbeilaufen aufgeschnappter akustischer Eindrücke der Art gestern auf dem Nachhauseweg um halb Vier Uhr früh habe sich noch etwas Bedeutsames ereignet und überhaupt müsse man unbedingt Telefonnummern austauschen, plötzlich darauf aufmerksam werden konnte, dass man in seiner Geistesgegenwart gerade an Lasse Benissen vorbeigegangen war, der wieder einmal jemand getroffen hatte. Als es Yorick zufällig einmal in die Glasscherbengegend draußen am Stadtrand verschlagen hatte, an einen jener seltsamen Übergangsorte und Schwellen zwischen Zentrum und Peripherie, an einen jener auratisch-nichtauratischen Steppenbereiche zwischen Barbarei und Zivilisation, an einen jener seltsamen Räume, dessen Atmosphäre durch den Zustand der ihr selbst eigenen, wie die Anglophonen sagen würden, suspended animation ausgefüllt und bestimmt war, oder, in so genannter postmodern-philosophischer Diktion gesprochen, an einen sogenannten Nicht-Ort, und sich in diesem Zusammenhang gerade an einem Gedächtniseindruck einer Szene aus einem uralten Donald-Duck-Comic, den ihm seine Mutter als Kind aus ihrem eigenen Besitz aus ihrer eigenen Kindheit zum Schmökern gegeben hatte, abarbeitete, nämlich wie die drei Brüder Tick, Trick und Track von ihrem Onkel Donald, der sie in dem konkreten Zusammenhang der Geschichte auszutricksen gedachte, als Botenjungen draußen auf den, wie es in der Geschichte hieß, Müllweg im Armenviertel am Rande von Entenhausen geschickt wurden, konkret zur Adresse Müllweg Nummer 238, wobei sie, am Müllweg angekommen, feststellen mussten, dass es am Müllweg aufgrund seiner geographischen und sozialen Exzentrizität gar keine Hausnummern mehr gab, fand er sich in seinen Abschweifungen jählings unterbrochen, indem er es plötzlich auf einmal wieder hören konnte, und, als er um die Ecke des stillgelegten Schlachthofes gebogen war, auch sehen: dass man unbedingt wieder einmal telefonieren müsse, um sich unbedingt wieder einmal zu sehen; und auch Lasse Benissen, der dort mit einem anderen gestanden war, wurde gleichzeitig seiner, das heißt Yoricks, ansichtig, was sofort natürlich eine ausführliche Begrüßung nach sich zog. Dämmrig war es bereits, und es war an der Zeit sich nach Hause zu begeben, da eine solche Gegend gegen Ende der Abenddämmerung nichts mehr zu bieten hatte, sogar gefährlich werden konnte, zumindest aber denjenigen gegenüber, die sich in ihr aufhielten, nichts als kalte Indifferenz aufzubringen imstande war, als Yorick den einsamen Feldweg entlangging, im November, weit draußen vor dem Stadtrand, in der Einöde, von der aus es nur mehr wenige, zwei, vielleicht drei Kilometer waren bis zum Hochmoor, und mit am Rücken verschränkten Armen, den Blick auf den Weg in eineinhalb Metern Entfernung vor sich gerichtet, ihn fixierend, schritt, aus Gründen des Zusammenhangs ein klassisches Gedicht im Kopf, welches einsetzt mit den Worten
Ich ging durch Einöde, durch sandig-dürre Heide
Und klagte der Natur die Schmerzen, die ich leide;
da fand er sich schon wieder jäh aus seiner melancholischen Selbstbetrachtung gerissen, indem er es plötzlich wieder hören konnte und, als er aufblickte, auch sehen: der Genuss des Würstchens gestern am Imbissstand habe noch so einige Blähungen nach sich gezogen, man sollte sich vielleicht wieder einmal treffen, um wieder einmal ausführlich miteinander plaudern zu können, am besten, man tausche gleich Telefonnummern aus. Lasse Benissen war auch da, gut fünfzehn Meter weiter vorn auf dem Feldweg in der Dämmerung im November, zwei, vielleicht drei Kilometer entfernt vom Hochmoor, und schon wieder einmal hatte er jemanden getroffen.
Lasse Benissen tat nicht viel, sondern lebte von jähen kreativen Explosionen von in der Regel recht sonderbarer Natur. Einmal zum Beispiel marschierte er, Schwarzafrikaner, die er kennengelernt hatte, an einer Leine nach sich ziehend zum Marktplatz, und positionierte sich dort mit seinen schwarzafrikanischen Freunden sowie einem selbst angefertigten Schild mit der Aufschrift Verkaufe Neger. Eine Zeitlang funktionierte das ganz gut, und die Erlöse aus den Verkäufen hatten sie sich geteilt, freilich gleich darauf auch wieder verzecht, bis, und das natürlich schon nach kurzer Zeit, die ganze Truppe wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses ins städtische Gefängnis geworfen wurde, und daher letztendlich immerhin eine Geschichte zu erzählen hatte. Ein anderes Mal organisierte er für eine Aufführung von Mozarts Requiem im städtischen Dom während der Weihnachtsfeiertage ein ganzes Orchester samt dazugehörigem Chor, die Ersten Städtischen Philharmoniker, das Orchester