Veanis. Ingrid Mayer A.

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Название Veanis
Автор произведения Ingrid Mayer A.
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783750211254



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hinwegzuklettern, als jemand rief: „Willkommen in Veanis!“

      Lina zuckte zusammen. Wer hatte da gesprochen? Außer ihr war doch niemand hier. Hatte etwa einer der Steine - aber nein, das erschien ihr zu abwegig.

      „Du wirst dich schnell hier zurecht finden, auch wenn wir dir wohl einen gehörigen Schrecken eingejagt haben“, erklang eine weitere Stimme. Lina glaubte, an einem Stein für einen kurzen Moment eine Öffnung erkannt zu haben, die fast wie ein Mund ausgesehen hatte. Es folgte Gelächter. Die Steine lachten sie aus!

      „Wer ist da? Wer seid ihr?“, fragte Lina und blickte suchend umher.

      „Wir sind nur Steine, die seit Ewigkeiten hier herumliegen“, schallte ihr die Antwort vom Boden aus entgegen. Lina suchte nach dem Sprecher. Ein grauer Stein mit glattgeschliffener Oberfläche lag vor ihren Beinen.

      „Brauchst keine Angst zu haben, Kleines. Mein Name ist übrigens Meerfried. Man nennt mich so, weil ich die meiste Zeit meines Lebens auf dem Grund des Meeres zugebracht habe. Irgendwann bin ich an Land gespült worden, und ein Mensch hat mich hierher mitgenommen.“

      „Ja, und er kann klasse Geschichten erzählen - von Fischen und Muscheln und Seeigeln!“, mischte sich ein weiterer, tiefschwarzer Stein begeistert ein. „Wir Steine lieben solche Geschichten. Ach so, wie unhöflich, ich sollte mich wohl auch vorstellen. Ich bin Magman und stamme aus einem Vulkan. Dort war es so heiß, dass ich früher flüssig war. Erst als der Vulkan ausbrach, bin ich zu Stein erstarrt.“

      Lina staunte. Nie hätte sie gedacht, dass Steine so viel erlebten. Und sie konnten tatsächlich sprechen. Wo war sie hier nur gelandet? Sie fühlte sich verpflichtet, ebenfalls ihren Namen zu nennen.

      „Ich, äh, bin Lina“, brachte sie stammelnd hervor.

      Nun ergriff ein weiterer Stein das Wort, den sie zuerst gar nicht erkennen konnte.

      „Aber ich habe am meisten von diesem Land gesehen. Alle sagen Lüftchen zu mir, weil ich schon so weit herumgekommen bin wie der Wind. Beinahe ganz Veanis habe ich bereist, meist in Menschentaschen oder einmal auch in der verfilzten Mähne eines Pferdes. Ach, ich bin einfach süchtig nach Reisen. Gerade eben hat mich wieder das Fernweh gepackt. Sag’, willst du mich als Reiseführer mitnehmen? Ich habe darin große Erfahrung.“

      Verdutzt sah sich Lina um, bis sie den gefleckten Stein sah, der so klein war, dass er ohne Schwierigkeiten in ihre Handfläche passte, als sie ihn aufhob, um ihn sich genauer anzusehen. Ein flacher, ovaler Kiesel, dessen glatte Oberfläche rote Sprenkel zierten.

      „Ja, nimm' ihn mit!“, forderten die anderen sie begeistert auf. „Lüftchen wird dir eine erstklassige Führung bieten! Und dann hat er wieder jede Menge zu erzählen!“

      „Aber ich muss wieder nach Hause“, wandte Lina ein.

      „Das ist aber schade. Kannst du nicht wenigstens ein paar Tage hier bleiben? Ich würde dir am liebsten so Vieles zeigen. Du musst dir alles ansehen, es wird dir gefallen! Bitte, bleib hier!“, bettelte der kleine Stein. Er fühlte sich geschmeidig und warm in Linas Hand an.

      „Nein, das geht auf keinen Fall. Aber vielleicht kannst du mir sagen, wie ich wieder zurück komme. Meine Eltern machen sich bestimmt schon Sorgen.“

      „Hm.“ Der kleine Stein schien nachzudenken. „Den Weg, den du gekommen bist, kannst du jedenfalls nicht mehr zurück gehen. Du wirst die Wände selbst gesehen haben, die sich hinter dir schlossen.“

      „Aber warum nicht?“, fragte Lina verzweifelt. „Wie soll sonst jemand anderer hierher finden, wenn sich die Wände nicht mehr öffnen?“

      Lüftchen seufzte.

      „Es ist so“, setzte er zu einer Erklärung an. „Niemand darf ungeprüft unsere Welt betreten. Nicht, dass wir keine Besucher wollten, ganz im Gegenteil – wir freuen uns über jeden, der die Vielfalt von Veanis kennenlernen will. Aber nicht alle sind dafür geeignet. Unsere Gäste müssen genügend Fantasie besitzen, um sich das Unmögliche vorstellen zu können. Sonst werden sie all die Besonderheiten, die diese Gegend hier auszeichnet, nicht ertragen können. Sie kämen ihnen ansonsten so sonderbar und unvorstellbar vor, dass sie selbst verrückt würden. Das wollen wir natürlich nicht, und so wird jeder Besucher vorher getestet, ob er auch über ausreichend Fantasie verfügt. Diese Aufgabe übernehmen die denkenden Wände.“

      „Denkende Wände? Aber Wände können doch nicht denken!“, warf Lina ein.

      „Denkst du! In deiner Welt ist das vielleicht so, aber hier ist alles anders. Die Wände öffnen sich nur für jemand, den sie für geeignet halten. Jemand anderen lassen sie nicht hinein. Und dich haben sie anscheinend für fantasiebegabt genug gehalten.“

      Bedächtig nickte Lina. Das leuchtete ihr ein. Sie musste an die vielen Geschichten denken, die daheim in ihrer Schublade lagen. Was da alles für Gestalten vorkamen und für merkwürdige Begebenheiten! Ohne Fantasie wäre es wohl nicht möglich gewesen, so etwas niederzuschreiben.

      Ihre Gedanken wanderten zu ihrem Bruder. Wenn die denkenden Wände sich wirklich nur für Leute mit Fantasie öffneten, würde es Fabian schwer haben, seiner Schwester zu folgen. Doch auf welchem Weg sollte sie nun zurückkommen? Würden die Wände sie nicht wieder zurücklassen? Diese Frage stellte sie Lüftchen. Der plapperte munter darauf los: „Nein, wenn sie einmal geschlossen sind, bleiben sie das auch. Der Weg nach Veanis verläuft so jedes Mal etwas anders. Aber du könntest mit dem Schildvogel zurückfliegen, das wäre die einfachste Möglichkeit.“

      Lina nickte betreten, auch wenn ihr nicht ganz klar war, was es mit diesem Schildvogel auf sich hatte. Immerhin schien die Lage nicht vollkommen hoffnungslos zu sein.

      „Dann versuche ich halt, mit diesem komischen Vogel zurückzukommen. Wird er mich mitnehmen?“

      „Ehrlich gesagt fliegt er an dieser Stelle so hoch, dass er dich wahrscheinlich von oben kaum erkennen kann. Falls er überhaupt heute hier vorbeikommt.“

      „Was soll ich jetzt tun?“, fragte Lina verzweifelt.

      „Ich mache dir einen Vorschlag: Du nimmst mich mit und ich weise dir den Weg. Dabei kann ich dir einen kleinen Teil von Veanis vorstellen. Es wird dir gefallen. Am Ende unseres Ausflugs werden wir uns zum Startpunkt des Schildvogels begeben. Und mach’ dir keine Sorgen wegen deiner Eltern. Die werden gar nichts von deinem Ausflug mitbekommen, denn während du all dies hier erlebst, vergehen in deiner Welt nur Sekunden, das verspreche ich dir!“

      Skeptisch musterte Lina den Stein in ihrer Hand, doch es blieb ihr vermutlich keine andere Wahl.

      „Also schön“, willigte sie widerstrebend ein.

      „Ein guter Entschluss!“, freute sich Lüftchen. „Siehst du den spitzen Felsen, der dort hinten aufragt?“

      Lina nickte.

      „In diese Richtung gehen wir erst einmal.“

      Seufzend setzte sich Lina in Bewegung.

      „Bis bald, meine Freunde!“, rief Lüftchen den anderen Steinen zu. „Bis bald, Lüftchen! Und bring uns eine schöne Geschichte mit“, antworteten diese. Wäre es ihnen möglich gewesen, hätten sie ihm jetzt wohl gerne nachgewinkt.

      „Wir machen einen kleinen Rundgang“, informierte ihr Reiseführer sie geschäftig. „Du befindest dich momentan am Fuße der Steinberge. Wir marschieren jetzt zum Gelächterwald, und danach besichtigen wir noch unsere schöne Hauptstadt.“

      „Aha“, entgegnete Lina nur, die sich überhaupt nicht vorstellen konnte, was sie nun erwartete. „Ich will eigentlich nur heim“, jammerte sie.

      „Ach was, du wirst begeistert sein!“

      Unsicher stieg Lina über größere und kleinere Steine, die ihren Weg säumten und wünschte sich dabei nichts mehr, als so bald wie möglich nach Hause zurückkehren zu dürfen.

      Lüftchen wies ihr den Weg, der zunächst über das steinige Feld führte. Doch bald änderte sich die Landschaft, und es mischten sich kleine Sträucher unter