Veanis. Ingrid Mayer A.

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Название Veanis
Автор произведения Ingrid Mayer A.
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783750211254



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blickte Fabian zu Boden und schüttelte seinen Kopf.

      „Also ich gehe da jetzt hinein“, teilte ihm Lina mit. „Wenn du dich nicht traust, bleibst du eben draußen. Ich erzähl’ dir dann, wie es da drin ausschaut.“

      Lina ging einen Schritt auf die Tür zu und fühlte sich mit einem Mal unsicher. Wenn nun dahinter ein Ungeheuer lauerte? Nun ja, wahrscheinlich gab es keine Ungeheuer, außer jenen, die sie sich für ihre Geschichten ausdachte, versuchte sie sich gut zuzureden. Aber es könnte schließlich auch ein Verbrecher dort drin wohnen, der sich hier vor der Polizei versteckte. Irgend jemand musste ihnen schließlich aufgemacht haben. Doch wenn sie jetzt zögerte, könnte sich die Tür womöglich wieder schließen, und sie würden niemals erfahren, was sich hinter ihr verbarg.

      Trotz aller Bedenken nahm Lina ihrem Bruder die Taschenlampe aus der Hand und schlüpfte kurzentschlossen durch den Spalt.

      Dahinter lag eine kleiner Hohlraum, in dem völlige Dunkelheit herrschte. Zögernd tastete sich Lina ein paar Schritte vorwärts und leuchtete den Raum aus.

      „Hallo? Ist da jemand?“

      Niemand antwortete. Sie schätzte, dass die Höhle etwa vier Meter lang und ebenso breit war. Nun konnte sie auch sehen, dass sich außer ihr wirklich niemand hier drin aufhielt.

      „Du kannst reinkommen!“, rief sie nach draußen. „Hier ist keiner.“

      Fabian wollte die Tür noch weiter aufdrücken, um bequem hindurchtreten zu können. Doch als er an den Griff fasste, schnellte sie mit einer Wucht zurück, die ihn fast umriss. Der Eingang war wieder geschlossen. Und seine Schwester eingesperrt. Linas Hilfeschreie drangen nur gedämpft an sein Ohr. Hilflos rüttelte Fabian an dem Griff. Doch die Wand, die ihn nun von Lina trennte, bewegte sich keinen Millimeter, selbst als er mit seinen Beinen zutrat. Nichts half. Sie saß in der Falle.

      Lina versuchte, ihre Angst zu unterdrücken. Sie durfte jetzt nicht in Panik verfallen. Die Tür, die sich hinter Lina geschlossen hatte, wies an der Innenseite keinerlei Griff auf, sondern war ganz glatt. Anfangs hatte sie versucht, mit aller Kraft dagegen zu drücken. Doch schließlich wurde ihr bewusst, dass sie damit nur ihre Kräfte vergeudete.

      „Fabian, hol Hilfe! Allein komm’ ich hier nicht raus!“ schrie sie schließlich laut.

      Fabian brüllte irgendetwas zurück, das sie nicht verstand. Lina wusste nicht, ob er sie überhaupt gehört hatte. Von der anderen Seite der Wand rief Fabian erneut etwas Unverständliches. Dann wurde es ruhig. Auch wenn sie ihm normalerweise nicht viel zutraute hoffte Lina, dass er tatsächlich losgelaufen war, um jemanden zu holen, der sie befreite.

      Plötzlich fühlte sich Lina einsam. Sie ließ sich an der Wand entlang zu Boden sinken und wollte am liebsten weinen. Bald würde jemand die Tür aufbrechen, versuchte sie sich zu beruhigen.

      Im Schein der Taschenlampe besah sich Lina ihr Gefängnis näher. Die Felswände glänzten nass, denn an vielen Stellen tropfte Wasser herab. Fast wollte sie die Lampe schon wieder ausmachen, um die Batterie zu schonen, als sie den Riss im Gestein entdeckte. Lina sprang auf und lief ein paar Schritte, bis sie vor der gegenüberliegenden Wand stand.

      Der Spalt im Felsen war gerade so breit, dass sie hindurchschlüpfen konnte. Lina zögerte nicht lange und zwängte sich hindurch. Von hier aus führte ein niedriger Gang tiefer in die Höhle hinein. Geduckt tastete sie sich vorwärts. Der Weg beschrieb eine leichte Kurve, sodass sie nicht weit sehen konnte. Lina vermutete eine Sackgasse, doch sie täuschte sich. Hinter der Biegung stieß sie auf einen weiteren Höhlenweg, der nach links abzweigte. Dort hatte jemand an die steinerne Wand mit Farbe einen Pfeil gemalt. Sollte sie ihm folgen?

      Doch Lina entschloss sich dazu, lieber umzukehren, bevor sie sich verlief. Fabian musste jetzt bald zurück sein. Bestimmt hatte er jemanden mitgebracht, der das Tor aufstemmen konnte.

      Aber auf ihr erneutes Rufen antwortete niemand. Es dauerte zu lange. So viel Zeit konnte Fabian doch gar nicht benötigen, um Hilfe zu organisieren.

      Sie wartete noch eine ganze Weile, doch nichts passierte.

      „Bevor ich noch länger unnütz hier herumstehe, probiere ich lieber den anderen Gang aus“, sagte sie laut und erschrak über ihre eigene Stimme, die ungewohnt hallte.

      Lina holte tief Luft und ging los. An der Abzweigung mit dem Pfeil blieb sie kurz stehen, bevor sie dorthin abbog. Kaum hatte sie den Gang betreten, rumpelte es hinter ihr. Sie drehte sich blitzschnell um, doch bevor Lina reagieren konnte, hatte sich eine steinerne Wand aus dem Fels hervorgeschoben, die ihr nun den Weg zurück versperrte. Lina warf sich dagegen und versuchte verzweifelt, den Durchgang wieder zu öffnen, doch es gelang ihr nicht. Sie fühlte Panik in sich aufsteigen. Ohne nachzudenken lief Lina los, immer tiefer in die Gänge hinein, die bald höher und breiter wurden. Sie stieß auf einen weiteren Pfeil, dem sie folgte. Würde sich wieder eine Wand hinter ihr schließen? Sicherheitshalber bereitete sich Lina darauf vor, kurz vorher in den Gang zurückzuspringen. Doch diesmal geschah nichts. Sie stürmte weiter, immer den Pfeilen entlang.

      Der ganze Berg, so schien es, war von einem Höhlenlabyrinth durchzogen. Lina fielen Geschichten ein, in denen sich Leute in solch verschachtelten Gängen verirrt hatten. Ob sie jemals wieder herausfände? Ihre ganze Hoffnung lag bei diesen merkwürdigen Markierungen an der Wand. Irgendeine Bedeutung hatten die Pfeile bestimmt, oder wollte jemand sie damit in die Irre führen?

      Nach einer Weile tauchte in der Ferne ein kleiner Lichtpunkt auf. Lina schrie vor Freude auf. Ein Ausgang! Sie begann zu rennen.

      Ein ungewöhnlicher Reisebegleiter

      Als Lina ins Freie trat, musste sie zuerst blinzeln, denn das Licht grellte schmerzhaft in ihren Augen, die noch die Düsternis der Höhlen gewohnt waren. Lina wurde so sehr geblendet, dass sie zunächst überhaupt nichts erkennen konnte. Doch die Sonne wärmte angenehm ihre Haut, und es roch endlich wieder nach frischer Luft.

      Als sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, konnte Lina mehr sehen: Vor ihr lag ein steiler Abhang, auf dem unzählige Steine in verschiedensten Größen verstreut lagen. Sie legte die Hand über ihre Augen, um in die Ferne zu blicken. Eine Art Geröllwüste erstreckte sich am Fuße des Berges. Weit hinten am Horizont konnte sie einen schmalen grünen Streifen erkennen. Ein Wald, hätte Lina vermutet, wären da nicht die merkwürdigen bunten Flecken gewesen, die sich in das Grün mischten, obwohl es erst August war.

      Als Lina genug von der Aussicht hatte, trat sie einen Schritt vor. Im nächsten Moment wurde ihr klar, dass sie einen Fehler begangen hatte. Die kleinen Steine unter ihren Füßen rutschten mit einem Ruck nach unten weg. Lina taumelte. Vergeblich versuchte sie sich an der Felswand abzustützen, doch es war zu spät. Sie stürzte. Die Taschenlampe fiel ihr aus der Hand. Es gelang ihr nicht, sich wieder aufzurappeln, denn der steinige Untergrund gab unter ihr nach und ließ sie so immer wieder straucheln. Als befände sich unterhalb des Berges ein riesiger Staubsauger, der alles zu sich hinab sog, löste sich eine Lawine aus Geröll und riss Lina mit sich. Sie spürte die scharfen Kanten der Steine und den brennenden Schmerz von Schürfwunden an ihren Händen. Felsbrocken holperten um sie herum, sodass Lina fürchtete, die größeren davon könnten sie plattwalzen.

      Sie glitt bis zum Ende des Abhangs und blieb dort liegen. Es verging eine Weile, bis sie in der Lage war aufzustehen. Ihre Glieder schmerzten und die Hände bluteten, doch sie hatte sich anscheinend keine schwereren Verletzungen zugezogen. Vermutlich würden ihre Beine bald mit blauen Flecken übersäht sein.

      Lina blickte sich um. Eine felsige Gegend ohne Bäume, Wiesen oder auch nur irgendetwas Grünes. Über allem lag eine Ruhe, die nicht vermuten ließ, dass nur eine Minute zuvor der halbe Berg zu Tal gestürzt war.

      Über ihr am Abhang polterte es. War die Gefahr immer noch nicht vorbei? Sie drehte sich um und sah, wie einige größere Steine direkt auf sie zurollten. Lina rannte los. Doch die Steine waren schnell gleichauf und holperten eine Weile neben ihr her, bis sie schließlich das Mädchen überholten. Als Lina um Atem ringend stehen blieb, stoppten auch die Felsbrocken.