Veanis. Ingrid Mayer A.

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Название Veanis
Автор произведения Ingrid Mayer A.
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783750211254



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sich auf das stetige Rauschen.

      Dass der Sonntagsausflug mit der Familie an diesen Ort geführt hatte, freute Lina sehr, denn nun hatte sie Gelegenheit, einen echten Wasserfall zu erleben. Die neuen Eindrücke wollte sie gleich in ihre Geschichte einfließen lassen.

      Als Lina ihre Augen wieder öffnete, sah sie oben, auf dem höchsten Punkt des Berges, zwei Gestalten stehen, die zu ihr hinabwinkten. Lina winkte zurück. Ihre Eltern hatten den großen Felsen über dessen Rückwand bestiegen. Nun befanden sie sich dort, von wo aus sich das Wasser in die Tiefe stürzte. Linas Blick wanderte wieder nach unten, denn da winkte ihr ebenfalls jemand zu. Direkt vor dem Wasserfall stand Fabian und gab ihr mit einem Zeichen zu verstehen, dass er vorhatte, durch die Wasserwand zu gehen. Anscheinend wollte er tatsächlich nachsehen, ob dahinter ein Schatz versteckt war.

      ‚Dieser Idiot’, dachte Lina. Zum Glück sahen die Eltern nicht, wie Fabian kurz darauf hinter den Wassermassen verschwand.

      * * *

      Das Wasser umfing Fabian mit einer Wucht, mit der er nicht gerechnet hatte. Ein breiter, gleichmäßiger Schwall ergoss sich über ihn und presste ihn mit seiner überraschenden Schwere beinahe zu Boden. Er bekam keine Luft mehr und torkelte zurück. Doch das Wasser war überall, drückte ihm in Nase, Mund und Ohren. Es fühlte sich an, als sei er von flüssigen Mauern umschlossen. Für einen Moment schien die Zeit still zu stehen. Noch ein Schritt, weit konnte es nicht mehr sein! Mühsam kämpfte sich Fabian vorwärts.

      Das Prasseln auf seinem Rücken hörte unvermittelt auf. Es hatte nur wenige Sekunden gedauert, bis Fabian wieder ins Trockene trat, doch ihm war es wie eine Ewigkeit vorgekommen.

      Er wischte das Wasser aus seinen Augen und sah sich um. Vor ihm ragte ein Felsblock auf. Der Stein ähnelte einer in den Fels gehauenen Treppe, die etwa zwei Meter nach oben führte und mit Moos bewachsen war.

      „Lina, hier kann man hinaufklettern!“, brüllte Fabian gegen das Tosen des Wasserfalls an, obwohl er nicht glaubte, dass sie ihn hören konnte. Prüfend betrachtete er das nasse Gestein. Ziemlich glitschig, fand er, doch die Neugier war stärker als seine Angst auszurutschen. Seine Hände griffen nach kleinen Einkerbungen, sein Fuß suchte sich einen festen Stand auf dem ersten Absatz. Als er das andere Bein nachziehen wollte, rutschte er ab. Fabian versuchte es erneut, und nun gelang es ihm, Halt zu finden. Fest krallte er seine Zehen ins Moos und hangelte sich Stück für Stück höher.

      Als Fabian über die letzte Stufe stieg, erfüllte ihn das mit Stolz. Er wünschte, Lina hätte ihm dabei zugesehen, wie zügig er den Aufstieg bewältigt hatte.

      Der blanke Fels unter seinen Füßen fühlte sich ungemütlich kalt an, so dass Fabian beschloss, sich nur kurz umzusehen und diesen Ort möglichst bald wieder zu verlassen. Vor ihm lag ein Hohlraum, der gerade so hoch war, dass ein Viertklässler aufrecht darin stehen konnte. Wie weit er ins Innere reichte, konnte Fabian nicht genau erkennen, doch er vermutete, dass es sich nur um eine kleine Einbuchtung im Fels handelte. Als er die Höhle betrat, begann sein Herz lauter zu klopfen. Das ärgerte ihn ein wenig, denn es gab eigentlich überhaupt keinen Grund, sich zu fürchten. Was sollte hier schon sein? Vielleicht ein paar Fledermäuse, doch vor denen hatte er keine Angst. Langsam tastete sich Fabian voran. Mit jedem seiner Schritte schien es um ihn herum finsterer zu werden. Nur ein paar einzelne Sonnenstrahlen drangen gelegentlich durch das herabströmende Wasser und ließen helle Flecken auf dem Gestein tanzen.

      Es konnten keine zehn Meter gewesen sein, die Fabian zurückgelegt hatte, als er plötzlich vor einer Felswand stand. Das war es also. Eine Sackgasse. Kein finsteres Geheimnis, das sich in dem Gang verbarg, keine sensationelle Entdeckung. Nicht, dass er damit gerechnet hätte. Aber insgeheim war Fabian schon etwas enttäuscht.

      Als er gerade umkehren und sich auf den Rückweg begeben wollte, fiel erneut ein wenig Sonnenlicht in die Höhle herein. Etwas blitzte kurz auf und warf das einfallende Licht zurück, so dass Fabian geblendet wurde. Er blinzelte und sah verdutzt zu der Stelle auf der Wand. Etwa in der Höhe seiner Brust glitzerte ein silberner Gegenstand. Er streckte die Hand aus, um das merkwürdige Ding zu berühren. Irgendwie kam es ihm bekannt vor. Es dauerte einen Moment, bis ihm bewusst wurde, was seine Finger hier umschlossen hielten. Hastig zuckte Fabian zurück und starrte auf das Gebilde im Fels.

      Das war kein Schatz, sondern etwas ganz anderes – etwas, das eigentlich nicht hierher gehörte.

      * * *

      „Liinnaa!“

      Lina sah von ihrem Schreibblock auf und blickte zum See hinüber, wo Fabian durch das Wasser pflügte und ihr zurief: „Komm’ schnell, das musst du dir ansehen!“

      Er stieg ans Ufer und lief nervös vor ihr auf und ab, während er von seiner Entdeckung berichtete.

      „Jetzt komm’ doch!“, drängte er und packte ihren rechten Arm, um sie daran hochzureißen. „Wie kannst du hier noch ruhig rumsitzen?“

      Doch Lina ließ sich die ganze Sache erst einmal durch den Kopf gehen. Die Eltern waren bestimmt noch mindestens eine halbe Stunde unterwegs. Es blieb also noch genügend Zeit. Sie kramte in der Tasche ihrer Eltern herum und fand dort den Autoschlüssel.

      „Warte hier!“, befahl sie ihrem kleinen Bruder und stand auf. „Ich komme sofort wieder.“

      „Wo willst du hin?“

      Doch sie ließ Fabian einfach stehen und ging den kleinen Pfad entlang, der vom See wegführte. Hinter einer Biegung parkte das Auto.

      Im Handschuhfach fand sie eine Taschenlampe und im Kofferraum lag eine Plastiktüte. Sie schaltete die Lampe kurz an und stellte zufrieden fest, dass sie funktionierte.

      Zurück am Ufer packte sie vor dem erstaunten Fabian ihr Sommerkleidchen in die Tüte und steckte noch ihre Sandalen, sowie Fabians Badschlappen und sein T-Shirt hinein.

      „Für alle Fälle“, erklärte sie ihrem Bruder. „In einer Höhle ist es schließlich kalt und dunkel.“

      Fabian nickte beeindruckt. Seine Schwester dachte wirklich an alles.

      So gerüstet, wateten die Kinder auf den Wasserfall zu. Als wolle er ihr beweisen, dass er keine Angst hatte, schritt Fabian voran und zog Lina an der Hand hinter sich her, die ihm ohne Zögern durch die herabströmenden Wassermassen folgte.

      „Du kannst die Augen wieder aufmachen“, schrie Fabian gegen das Getöse an. Lina klappte die Augen auf und rieb sich das Wasser aus dem Gesicht. Ihre langen Haare, die eigentlich die Farbe von Vollmilchschokolade besaßen, wirkten nun in nassem Zustand fast schwarz.

      Sie kletterten die Steinstufen hinauf und zogen dort oben zuerst ihre Schuhe und Kleidung an, die in der Tüte trocken geblieben waren. Auch die Taschenlampe funktionierte noch. Lina leuchtete damit die Höhle aus und schritt beherzt voran.

      Als die Kinder vor der Felsenwand am Ende des Ganges standen, nahm Fabian seiner Schwester die Lampe aus der Hand und ließ den Lichtkegel kreisen, bis er auf etwas Silbernes fiel.

      „Hier ist es“, rief Fabian aufgeregt.

      Lina legte mutig ihre Hand auf den Gegenstand. Eine Kugel aus Metall.

      „Ich glaube du hast Recht“, sagte sie. „Es könnte sich wirklich um einen Türknauf handeln.“

      Doch so sehr sie auch an dem Gebilde zerrte, drückte und drehte, es ließ sich nicht bewegen.

      „Wahrscheinlich hat jemand abgeschlossen.“ Lina war enttäuscht. Sie würden hier kein spannendes Abenteuer erleben. Es gab nichts zu sehen.

      „Na, das war ja ein Reinfall“, gab Fabian zu.

      Sie wollte sich schon umwenden, um den Heimweg anzutreten, als die Wand einen quietschenden Laut von sich gab. Fabian und Lina sahen sich erschrocken an. Mit einem Rumpeln bewegten sich die Felsen und schwangen auf wie eine Tür, ganz von allein, und nur soweit, dass einer von ihnen hindurchschlüpfen hätte können.

      „Schnell, wir hauen ab“, wisperte Fabian. „Hier spukt’s!“

      Lina