Der Springer. Helmut H. Schulz

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Название Der Springer
Автор произведения Helmut H. Schulz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738009279



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Gesicht wird von dem dunklen Kinnbart; beherrscht, die Augen haben die Farbe braunen Waldbodens. Das Haar, glatt, seitlich gescheitelt, ist schwarz. Alle Sachen, die Nowacki trägt, wirken immer, als seien sie gerade gekauft. Selbst der Schutzhelm, den er draußen wie alle aufsetzt, scheint eben aus der Presse gekommen zu sein.

      «Warst du mal bei unserer Mutter?», fragt Ani.

      «Nein», sagt Gnievotta «sie will anbauen, schreibt sie.»

      «Red es ihr aus», sagt Ani, «auf dich hört sie manchmal.»

      Ani ist vierzig, aber sie wirkt jünger als Katja. Ihr straff zurückgekämmtes Haar endet als baumelnder Rossschwanz. Ihre Bewegungen haben was von der behänden Leichtigkeit junger Mädchen. Außer zwei kleinen Perlen in den Ohrläppchen trägt sie keinen Schmuck.

      «Es ist doch nur ein Sprung bis Altefähr», sagt sie.

      «Vielleicht mal in der Woche», sagt Gnievotta. Er müsse heute noch zurück. Den Blick, den er von Katja auffängt, sieht auch Nowacki. Es ist eine seiner sympathischen Eigenschaften, Unausgesprochenes zu verstehen. Er sagt, vielleicht gebe es bald ein paar Ruhetage. Katja nickt und gibt sich zufrieden. Es ist ein alter Streitpunkt. Trennung bedeutet für Katja Verzicht.

      Dann spricht Gnievotta noch mal ausführlich von der Arbeit. Mit ganz leeren Händen will er nicht zurückfahren. Er erläutert die Schwierigkeiten und sagt, es sei ein Unterschied, ob man am Schreibtisch sitze und Pläne mache oder ob man draußen liege und solch schönen Plänen Gestalt geben müsse, mit Ausrüstungen, die den Anforderungen nicht mehr genügen. Die Geologen, habe er den Eindruck, wüssten besser in den Dolomiten Bescheid als hier.

      Der Eindruck sei falsch, die Geologen wüssten über Erdschichten recht gut Bescheid, antwortet Nowacki trocken, und deshalb werde überhaupt der ganze kostspielige Aufwand getrieben, nämlich um Bescheid zu wissen. Die großen Entdeckungen stünden noch aus, aber sie würden gemacht werden, heute oder in zehn Jahren. Alle bedeutenden Öllagerstätten der Welt wären in den letzten vierzig Jahren gefunden worden.

      Gnievotta schüttelt den Kopf. Es ist seine elfte Tiefbohrung, gefunden wurde nichts. Nowackis Glauben an ein Wunder kann er nicht teilen, aber der Stolz auf einen sauberen Kern aus vier- oder fünftausend Metern Tiefe, mit dem der Geologe was anfangen kann, ist ihm nicht fremd.

      Was die Frage der Ausrüstungen beträfe, er, Nowacki, sehe es so: Neue Anlagen seien mit einem Schlage natürlich nicht zu beschaffen, aber es gebe genügend Leute, die nicht auf den Kopf gefallen wären. Koschinski zum Beispiel, der wäre mal ein großer Erfinder gewesen, und Lawretzki, auch der, soweit Nowacki sich der beiden erinnere. Man müsse aus den Anlagen eben herausholen, was irgend möglich, wahrscheinlich sei viel mehr drin, als Gnievotta annehme. Betriebsblindheit wäre nur ein anderes Wort für moralischen Verschleiß.

      Sie lassen das Thema fallen, es ist unergiebig. Am Abend fährt Gnievotta ab.

      Das Gewittertief bewegte sich nur langsam in Nordsüdrichtung. Möglicherweise löste es sich auf, und ein Hoch entstand. Jedenfalls brachte der Sonntag zunehmend Schwüle in die Stadt, die Sonne schien am Himmel zu zerfließen. So gut wie keinen Schatten warf ihr Licht.

      Der junge Bodo ordnete Schulsachen. Zu dem Gespräch mit Gnievotta war es nicht gekommen, abgesehen von der Rangelei gestern früh. Nach dem Essen trieb sich Bodo in den überhitzten Straßen herum, ungestört beobachtend. Die Stadt war voll von Gnievottas, schien dem jungen Bodo, dauernd begegnete man ihnen. Sie glichen einander, in allen denkbaren Verkleidungen traten sie auf, jung oder alt, der Ausdruck ihrer Gesichter kennzeichnete sie. Die Welt gehört uns, den Gnievottas, das gaben sie deutlich zu erkennen. Hüte oder Mützen im Nacken, auch barhäuptig, gingen die Gnievottas ihre ruhigen Straßen, Frauen oder Mädchen an Händen haltend, denn sie lieben Frauen ganz allgemein. Kinder liefen vor ihnen her, wurden ermahnt; gerufen; Kinder sind ein Teil ihres moralischen Besitzes.

      Überall fügten sich die Gnievottas mühelos ein, so schien es dem jungen Bodo, sie sprachen mit Taxifahrern im Ton von Taxifahrern, mit Postfrauen im Ton von Postfrauen, redeten wildfremde Menschen an, die sie nie wieder treffen würden und die ihnen im Grunde gleichgültig sein konnten. Oft drängte es sie zu sagen, wir sind der und der, unser Leben ist eine Kette von Erfolgen und Misserfolgen. Sie brauchten den Beifall derjenigen, die ihnen ähnlich. Immer suchten und fanden sie scheinbar Kontakt, passten sich an, stellten sich ein.

      Ihre Arbeit war ein eigenes Kapitel. Sie hetzten vom halben Erfolg zur ganzen Niederlage, rappelten sich auf, fingen neu an, Opfer einer Welt, die sie selber schufen, ohne die sie zurückgeworfen würden in alte Zwänge.

      Aber stimmte das alles, war Gnievotta so oder anders? Der junge Bodo entsann sich Gnievottas als Autofahrer. Der Vater liebte es, flüssig zu schalten, Fahren als Geschicklichkeitsspiel. Die Spur zu wechseln, sich noch irgendwie durchzuschlängeln, das liebte er. Die er behindert hatte, antworteten mit empörtem Hupen. Das kümmerte ihn wenig. Jetzt und wahrscheinlich immer glaubte er an seine Funktion, glaubte zu steuern, und fuhr doch eingezwängt in Ströme, deren Lauf geregelt; dieses Schild, jene Wegkreuzung bezeichneten die Grenzen der Gnievottas.

      Wie lebt er, dachte der junge Bodo, eintönig, ohne Zukunft, wenigstens ohne besondere Zukunft. Jeder Tag gleicht dem vorangegangen. Er kann nicht ausbrechen. Was er leistet, ist belanglos, nicht beschrieben, und es ist vielleicht überhaupt unbeschreibbar.

      Oder Gnievotta las Zeitung, so wie er Zeitung liest, gründlich, Satz für Satz. Über den oberen Rand des Blattes lugte sein graues Stichelhaar hervor, darunter war das Gesicht Gnievottas. Die Pupillen hatten fast die gleiche Farbe wie die Augäpfel, ein blasses, kaltes Weiß, ungemein hell. Ihr Blick hatte manchmal eine erstaunliche Kraft, eine lauernde, versteckte Brutalität. Meist war der Blick offen und klar. Ein Abzug auf falsch gewähltem Fotopapier müsste Gnievotta mit leeren Augenhöhlen zeigen und zwei nadelscharfen Punkten, die sich in Wirklichkeit rasch veränderten, größer oder kleiner wurden. Diese Leere, war das der wahre Gnievotta? Über der Nasenwurzel standen zwei senkrechte Falten, von dichten Brauen fast berührt. Starke Falten liefen von der Nase bis in die Mundwinkel.

      Gnievotta auf Katjas Maschine schreibend, die nie richtig funktionierte, die stets hängte oder klemmte, deren Farbband immer ein blasses Schriftbild lieferte. Also musste Gnievotta das Farbband wechseln, die Maschine reinigen, sich darüber ärgern, dass irgendein Kamel die Schreibmaschine geölt hatte, musste Typenhebel richten. Dann schrieb er, Wort für Wort, tippte stöhnend mit beiden Mittelfingern an einem Bericht. In diesen Fällen war er nicht ansprechbar; eine Störung brachte ihn in Rage. Seine ganze Haltung drückte Anstrengung aus, der gekrümmte Rücken, die hochgezogenen Schultern; dunkles büschliges Haar sah vorn aus dem offenen Hemd heraus. Ein Stier, der Spitzen klöppelt, ist verhältnismäßig selten. Zu Katja sagte er: «Deren Sorgen da oben möchte ich haben.» Und Katja spielte auch ihre Rolle in diesem Spiel. «Wie bei uns», sagte sie, «Papierkrieg, kenne ich, einer arbeitet, Drei gucken zu.» Gnievotta lachte über diese an nichts und niemand gerichteten Floskeln. Das lag ihm. Er lachte mit weit offenem Rachen, zwei Reihen starker gelber Zähne waren zu sehen, die Wangen hohl, die Lippen rissig. Das könnte auf eine verborgene Krankheit hinweisen, aber Gnievotta war kerngesund. Ruhige, traumlose Nächte verbrachte er, auf dem Rücken schlafend, die großen Hände auf der Brust, sein Kinn sank herab, Schleimfäden sickerten aus den Mundwinkeln, er schluckte im Schlaf. So wie er schlief, so erwachte er auch, ein Ruck ging durch seinen Körper. Gnievotta streckte sich, gähnte und stand sofort auf, mürrisch, übel gelaunt.

      Es heißt, von einem Buch gehe eine große Anziehungskraft aus. Niemand, heißt es, könne lange vor einem aufgeschlagenen Buch sitzen, ohne zumindest darin zu blättern, wenn schon nicht zu lesen. Bei Gnievotta war es anders. Auch von Arbeitsgeräten geht eine große Anziehungskraft aus. Eine Maschine, die er noch nicht kannte, war für ihn wie ein Buch, das er noch nicht gelesen hatte. Ständig reparierte er Haushaltsgeräte, nörgelte über seiner Meinung nach ungeschickte Konstruktionen, verbesserte, baute um, stemmte Löcher in Wände, mörtelte, gipste, zog elektrische Leitungen, tapezierte, strich an. Telefonierte er mit Nowacki, so war seine Stimme anders als gewöhnlich. Zustimmende Bemerkungen streute er ein: «Vollkommen richtig» oder «Darum solltest du dich mal kümmern», empört, verständnisvoll, eben anpassungsfähig. Mit Nowacki telefonierte