Dieser eine Brief. Nicole Beisel

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Название Dieser eine Brief
Автор произведения Nicole Beisel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847678977



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verstehen. Auch ich habe ab und zu solche Momente in denen ich denke, nun gönne ich mir etwas Schönes. Warum hat ihr Tag denn so stressig angefangen?“ Nadine fühlte sich auf seltsame Weise ertappt. Sie konnte ihm doch schlecht sagen, dass sie vor lauter Träumen vergessen hatte, sich den Wecker zu stellen und somit verschlafen hatte. „Ach, wir hatten Probleme mit einem unserer Lieferanten.“ Sie fühlte sich recht unwohl, Raphael anlügen zu müssen. Aber Nadine fiel nichts Besseres ein. Und so ganz ungelogen war das ja auch nicht. Immerhin war der Lieferant verärgert gewesen.

      „Solche Tage gibt es öfter mal. Ich hole die meisten meiner Waren selbst in Frankreich ab, das erspart mir Ärger mit den Lieferanten. Aber keine Sorge, mein Tag heute hat auch nicht besser angefangen. Ich habe nämlich verschlafen. Aus irgendeinem Grund habe ich gestern Abend nicht mehr daran gedacht, mir den Wecker zu stellen.“ Nadine traute ihren Ohren kaum. Ihm war das Gleiche passiert, wie ihr. Mit dem Unterschied, dass Raphael ehrlich zu ihr gewesen war. Nadine hingegen hatte ihm verschwiegen, wie ihr Tag wirklich begonnen hatte. Da es ihr recht unsinnig und auch irgendwie kindisch vorkam, ihm im Nachhinein doch die ganze Wahrheit zu sagen, verschwieg sie ihm die Gemeinsamkeit und fragte sich still, ob das ein Wink des Schicksals oder einfach nur Zufall war. Jeder kann doch mal verschlafen, oder nicht?

      „Oh, nun ja, das passiert schon mal. Da denkt man nicht dran, sich den Wecker zu stellen, und zack – ist es passiert.“

      Ein wenig verlegen versuchte Nadine, ein halbwegs vernünftiges Lächeln aufzusetzen. Raphael schien nichts von ihrem Gefühlschaos zu bemerken. So viele Dinge gingen Nadine nun durch den Kopf. Dass sie beide verschlafen hatten, dass er wohl regelmäßig in Frankreich war… „Das kommt nun davon, wenn man müde und noch dazu mit den Gedanken nicht ganz bei der Sache ist.“ Nadine fragte sich, was er damit wohl meinen mochte. Aber bevor sie ihre Gedankengänge fortsetzen konnte, hielt er ihr die Tafel Schokolade vor die Nase, die er kurz zuvor aus dem Kühlschrank geholt hatte. „Oh, Dankeschön. Was macht das?“ Raphael winkte ab. „Ich schenke sie Ihnen. Genießen Sie einen ruhigen Abend. Das werde ich nachher auch tun. Wobei ich zartbitter bevorzuge.“

      Nadine schien nicht ganz zu verstehen. „Na, Zartbitter-Schokolade. Nougat ist eher weniger mein Geschmack.“ Nadine wusste nicht genau, wo ihr der Kopf stand. „Ach so, ja, natürlich. Ich werde mich nun auch auf den Heimweg machen. Vielen Dank für die Schokolade.“

      Raphael befürchtete, dass der Kontakt einfach abbricht oder dass wieder viel Zeit verstreichen würde, bis sie sich wiedersehen würden. Allerdings wollte er auch nicht allzu aufdringlich sein und sie nach der Telefonnummer fragen. Was konnte er bloß tun, damit er sie bald wiedersehen konnte?

      „Vielleicht bekommen Sie ja in der Mittagspause mal ein wenig Hunger. Ich biete auch belegte Brötchen und Sandwiches an. Wenn Sie also noch ein wenig mehr Frankreich schmecken möchten, Sie sind hier bei mir ein gern gesehener Gast.“ Viel konnte er damit wohl nicht erreichen, aber einen Versuch war es wert. Etwas Anderes war ihm nicht eingefallen.

      „Oh, das ist ja toll. Hört sich gut an. Ich werde darauf zurückkommen!“ Nadine würde den Laden mit Sicherheit in den nächsten Tagen öfter besuchen kommen. Nicht nur wegen der Sandwiches…

      Sie lächelte ihn an und reichte ihm zum Abschied die Hand. Sie kämpfte gegen die Gänsehaut an, die sie von Kopf bis Fuß zu ergreifen schien. „Ich freue mich darauf, Sie wiederzusehen.“ Damit war er ehrlich gewesen und hoffte, dass Nadine ihr Wort hielt.

      Fröhlich und verwundert zugleich lief Nadine zurück an ihr Auto. Die Schokolade auf dem Beifahrersitz, machte sie sich auf den Heimweg. Zu Hause angekommen, nahm sie eine warme Mahlzeit zu sich und schaute sich im Internet die Hotels an, die Tanja ihr vorgeschlagen hatte. So ganz konnte sich Nadine noch nicht entscheiden, aber man musste auch nichts übers Knie brechen. Sie legte sich in die warme Badewanne und machte es sich anschließend mit der Schokolade bewaffnet auf der Couch gemütlich. Das Fernsehprogramm ließ zu wünschen übrig und so beschloss sie, sich nach langem mal wieder etwas klassische Musik zu gönnen. Zu den Klängen von Chopin und dem feinen süßen Geschmack ließ sie ihren Gedanken freien Lauf. Raphael würde ihr sicher auch einiges über Frankreich erzählen können. Das wäre doch die Idee?! Sie würde ihn bitten, ihr etwas über Frankreich zu erzählen. Vielleicht freute er sich sogar über ihr reges Interesse. Außerdem hatten sie beide somit ein neutrales Thema, über das sie sich unterhalten könnten, ohne dass sie in Verlegenheit kommen konnte. Früher hatte sie kaum einen Gedanken an dieses Land verschwendet. Wie schnell Frankreich doch zu einem wichtigen Thema in ihrem Leben geworden war…

      Nadine wunderte sich darüber, dass Kai sich noch nicht gemeldet hatte, um sie über den gestrigen Abend auszufragen. Sie nahm an, dass dieser Anruf spätestens am nächsten Tag erfolgen würde. Nur würde sie Kai nicht sonderlich viel erzählen. Sie wollte sich keine allzu großen Hoffnungen machen. Schon viel zu oft wurde Nadine enttäuscht und die Angst vor einer erneuten Enttäuschung war einfach noch zu groß, obwohl sie bei Raphael ein seltsam gutes Gefühl hatte. Immerhin schien er Wert darauf zu legen, sie möglichst bald wiederzusehen.

      Um einen weiteren stressigen Tag zu vermeiden, ging sie ins Schlafzimmer, stellte sich den Wecker und legte sich hin. So entspannt, wie sie nun war, würde sie sicher etwas Schönes träumen. Sie würde träumen von Frankreich, vom Eiffelturm und von Raphael. Sie würde träumen, wie sie beide gemeinsam durch Paris schlendern, Arm in Arm, wie sie vor dem Eiffelturm standen und sich küssten… Nadine konnte sich nichts mehr vormachen: Sie war eindeutig in Raphael verliebt. Aber was, wenn er nicht das selbe für sie empfinden konnte? Wenn sie sich wieder zu viele Hoffnungen machte? Wenn er einfach nur nett zu ihr war, ohne weitere Hintergedanken oder ernste Gefühle für sie zu haben? Nadine wollte jetzt aber keine Angst haben. Die Angst hatte Zeit bis morgen oder übermorgen oder… Na ja. Nun war es jedenfalls Zeit zu schlafen und zu träumen. Träume, die ihr niemand nehmen kann und die sie versuchen würde, mit aller Kraft in die Wirklichkeit umzusetzen.

       3. Kapitel

      Nur widerwillig erwachte Nadine am nachfolgenden Morgen aus ihren Träumen. Das Klingeln des Weckers hatte sie auf den Boden der Realität zurückgeholt. Nadine stieg auf und ging ins Bad um anschließend eine Tasse Kaffee zu trinken, bevor sie zur Arbeit musste. Eine neue Kundin hatte sich angekündigt, die noch nach dem richtigen Brautkleid suchte. Nadine hatte in Erinnerung, dass der Name der Frau ebenfalls französisch war aber sie wusste nicht mehr, wie der Name genau lautete. Da Tanja jedoch alles fein säuberlich im Terminkalender notiert hatte, konnte Nadine schnell nachschauen, um die Kundin persönlich ansprechen zu können.

      Nadine machte sich auf den Weg zur Haltestelle und wartete auf die Bahn, die sie ins Geschäft bringen sollte. Tanja begrüßte sie wie an jedem Morgen freundlich mit einem fröhlichen Lächeln im Gesicht. Sie ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen und schien nie wirklich müde zu sein. Auf direktem Wege lief Nadine zum Verkaufstresen und suchte im Kalender nach dem Namen der Dame, die in wenigen Minuten hier eintreffen würde. Cécile Beissac. Irgendwie kam ihr der Name bekannt vor, aber sie wusste nicht genau, zu wem er gehören sollte.

      Nadine schaute auf, als eine hübsche junge Frau mit perfekter Figur und langen, dunklen Haaren auf sie zulief. Sie stellte sich vor und sagte, dass sie einen Termin habe. Nadine kümmerte sich intensiv um Cécile. Der französische Akzent war kaum zu erkennen, während sie Nadine ihre Wünsche und Vorstellungen darlegte. Gemeinsam suchten sie verschiedene Modelle aus, die Cécile ca. eine halbe Stunde später eins nach dem anderen anprobierte. Schließlich hatte sie sich für einen recht klassischen Zweiteiler mit perlenbesticktem Oberteil entschieden. Auch Schleier, Schmuck, Unterwäsche und Schuhe wurden ausgesucht und in die Bestellung mit aufgenommen. Cécile schien bislang mit dem Service, den Nadine ihr darbot, sehr zufrieden zu sein. Nadine fragte Cécile, ob denn der Bräutigam eventuell ebenfalls noch nach einem passenden Anzug suchte. Cécile setzte sie davon in Kenntnis, dass der Bräutigam bereits ausgestattet war, allerdings würde ihr Bruder, der ebenfalls der Trauzeuge ihres Verlobten war, noch auf der Suche nach einem schicken Anzug sein. Cécile würde ihrem Bruder raten, mal bei Nadine vorbei zu schauen. Vielleicht würde er ja tatsächlich fündig. Die beiden Frauen vereinbarten einen Termin zur weiteren Anprobe für Mitte Juni. Bis dahin sollte das Kleid in der