Corona & Amore. Susanne Tammena

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Название Corona & Amore
Автор произведения Susanne Tammena
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753150741



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lagen auf der anderen Seite, lichtdurchflutete, freundliche Räume, mit Fenstern zum ruhigeren Hof. Einer davon, den die Vormieter als Elternschlafzimmer genutzt hatten, war recht groß und Chiara wie selbstverständlich als der Älteren zugefallen, als Anna und sie die Wohnung bezogen hatten. Anna bekam dafür die zwei kleineren Räume, die vom Architekten ursprünglich wohl als Kinderzimmer geplant gewesen waren und in denen jeweils kaum ein Bett, ein Schrank und ein Schreibtisch Platz fanden. Schon bevor Anna Marit im letzten Sommer das eine dieser Zimmerchen abgetreten hatte, waren es seltsam leblose Räume gewesen. Anna hatte ihr Hab und Gut auf beide verteilt gehabt, ohne mehr als ihr Bett darin zu nutzen. Sie lebte in der Küche und auf dem alten Ledersofa, das den Mittelpunkt ihres gemeinschaftlichen Wohnzimmers bildete, während Chiara sich gern und häufig in ihre eigenen vier Wände zurückzog. Als Marit einzog, hatte Anna all ihre Möbel in das linke ihrer Zimmerchen gequetscht, und Marit baute ein Bett und einen Schrank, die sie in Eile gebraucht gekauft hatte, in dem rechten auf. Doch genau wie Anna hielt sich auch Marit lieber im Wohnzimmer und in der Küche auf, obwohl hier erst am Nachmittag das erste Sonnenlicht einfiel. Dafür ließen sie oft die Türen zu ihren Zimmern offen stehen, um das Licht von dort bis in die Tiefen des Wohnzimmers vordringen zu lassen, ein Umstand der regelmäßig zu Diskussionen führte, weil Chiara in ihrer Ordnungsliebe die Türen wieder schloss. Häufig war deshalb am Stand der Türen abzulesen, ob Chiara sich im Hause befand oder nicht, und obwohl sie sich ins Bad zurückgezogen hatte, reichte für den Moment auch ihre entfernte Anwesenheit aus, dass Anna und Marit sie nicht wieder öffneten.

      Während Anna auf dem Sofa lag, saß Marit mit ihrem Skizzenbuch auf den hochgezogenen Knien in der tiefen Laibung der Fensterbank und zeichnete das winterliche Geäst des Baumes auf der gegenüberliegenden Straßenseite ab. Von Zeit zu Zeit ließ sie dabei den Blick in beiden Richtungen die Straße entlang schweifen, doch die lag wie ausgestorben da. Seit dem Vormittag hatte der Regen aufgehört, ansonsten hatte sich am Straßenbild nichts verändert.

      *

      Am frühen Abend ging Anna erneut zu ihrem Vater ins Restaurant. Angelo war bereits schwer beschäftigt, auf dem Tresen neben seiner Backnische lag eine lange Liste mit Bestellungen.

      „Gut das du kommst, meine Liebe, wir haben schon wieder so eine Riesenbestellung aus der Konrad-Adenauer-Allee. Zum Glück haben sie sich heute entschlossen, etwas früher zu bestellen. Hilf mir bitte mal beim Verteilen der Tomatensauce.“

      Anna zögerte. Sie hatte ihrem Vater am Nachmittag nicht berichtet, dass es eben dieses Haus war, in dem sie die kontaminierten Geldscheine eingenommen hatte. Eigentlich hatte sie gehofft, die seltsame Wohngemeinschaft nicht wiedersehen zu müssen. Auf der anderen Seite waren sie dringend auf den Umsatz angewiesen, und die Tatsache, dass sie heute gleich wieder bei ihnen bestellten, außerdem ein gutes Aufputschmittel für das Selbstbewusstsein ihres Vaters. Um es später nicht zu vergessen, ging sie um den Tresen herum zu der Box mit den Einmal-Handschuhen und steckte sich eine Handvoll in die Jackentaschen, bevor sie ihrem Vater bei der Bestellung zur Hand ging.

      *

      Als sie eine gute halbe Stunde später die großen Stapel mit den Pizzakartons in den Lieferwagen stellte, war die Wolkendecke aufgerissen und die letzten Sonnenstrahlen des Tages erhellten den Himmel an seinem westlichen Rand. Anna atmete tief durch. Jetzt würde bald der Frühling kommen, es wurde wirklich Zeit, dass es wärmer wurde. Und die Corona-Viren würde er hoffentlich auch vertreiben.

      An diesem Abend lag das Haus mit der Nummer 19 in völliger Stille da. Im Flur war trotz des Tageslichts schon eine Lampe eingeschaltet, doch die übrigen Fenster waren dunkel. Die Eingangstür lag auf der Ostseite des Hauses, das hier an der Auffahrt einen düsteren Schatten warf und Anna fröstelte. Sie zog sich ein Paar von den Handschuhen aus ihrer Jackentasche über, erst dann drückte sie den Klingelknopf. Der schrille Ton drang diesmal ungehindert an ihr Ohr, trotzdem musste sie eine Weile warten, bis sich etwas regte. Zu ihrer Überraschung kam der blondgelockte Mann vom Vorabend auf dem Gartenweg ums Haus herum auf sie zu. Er hatte sich ein warmes Federbett um den Körper gewickelt und war dabei, sich einhändig einen Mundschutz über das Gesicht zu ziehen.

      „Könnten Sie vielleicht mit nach hinten kommen, wir sitzen im Wintergarten“, sagte er undeutlich und unterdrückte ein Husten. Anna nickte. Sie holte den ersten Stapel mit Kartons aus dem Auto und folgte dem Vermummten um das Haus herum. Dort bot sich ihr ein seltsam surreales Bild. Der Garten auf der Rückseite des Hauses hatte einen äußerst spärlichen Bewuchs und ließ nach Westen den Blick auf ein angrenzendes Wohngebiet frei, deren nächstgelegene Straße so schnurgerade in Ost-West-Richtung verlief, das in der Ferne die Abendsonne wie eine riesiger Feuerball zwischen den Häusern auf der Straße zu liegen schien, und von dort aus reichten ihre goldenen Strahlen bis tief in das Haus hinein. Auf zwei Sofas, die in einem großen, vollverglasten Wintergarten standen, konnte Anna sechs Gestalten erkennen, die ähnlich in warme Decken eingehüllt waren, wie der Mann, der ihr vorausgegangen war. Sie sahen aus wie weißverpuppte Mumien, in Anbetung erstarrt und auf die Erlösung durch den Sonnengott wartend, der sie Kraft seines Lichtes im allernächsten Moment auf goldenen Bahnen in sein Himmelreich hinaufholen würde. Ihre weißen Kokons waren von einem leuchtenden Orange überzogen, ebenso wie alle anderen Objekte hinter dem Haus, angefangen bei den jetzt im Frühjahr schon vereinzelt wachsenden aber noch ungeschnittenen Grashalmen, die hauchdünne schwarze Schatten gegen den Sockel der Hausmauer warfen, bis zu dem gigantischen Flutscheinwerfer in der Nordwestecke der Sportanlage, der um die Mittagsstunde sicherlich wie der Zeiger einer Sonnenuhr seinen Schatten quer über den Garten legte, jetzt aber zu brennen schien wie eine olympische Fackel.

      ‚Gleich werden sie weggebeamt‘, dachte Anna und glaubte für den Moment tatsächlich an die Möglichkeit ihres Verschwindens, als sie den Kartonstapel neben der Hintertür abstellte und zurück zum Auto ging, um den zweiten zu holen. Doch als sie wieder um die Ecke bog, saßen sie noch immer dort, allerdings hatte sich ein Teil ihrer Leuchtkraft durch die minimale Wanderung des Sonnengottes verbraucht und es war nurmehr ein orangener Schimmer geblieben. Der Moment für den Abflug schien verpasst. Die lebende Mumie hatte den ersten Kartonstapel schon ins Haus gebracht und erwartete sie an der Tür.

      „Wie im Sanatorium“, sagte er und lachte, doch Anna verstand den Witz nicht und nickte nur verhalten.

      „Im ‚Zauberberg‘“, erläuterte er, „da müssen alle Kranken immer stundenlang in Decken gehüllt auf dem Balkon ruhen.“ Anna lächelte abwartend. Sie hatte den Zauberberg nicht gelesen, wusste ihn aber zumindest ungefähr in der Literaturgeschichte einzuordnen, und hoffte, sich nicht gänzlich zu blamieren, wenn er weiter hochgebildete Konversation betreiben wollte.

      „Ich habe das Buch auch nicht gelesen“, gab er jetzt jedoch freimütig zu, „aber Henk, der ist Deutschlehrer, und wir haben uns gerade darüber unterhalten.“

      Er deutete auf eine der Mumien im Wintergarten.

      „Und warum sind Sie hier und nicht im Sanatorium?“, fragte sie etwas neugierig, doch bevor er etwas erwidern konnte, musste er sich mit einem Hustenanfall abwenden.

      „Na ja“, antwortete er dann verschmitzt, „Hans war sieben Jahre auf dem Zauberberg, und ich hoffe, dass ich das hier in zwei Wochen hinter mir habe.“

      Vermutlich lächelte er, doch das konnte Anna nur daran erkennen, dass sich sein Mundschutz ein wenig aufwärts bewegte. Sie erwiderte das Lächeln, doch in ihren Augen mussten Zweifel ablesbar gewesen sein, denn er setzte noch einmal zu einer Erklärung an:

      „Einige von uns haben Familie, die sie nicht anstecken wollen, andere sind zu Hause ganz allein, was auch nicht lustig ist, wenn man krank ist.“

      Anna nickte, es war in etwa das, was Marit vermutet hatte.

      „Ich bekomme heute 108,00€“, sagte sie und schaute noch einmal in den Wintergarten, der inzwischen nur noch in der äußersten Ecke von der Sonne beschienen wurde und in dem die eingehüllten Gestalten nun trostlos und grau aussahen, während ihr Gegenüber versuchte, zwischen den Schichten der Bettdecke hindurch das Geld aus der Hosentasche zu ziehen.

      „Und, heute keine Party?“, fragte sie, um freundlich zu sein. Er schüttelte den Kopf und fluchte leise, als ihm einige Geldscheine auf den Boden fielen. Dann hielt er ihr