Corona & Amore. Susanne Tammena

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Название Corona & Amore
Автор произведения Susanne Tammena
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753150741



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gerade ihr Hirn umnebelt? Sie konnte es nicht sagen, trotzdem wollte sie nicht sofort wieder nach Hause gehen. Denn ihre Flügel waren zwar in der Kälte etwas lahm geworden und ihr Körper hatte all seine Energiereserven in seinem Zentrum zusammengezogen, doch genau dort, mitten im Sonnengeflecht, spürte sie noch immer eine Unruhe, die ab und zu einen leichten Druck hinauf gegen das Zwerchfell entsandte und sie mehrmals tief seufzen ließ, bevor sie endlich verstand, dass sie in die falsche Richtung gegangen war.

      Sie kehrte um und umrundete in einem großen Bogen den Bahnhofsring, um vor sich selbst den Anschein zu waren, sie befände sich nur auf einem längeren Spaziergang, einer Bummelei mit ungewissem Ausgang, obwohl sie in Wirklichkeit auch direkt am Bahnhof vorbei in die Wohnsiedlung hätte abbiegen können, dem Ziel entgegen, das sie mit jedem Schritt, den sie in die richtige Richtung unternahm, stärker anzog. Ihr Herz begann zu klopfen und sie fühlte ihre Flügel wieder wachsen und ihre Füße leichter werden. Sie wollte ihn wiedersehen, auch wenn es irgendwie peinlich war, dass sie ihn suchte, oder es zumindest peinlich werden konnte.

      Aus einigen Gärten in der Schmiedestraße konnte sie Kinderstimmen hören, doch ansonsten lag das Viertel noch verlassener da als am Samstag Mittag. Marit bog ins Färbergässchen ab, blieb einen Moment an der Straßenecke stehen, wo sie ihn niedergestreckt hatte, und bemerkte verwundert einen gelbblühenden Teppich von Scharbockskraut, der sich hier auf einem bescheidenen Fleckchen nackter Erde neben dem Fallrohr einer Dachrinne ausgebreitet hatte. Sie pflückte eines der Blümchen und ließ den gelben Stern in ihrer Hand rotieren, indem sie den kurzen Stengel zwischen Daumen und Zeigefinger hin- und herrollte.

      In der Kirchstraße wandte sie sich in die Richtung, die er eingeschlagen hatte und versuchte sich sein Bild erneut vor Augen zu führen. Er war schon kurz vor dem Ende der Straße gewesen, als sie ihn aus den Augen verloren hatte, es blieben nur die Häuser mit den Nummern 21 bis 28, allesamt kleine Doppelhäuser aus Backstein mit jeweils zwei niedrigen Türen in der Fassade, die direkt auf die Bürgersteige führten. Die fehlenden Vorgärten erleichterten Marit den Blick auf die Klingelschilder, da sie jedoch gar nicht wusste, wonach sie suchte, half ihr das auch nicht viel weiter. Er hatte allerdings ein wenig südländisch ausgesehen, als habe zumindest einer seiner Vorfahren einen Migrationshintergrund. Außerdem war er nicht besonders groß gewesen, zwar etwas größer als sie, aber nicht viel. All das konnte für einen Namen wie Güzel oder Mantini sprechen. Doch die Namen auf den Klingelschildern klangen - bis auf einen wohl osteuropäischen Yakurov – urdeutsch: Müller, Schmidt, Heikens, Marit wechselte die Straßenseite, Wohlfahrt, Unruh, Petersen, Schätzing. Fehlanzeige. ‚Vielleicht wohnt er irgendwo zur Untermiete‘, überlegte Marit, ging dann aber noch einmal einige Meter zurück und schaute, ob eines der Häuser einen Seiteneingang in der Querstraße hatte. Doch auch das war nicht der Fall. Müde setzte sie sich auf einen Zaunpfosten und ließ die Erkenntnis in ihren Verstand einsickern, dass er natürlich nicht hier wohnte, da er ja auch nicht auf dem Heimweg gewesen war. Natürlich hatte sie das eigentlich schon vorher gewusst, aber es hatte sie trotzdem hierher gezogen, weil sie keinen anderen Ort zum Suchen hatte und die Hoffnung starb ja bekanntlich zuletzt.

      ‚Scheiße!‘, dachte sie, warum hatte der blöde Kerl sie überhaupt angelogen, es war doch sowieso klar gewesen, dass er sie verfolgt hatte. Jetzt hatten sie den Salat. Sie dachte darüber nach, was sie sonst noch tun könnte, bis sie sah, dass im gegenüberliegenden Haus die Gardine zur Seite geschoben wurde und ein grimmig aussehender älterer Herr zu ihr hinüberschaute. Sie starrte grimmig zurück und machte sich enttäuscht auf den Heimweg.

      *

      In diesen anderthalb Stunden war Spicy zweimal den Bahnhofsring hoch- und runtergelaufen, genauso unsicher, wie er sie finden sollte, wie sie, aber von Anfang an sicher, dass nur das sein Ziel war. Marit hätte ihn mit Leichtigkeit entdecken können, wenn sie auf ihrem Platz am Fenster geblieben wäre, anstatt sich in der Kirchstraße herumzutreiben. Aber wie hätte sie das ahnen können?

      Zurück in ihrer Wohnung stellte sie die Scharbockskrautblüte in ein Schnapsglas mit Wasser und hoffte, dass es nicht das einzige Andenken an ihr Erlebnis sein würde.

      „Hübsches Blümchen“, sagte Anna, die gerade die Küche aufräumte, „Hast du das im Park gefunden?“

      Marit schüttelte den Kopf.

      „Das ist Scharbockskraut“, erklärte sie dann, einer direkten Antwort ausweichend, „eine der ersten Pflanzen, die im Frühjahr austreiben. Ihre Blätter wurden früher gegessen, um Skorbut vorzubeugen, denn sie enthalten viel Vitamin C.“

      „Aha“, entgegnete Anna stirnrunzelnd, „Hast du sie mitgebracht, damit ich sie in den Salat tue?“

      „Natürlich nicht!“, erwiderte Marit kurzangebunden und verließ die Küche.

      Inzwischen schien die Nachmittagssonne ins Wohnzimmerfenster und sie setzte sich an ihren gewohnten Platz ins warme Licht. Träge schloss sie die Augen und reagierte kaum, als Anna sie noch einmal ansprach, unfähig ihrer lähmenden Enttäuschung etwas anderes entgegenzusetzen als Selbstvorwürfe. Warum hatte sie ihn nicht zumindest nach seinem Namen gefragt? Inzwischen bereitete es ihr keinerlei Probleme mehr, bewegungslos in der Ecke zu sitzen, so wenig wie die Einsamkeit, als Anna hinunter ins Restaurant ging. Chiara hatte an diesem Sonntag Spätdienst und würde vor 23.00 Uhr ohnehin nicht zu Hause sein.

      *

      Zu ihrer Überraschung musste Anna heute nur eine Pizza in die Konrad-Adenauer-Allee bringen, und während sie sich darüber noch wunderte, stellte sie fest, dass sie sich andererseits keineswegs mehr über die Tatsache wunderte, überhaupt wieder dorthin fahren zu müssen. Die Ischgl-Typen schienen treue Kunden zu sein, sie hatte schon fest mit dieser Tour gerechnet. Während sie den Lieferwagen auf dem Weg zu einigen anderen Kunden, die sie zuerst beliefern sollte, durch die leeren Straßen der Stadt lenkte, wanderten ihre Gedanken bereits zu der Wohngemeinschaft aus Infizierten und sie fragte sich, was sie heute dort erwarten würde. Eine laute Party wahrscheinlich nicht, aber vielleicht ein paar mumifizierte Leichen im Garten? Vielleicht waren inzwischen alle bis auf einen im Krankenhaus und nur der konnte noch etwas bestellen?

      Als sie mit dem einzelnen Karton in der sorgfältig durch Gummi geschützten Hand den Klingelknopf drückte, war aus dem Haus kein Geräusch zu vernehmen, und sie erwartete schon fast, wieder in den Garten gerufen zu werden, als sich die Haustür öffnete und ihr der Blondgelockte mit dem Mundschutz gegenüberstand. Er nahm den Karton entgegen und stellte ihn neben der Box mit Atemschutzmasken im Flur ab.

      „Entschuldigen Sie bitte den Umstand“, murmelte er, „die Anderen wollten heute lieber Chinesisch essen.“

      Zu Annas Verwunderung war seine Stirn rot angelaufen, als er sich ihr wieder zuwandte, vom Rest seines Gesichtes konnte sie nichts erkennen, und er kratzte sich verlegen am Kopf, bevor er die Peinlichkeit erläuterte, die ihn ganz offensichtlich quälte.

      „Ich wollte Sie aber wiedersehen.“

      Ein heftiger Hustenanfall bewahrte ihn davor, ihr in die Augen schauen zu müssen, doch jetzt registrierte Anna, was ihr bisher nicht aufgefallen war. Er trug Jeans und Pullover, nichts Außergewöhnliches, aber doch anständige Kleidung, die er die letzten Tage nicht getragen hatte.

      „Oh, das ist nett von Ihnen“, erwiderte Anna, unschlüssig, wie sie mit diesem offensichtlichen Flirtversuch umgehen sollte.

      „Ich heiße übrigens Björn, Björn Helmers“, sagte er und klopfte sich zweimal mit der rechten Hand aufs Herz, eine Geste, die das Händeschütteln ersetzen sollte und die Anna in diesem Augenblick so rührend passend vorkam, als sei sie extra für ihn erfunden worden. Sie erwiderte die Geste und lächelte ihn an.

      „Ich heiße Anna Ferucci. Schön, Sie kennenzulernen.“

      Seine Stirn hatte die Farbe wieder verloren und schien sogar besonders bleich zu werden, als er sie lange anschaute, dann musste er wieder husten.

      „Legen Sie sich ins Bett“, riet Anna mit fürsorglicher Stimme und Björn nickte, unfähig zu sprechen und krampfhaft bemüht, den Hustenreiz zu unterdrücken.

      „Die geht heute aufs Haus“, sagte sie zum Abschied und deutete durch die Haustür in Richtung Pizzakarton.