Corona & Amore. Susanne Tammena

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Название Corona & Amore
Автор произведения Susanne Tammena
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753150741



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die Hand entgegen. Anna verfluchte sich, dass sie wegen der milden Tage in der letzten Woche ihre Handschuhe zu Hause gelassen hatte.

      „Ist eine Virusübertragung über Papier möglich?“, fragte sie verunsichert, hielt ihm dann aber, statt eine Antwort abzuwarten, das große Kellnerportemonnaie hin, damit er die Scheine selbst hineinstecken konnte.

      „In der Zeitung stand, dass eine Übertragung über Zeitungspapier nicht möglich ist. Habe ich in der Spalte mit den Corona-FAQs gelesen“, antwortete er.

      Jetzt musste Anna lachen.

      „Das schreiben sie doch sicher nur, damit ihnen überhaupt noch jemand die Zeitungen abnimmt.“

      Der Mann lächelte ebenfalls unter seiner Schutzmaske, sie konnte es an den Falten in seinen Augenwinkeln erkennen.

      „Wahrscheinlich“, brummelte er und strich sich die ungekämmten Locken aus der Stirn. Dann hob er zum Abschiedsgruß die Hand und Anna wendete sich zum Gehen. Als sie schon auf halbem Weg zum Auto war, rief er noch einmal hinter ihr her. Er hatte den Mundschutz wieder nach oben geschoben, der jetzt wie ein Faschingshütchen in seinem dichten blonden Haar saß.

      „Hätten Sie nicht Lust hierzubleiben?“, fragte er mit daher gut vernehmlicher Stimme. Anna hob ungläubig die Augenbrauen.

      „Nein, auf keinen Fall“, antwortete sie mit fragendem Unterton in der Stimme und schnaubte leise.

      „‘Tschuldigung, ich frag‘ ja nur“, entgegnete er tatsächlich enttäuscht und fuhr dann fort: „Hier sind nur Männer, wissen Sie, ist irgendwie traurig.“

      Anna schnaubte noch einmal, dann stieg sie kopfschüttelnd ins Auto. Erst als sie den Wagen mit einiger Mühe gewendet hatte, weil sich der Rückwärtsgang des Lieferwagens nur schwer einlegen ließ, sah sie aus dem Augenwinkel die Haustür ins Schloss fallen.

      *

      Die Straßen lagen in der Dunkelheit tatsächlich so leer und verlassen da, als bestünde bereits die Ausgangssperre, die nach China auch Italien schon verhängt hatte und die seit Tagen wie ein Schreckgespenst durch die deutschen Medien geisterte. ‚Unheimlich‘, dachte Anna, als sie den Lieferwagen erschöpft vor dem Restaurant abstellte. Sie wünschte sich zurück in die turbulente Geschäftigkeit des Lokals, mit ihrem Vater in seiner Pizzabäckernische, der lautstarke Anweisungen, halb auf italienisch, halb auf deutsch auf seine Angestellten regnen ließ. An diesem Abend hatte er dort allein gestanden, in einer Stille, in der man das schleifende Geräusch hören konnte, das der Hefeteig machte, wenn er über die bemehlte Arbeitsfläche gezogen wurde. Ohne den Trubel der Gäste, die eilig in die warmen Räume eintraten, sich die Kälte aus den Mänteln klopften und an den für sie reservierten Tischen Platz nahmen, nur um dann später am Abend um so träger Abschied zu nehmen,

      musste ihr Vater auch keine Anweisungen ans Personal geben, trotz der langen Liste an Auslieferungen, die anstanden. Die Stille ihres Vaters war für Anna noch bedrückender als die Leere des Lokals, so dass sie eigentlich dankbar hätte sein müssen, beidem durch die Lieferfahrten entkommen zu können. Doch die Situation insgesamt stimmte sie so hoffnungslos, dass ihre persönliche Verfassung tatsächlich dem entsprach, was die Regierung seit Tagen propagierte: Die Lage war ernst und jeder leichtfertige Umgang mit der Situation unbedingt zu vermeiden.

      Müde durchquerte sie das Restaurant, warf ihrem Vater zur Abrechnung das Portemonnaie auf den Tresen und stieg über die dunkle Mahagonitreppe, deren Lauf hinter der Tür mit der Aufschrift ‚Privat‘ begann, hinauf bis ins zweite Obergeschoss, wo sie gemeinsam mit ihrer Schwester Chiara und ihrer Freundin Marit in einer Wohngemeinschaft lebte.

      Angelo Ferucci hatte das Haus gekauft, als er die Pizzeria vor fünfzehn Jahren eröffnete, und seitdem wohnte die Familie direkt über dem Restaurant. Die Wohnung in der zweiten Etage war lange vermietet gewesen, doch für Annas Vater war es eine Selbstverständlichkeit, dass er für seine Töchter Eigenbedarf anmeldete. Am liebsten hätte er sie im ersten Stock behalten, doch dass wäre wohl an Chiaras entschiedenem Widerstand gescheitert. Eine kostenlose eigene Wohnung konnten die Mädchen dagegen kaum ablehnen.

      *

      Marit hatte das Licht in der Küche nicht eingeschaltet und stand am Fenster, als Anna die Wohnung betrat. Von der Straßenbeleuchtung gelangte ein fahler Lichtschein bis zu ihnen herauf, so das Marits Silhouette wie ein dunkler Fleck vor dem Fenster erschien.

      „Hat es einen Grund, dass du hier im Dunkeln stehst?“, fragte Anna irritiert und strich sich müde das lange dunkle Haar aus der Stirn.

      „Man kann besser hinausschauen“, antwortete Marit mit monotoner Stimme ohne sich umzudrehen, „Wenn ich das Licht anmache, sehe ich nur noch mein Spiegelbild in der Scheibe, dafür können mich dann alle Nachbarn sehen, als stünde ich auf einem Präsentierteller. Und alle würden sie gucken, denn es gibt ansonsten nichts zu sehen. Nichts, nichts, nichts.“

      Marit seufzte und drehte sich zu Anna um. Mit leichter Verzweiflung in der Stimme fragte sie:

      „Kann das wirklich ein Freitag Abend sein? So tote Hose, es ist zum Eingehen!“

      „Ich war gerade an einem Haus, das war das absolute Gegenteil von toter Hose. Party bis zum Umfallen mit mindestens 15 Leuten“, entgegnete Anna, schaltete das Licht ein und setzte sich an den Küchentisch. Marit schaute sie ungläubig an.

      „Wie bitte? Wo das denn?“, fragte sie, und setzte bestimmt hinzu: „Da muss ich hin, ich sterbe vor Langeweile!“

      „Konrad-Adenauer-Allee 19. Aber glaub mir, da willst du nicht hin“, antwortete Anna und berichtete kurz von ihrem Erlebnis am Quarantänehaus.

      „Scheiße“, kommentierte Marit, „Aber trotzdem irgendwie beneidenswert. Die können wenigstens einen draufmachen, ohne von der Polizei gestört zu werden.“

      „Ich glaube schon, dass die Polizei stören würde, nur die Nachbarn trauen sich nicht“, war Anna überzeugt, dann fragte sie Marit nach Neuigkeiten an ihrem Arbeitsplatz. Marit arbeitete als Sozialarbeiterin im „Birkenhain“, einer Tagesstätte für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Der Name war ein wunderbarer Euphemismus für die Tatsache, dass für den Bau der Tagesstätte und weiterer sozialer Einrichtungen, die hier entstanden waren, ein kleines Birkenwäldchen hatte weichen müssen, von dem heute nur noch drei dürre Exemplare am Rande eines Parkplatzes existierten. Marit leitete dort das Café, das die Anlaufstelle für eine ganze Reihe depressiver, neurotischer und schizophrener Menschen darstellte, deren seelische Verfassung sich nach Tiefschlägen und medikamentösen Behandlungen gerade so weit stabilisiert hatte, dass sie es wagten, wieder unter Leute zu gehen. Etliche von ihnen saßen den ganzen Tag bei ihr, halfen manchmal auch hinter dem Tresen aus und verließen die hellen und freundlichen Räume nur, um gemeinschaftlich im Innenhof zu rauchen. Die einzige Struktur ihres Tages bildeten die Schließzeiten der Tagesstätte, und um 18.00 Uhr am Abend konnte man einen Treck empfindlich gestörter Seelen vom Birkenhain aus in Richtung Innenstadt wandern sehen, wo sie sich langsam vereinzelten und ein jeder und eine jede sich ins private Schneckenhaus zurückzog und einsam die Nacht verbrachte.

      Zum Birkenhain gehörte natürlich mehr als nur das Café, es gab Sporträume, Werkstätten und einen großen Garten, in denen den Besuchern alle möglichen Angebote zur Freizeitgestaltung gemacht wurden. Doch diese Angebote waren inzwischen im Zuge der Coronaschutzmaßnahmen gestrichen worden. Geöffnet hatte nur noch das Café, denn dessen Schließung wäre de facto einer Schließung der Tagesstätte gleichgekommen, und diese Maßnahme hatten Marit und ihre Kolleginnen bislang verhindern können.

      „Es ist fürchterlich“, berichtete Marit, „Das Café wird immer voller statt leerer, seit die Angebote zusammengestrichen wurden. Wie soll man bei vierzig Besuchern an zwanzig Tischen auf einen Mindestabstand von zwei Metern achten? Und einfach nach Hause schicken kann ich sie auch nicht. Die drehen mir doch sonst durch. Ab nächster Woche haben wir Schichten eingeteilt, und alle dürfen nur noch jeden zweiten Tag kommen. Dafür machen wir zusätzlich auch am Samstag auf. Wenn das immer noch nicht ausreicht, müssen wir auch noch in Vormittags- und Nachmittagsschichten einteilen.“

      Marit rieb sich die Augen. Die Enttäuschungen,