Seelenblau. Manu Brandt

Читать онлайн.
Название Seelenblau
Автор произведения Manu Brandt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738055207



Скачать книгу

kleinen Dose zu vergleichen, mit der wir nach Frankfurt geflogen waren.

      Wir hatten eine Stunde Aufenthalt, die wir uns damit vertrieben, dass ich Lisa meine Soundtracks vorspielte und sie versuchte, den dazugehörigen Film zu erraten.

      Im Flugzeug konnte ich meine Beine fast ausstrecken. Die Beinfreiheit war enorm. Da ich sowieso nicht die größte Person war, konnte ich es mir richtig bequem machen. Lisa hatte es da schwerer. Sie war zwar nur einen halben Kopf größer als ich, hatte aber viel längere Beine. Ich beneidete sie darum. Dafür fand sie es unfair, dass meine Füße nicht so groß waren wie ihre. »Kauf dir mal schicke Damenschuhe in Größe 42. Du wirst verzweifeln. Hosen haben bei mir immer Hochwasser. Ab dem Bauchnabel abwärts bin ich völlig Mode-inkompatibel.«

      Vielleicht trug Lisa deswegen meistens lange Röcke, da fiel es nicht so schnell auf, wenn sie etwas zu kurz waren, wie bei einer Hose.

      Als Boardfilme sollten »PS. I love you« und »21« gezeigt werden. Ich entschloss mich dazu, weiterhin meine Musik zu hören und steckte mir die Kopfhörer in die Ohren. Nebenbei beobachtete ich den ersten Film auf dem kleinen Monitor im Sitz vor mir. »PS. I love you« kannte ich bereits, aber ich fand ihn immer wieder mitreißend und romantisch. Ob Thomas mir auch Briefe schreiben würde, wenn er wüsste, dass er sterben müsste? Thomas. Ich vermisste ihn plötzlich sehr, was durch die fehlende Verabschiedung nur verstärkt wurde. Doch zum Glück fielen mir nach kurzer Zeit die Augen zu. Der Tag war lang gewesen und nun holte mein Körper sich die Erholung, die er brauchte.

      Ich wachte erst wieder auf, als wir bereits über Kanada waren. Das Frühstück hatte ich wohl verschlafen. Ich nahm es Lisa nicht übel, dass sie mich nicht geweckt hatte. Hunger hatte ich sowieso keinen.

      Von der Landschaft konnte ich leider nichts erkennen, da die Wolken wie ein weißes Meer aus Zuckerwatte unter uns lagen und das Land unter sich versteckten. Aber ich genoss es, den blauen Himmel und die Sonne sehen zu können.

      Je näher wir dem Zielflughafen kamen, desto wärmer wurde mir. Ein längst vergessenes Gefühl breitete sich in mir aus: Ein Gefühl, dass mir irgendetwas fehlte. Mein Herz begann schneller zu schlagen. So sehr ich Thomas liebte, mein Herz jedoch war nicht vollkommen. Es war immer noch Platz darin, der ausgefüllt werden wollte. In den letzten Monaten redete ich mir ein, dass dieses Gefühl verschwinden würde, wenn wir verheiratet wären und endlich in unserem Haus lebten. Mit der Zeit wurde dieses Verlangen, mein Herz auszufüllen, immer weniger und ich vergaß, dass es je existiert hatte. Vielleicht wurde mein Herz auch einfach kleiner.

      Doch jetzt fing es an, wie wild zu schlagen. Kein Schlagen, welches das Blut kräftig in meine Adern pumpte. Es war ein vergebliches Pochen, als ob es für die Masse meines Blutes zu groß war und Luft in meine Venen pumpte.

      Ich atmete tief ein und presste die Hand gegen meine Brust, als ob ich mein Herz wieder zusammendrücken könnte, zurück auf die kleine Größe, die es in der vergangenen Zeit angenommen hatte. Solch ein Herzklopfen wie jetzt hatte ich aber noch nie erlebt. Nicht einmal, als ich Thomas kennenlernte.

      Im Laufe einer Beziehung gewöhnte man sich ja auch aneinander. Die wilden Schmetterlinge, die am Anfang in meinem Bauch herum geschwirrt waren, wurden weniger. Dafür machte sich ein Gefühl der Vertrautheit breit. Thomas passte schließlich auf mich auf. Was will eine Frau mehr, als einen Mann, der nur das Beste für sie will? Der sich um sie kümmerte, bis sie zusammen alt geworden waren und auf einer Parkbank saßen und Tauben fütterten.

      Ich erinnerte mich an den alten Mann im Park. »Wovor laufen Sie denn weg, Fräulein? Sind Sie Ihrem Ziel schon näher gekommen?«

      Lief ich wirklich weg? Was war mein Ziel? Eine kleine Holzhütte in der kanadischen Pampa?

      Lisa legte ihre Hand auf meine Schulter. »Geht es dir gut?« Sie klang sehr besorgt.

      »Mir geht es gut.« Wenn ich davon absah, dass ich wieder diese verdammte Leere in meinem Herzen spürte und es höllisch wehtat. Aber warum gerade jetzt? Vielleicht vertrug ich das Fliegen nicht.

      »Du hättest vorhin doch etwas essen sollen. Aber du wolltest ja nicht.«

      »Ich habe geschlafen. Vom Frühstück habe ich überhaupt nichts mitbekommen.«

      »Mia, ich habe dich geweckt und du hast zu mir gesagt, dass du keinen Hunger hast. Die Stewardess wollte dein Tablett erst noch stehen lassen, falls du später etwas essen willst, aber du hast abgelehnt.«

      »Daran erinnere ich mich gar nicht.« Nun war es so weit. Ich verlor meinen Verstand. Kein Wunder bei all den Dingen, die in letzter Zeit passiert waren. Erst der Heiratsantrag, dann die viele Arbeit, die Zweifel an Thomas, Zweifel an uns und zuletzt noch diese Schnapsidee mit der Reise nach Kanada. Mein Herz spielte schon verrückt. Nun tat es auch der Kopf. Ich lehnte mich mit der Stirn gegen den Vordersitz.

      »Miss, ist alles in Ordnung? Wenn Sie sich übergeben müssen, haben wir hier unsere Sickness Bags.« Die Stewardess reichte mir eine Kotztüte.

      »Danke, aber mir geht es gut. Ist wohl nur die Aufregung vor der Landung.«

      Lisas Blick verriet mir, dass sie mir nicht glaubte, aber die Stewardess war mit meiner Antwort zufrieden. Sie nickte lächelnd und ging weiter nach vorne.

      Als ich aus dem Fenster schaute, flogen wir gerade durch die Wolken. Ich sah nichts außer Nebel. Eine nette Stimme in den Lautsprechern bat uns, auf unseren Plätzen sitzen zu bleiben und unsere Gurte festzuschnallen, da wir uns im Landeanflug befanden. Ich hatte meinen Gurt den gesamten Flug über erst gar nicht gelockert und ausgerechnet jetzt fiel mir auf, dass ich auf die Toilette musste. Bis zum Flughafen würde ich es nicht mehr aushalten. Ich schnallte meinen Gurt ab und bat Lisa, mich vorbei zu lassen.

      »Du hast schon verstanden, was gerade gesagt wurde?« Lisa legte ihre Stirn wieder in Falten.

      »Ja, habe ich. So viel Englisch verstehe ich schon. Aber ich muss echt verdammt dringend.«

      »Du hast den ganzen Flug über Zeit gehabt.«

      »Da musste ich vielleicht noch nicht? Mann Lisa, lass mich durch oder ich mach’ mir in die Hose!« Letzteres sagte ich so laut, dass die Passagiere um uns herum lachen mussten. Eine Stewardess streckte den Kopf in unsere Richtung und winkte mich nickend aus meiner Sitzreihe.

      »Siehst du, ich darf noch mal schnell.«

      Lisa ließ mich endlich raus und ich quetschte mich in Richtung Toilette. Der Spiegel verriet mir, dass ich ziemlich blass war. Ich spritzte mir eine Ladung kaltes Wasser ins Gesicht und hörte in mich hinein. Mein Herz hatte sich beruhigt, aber das Gefühl, es sei zu groß, blieb. Es pumpte immer noch Luft in meine Adern. Wahrscheinlich war ich deshalb so blass. Meine Haut bekam einfach nicht mehr genug Blut. Als ich mich abtrocknen wollte, fiel mein Blick auf meine Augen. Hatten sie eine andere Farbe bekommen? Sie waren immer noch grün, aber etwas heller als sonst. Sie waren nicht mehr moosgrün, sondern strahlten wie grünes Gras. Dabei hätten sie eher dunkler wirken müssen, wenn meine Haut blass war.

      »Miss, ich muss Sie leider bitten, sich wieder zu Ihrem Platz zu begeben.« Die Stewardess klopfte gegen die Tür.

      Es lag sicher an dem Licht auf der Toilette. Anders konnte ich mir das nicht erklären. Schnell rubbelte ich mein Gesicht trocken, atmete noch einmal tief ein und schloss die Tür auf.

      »Ich komme schon.«

      Wieder auf meinem Platz angekommen, starrte ich Lisa an. »Sehe ich anders aus?«, fragte ich und öffnete weit die Augen.

      »Du siehst aus, als ob du auf dem Klo eine Überdosis Koffein zu dir genommen hättest. Warum?«

      »Fällt dir an mir nichts auf?« Ich blinzelte.

      »Hast du was im Auge?«

      »Ach, vergiss es.« Ich winkte ab und beobachtete die Wiesen, Seen und Städte, die unter uns dahin glitten.

      Lisa schaute mich noch eine Weile von der Seite an, seufzte und blickte auf ihre Hände. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Ihr Blick wirkte besorgt, fast traurig, doch auf ihren Lippen lag ein winziges Lächeln. Ich kannte Lisa gut, aber heute wurde ich aus