Название | Seelenblau |
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Автор произведения | Manu Brandt |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738055207 |
Warum hatte er mich nicht einfach gefragt, ob ich wegfahren möchte? Warum beschlossen Lisa und er das hinter meinem Rücken? Warum ausgerechnet Kanada? Die Nordsee hätte es auch getan. Wenn sie wollten, dass ich den Kopf frei bekam, dann hätten sie mich auch nach Helgoland schicken können. Dort gab es nichts, worüber ich hätte nachdenken können. Ich hätte mich auf eine Bank gesetzt und eine Riesenpackung Toblerone aus dem Duty-Free-Shop gegessen, bis mir schlecht gewesen wäre. Das hatte ich bei unserem letzten Ausflug nach Helgoland gemacht. Als es mit der Fähre zurück nach Hamburg ging, musste ich mich in die Nordsee übergeben. Thomas hatte es darauf geschoben, dass ich seekrank wäre. Mir tat es um die Toblerone leid.
Ich zog bereits meinen Lieblingsschlafanzug an, obwohl es noch früh am Abend war. Ein hellblauer kuscheliger Schlafanzug, von dessen Oberteil mich Snoopy anlachte. Ich liebte diesen Schlafanzug. Er war nicht nur superweich und bequem, es war auch das einzige Kleidungsstück, bei dem Thomas es aufgegeben hatte, mir einzubläuen, dass ich zu alt dafür wäre.
Ich machte mir schnell ein Toastbrot mit Erdbeermarmelade und eine heiße Milch mit Honig, danach warf ich mich auf die Couch vor den Fernseher. Marmelade am Abend. Auch ein Ding der Unmöglichkeit für Thomas.
Im Fernsehen lief wie immer nichts Interessantes, also legte ich meinen Tablet-PC auf den Schoß und gab bei Google »Kanada« ein. Wow, das Wasser wirkte blauer und die Berge bergiger als in Deutschland. Auf den meisten Bildern bot sich das gleiche Bild von Kanada: Ein blauer See in der Mitte, dahinter riesige graue Berge mit schneebedeckten Spitzen. Rechts und links am Bildrand standen hohe Bäume, die im saftigsten Grün erstrahlten. Die Landschaft spiegelte sich auf der glatten Oberfläche des Sees.
Sah ja ganz nett aus. Je länger ich mir die Bilder anschaute, desto mehr freute ich mich, dorthin zu fliegen. Unser Flug ging am übernächsten Tag um ein Uhr nachts. Ich hatte nur noch einen Tag Zeit, um meine Sachen zu packen und auf der Arbeit alles Nötige zu erledigen, falls Lisa das nicht auch schon getan hatte.
Plötzlich klingelte mein Handy. Ich rollte mich umständlich vom Sofa und ging zum Küchentisch, wo ich das Handy liegen gelassen hatte, als ich mir das Toastbrot machte. Auf dem Display erkannte ich das Bild von Thomas. Ich hatte es in unserem Skiurlaub aufgenommen. Man sah hinter der großen Skibrille kaum sein Gesicht, aber er musste ja eine Grimasse ziehen. Ich fand das Bild lustig und so stellte ich es gleich als sein Anruferbild ein.
»Hey du!«, meine Stimme klang müde. »Wann kommst du endlich nach Hause?« Ich war dermaßen erschöpft, dass ich sogar vergaß, dass ich eigentlich sauer auf ihn war.
»Sternchen, es tut mir leid. Ich wollte dich schon früher anrufen, aber wir hatten einfach zu viel zu tun. Hast du deine Überraschung von Lisa bekommen?« Er klang ziemlich gestresst.
»Ja, habe ich. Tolle Überraschung. Wie seid ihr nur auf diese Schnapsidee gekommen? Kanada, ausgerechnet Kanada. Weißt du, wie lange man dahin fliegt? Lange. Und ich muss noch so viel planen.«
»Du musst dich vor allem mal entspannen, Sternchen!«, fiel er mir ins Wort. »Du hast viel zu viel um die Ohren seit unserem letzten Urlaub. So gestresst hab’ ich dich noch nie gesehen. Du reagierst bei allem ziemlich genervt und ich möchte eine entspannte Braut heiraten. Also sei mir bitte nicht böse, dass ich der Reise mit Lisa zugestimmt habe. Es wird dir gut tun, da bin ich mir sicher. Lass es auf dich zukommen und genieße deine Auszeit.«
»Wann bist du zu Hause?« Ich hatte keine Lust am Telefon weiter darüber zu diskutieren, was ich bräuchte und was mir gut täte. Als ob ich das nicht selbst entscheiden könnte. Ich musste an den Hund im Park denken, der auch nicht drauf loslaufen konnte, wie er wollte und wohin er wollte. Das Mädchen wollte sicher auch nur das Beste für ihn. Immerhin hätte er vor ein Auto laufen können.
»Sternchen, ich bin auf dem Weg nach Stuttgart. Ich war heute Nachmittag kurz zu Hause und habe meine Sachen geholt. Es tut mir leid, aber ich muss zum Hauptsitz für die Jahresbesprechung. Es war eigentlich alles anders geplant, aber nun muss ich einspringen.«
»Ich sehe dich gar nicht mehr, bevor ich fliege?«
»Nein, ich werde erst nächste Woche wiederkommen.«
Meine Knie wurden weich und ich musste mich auf einen Küchenstuhl setzen. Noch eine Überraschung. Bestürzt starrte ich den Kühlschrank an. Erst schickte er mich weg und dann konnte er sich nicht einmal persönlich verabschieden.
»Sternchen? Ist alles ok? Du bist mir böse, oder?«
»Alles ok. Ich bin dir nicht böse.« Ich wusste selbst nicht, ob das eine Lüge oder die Wahrheit war. Wahrscheinlich war ich am ehesten enttäuscht. Enttäuscht darüber, dass alles hinter meinem Rücken geplant wurde und darüber, dass er nicht hier war.
»Freust du dich wenigstens ein bisschen auf die Reise?«
»Ja, schon, aber ich werde nicht lange bleiben. Eine Woche höchstens.«
Eine Woche kam mir plötzlich endlos lange vor, wenn ich daran dachte, dass ich Thomas in dieser Zeit nicht sehen würde.
»Nimm dir die Zeit, die du brauchst. Aber lass mich im August bitte nicht vor dem Standesamt stehen. Bis dahin hätte ich meine Frau gerne wieder.«
»Ich denke mein Chef will mich schon viel früher zurückhaben.«
Am anderen Ende konnte ich ein leises Lachen hören. »Ich liebe dich, Sternchen. Das darfst du niemals vergessen. Ich freue mich, wenn du wieder zurückkommst. Ich hole dich dann vom Flughafen ab, wenn ich dich schon nicht hinbringen kann. Ich liebe dich! Hörst du? Vergiss das nicht!« Die Verbindung wurde schlechter und es fing an zu knistern. Er fuhr wohl gerade durch ein Funkloch. »Sternchen?« Er war kaum noch zu verstehen. »Sternchen, bist du noch da?«
»Ja, ich bin da. Ich liebe dich auch. Viel Glück in Stuttgart.«
»Viel Spaß in Kanada!«
Die Verbindung brach endgültig zusammen und es war nur noch ein Rauschen zu hören. Was für ein Abschied.
Ich legte das Handy auf den Küchentisch zurück und starrte noch einige Minuten hinterher. Tausend Fragen hämmerten von innen gegen meine Schädeldecke. Wollte Thomas wirklich nur, dass ich mich erhole? Wollte er mich vielleicht loswerden, weil ich ihn nervte? Ich würde bei allem genervt reagieren. Das hätte er mir doch eher sagen können, wenn es ihn störte. Mein Herz schlug schneller und langsam kroch Panik meinen Hals hinauf. Das war das erste Mal seit zwei Jahren, dass ich länger als einen Tag von Thomas getrennt sein würde. Ich fühlte mich hilflos, überfordert und einsam. Meine Finger trommelten auf den Küchentisch. Warum war ich bloß so nervös? Ich würde morgen zur Arbeit gehen, meine Koffer packen, nach Kanada fliegen, mich eine Woche lang in der Hütte langweilen, zurück fliegen und wieder mit Thomas zusammen sein. Das konnte mir gar nicht schnell genug gehen. Ich vermisste ihn jetzt schon. Selbst den Kuss auf meine Stirn sehnte ich mir nun herbei.
Nein, ich würde jetzt nicht anfangen zu heulen. Ich wischte mir schnell die Träne von der Wange. Das wäre jetzt wirklich kindisch gewesen: mit zwanzig Jahren am Küchentisch sitzen und heulen, weil man eine Reise geschenkt bekommen hatte, aber der Freund sich nicht verabschieden konnte.
Ich stand auf und zupfte meinen Schlafanzug zurecht. Da ich nicht länger auf Thomas warten musste, ging ich ins Bett, damit ich einigermaßen fit für den letzten Arbeitstag war. Ich schloss die Vorhänge und kletterte ins Bett unter die Decke, die ich mir wie immer bis über die Ohren zog. Vom Gesicht war nur so viel frei, dass ich noch atmen konnte. Warum konnte ich nicht einfach hier Urlaub machen? Unter meiner Bettdecke im Snoopy-Schlafanzug. Man könnte mir mein Essen ans Bett bringen und als Cocktail würde ich eine heiße Milch mit Honig nehmen.
Langsam wurden meine Augenlider immer schwerer und die Welt um mich herum begann zu verschwimmen. Die leuchtend roten Zahlen auf meinem Wecker konnte ich nicht mehr erkennen. Das dumpfe rote Licht wechselte allmählich in ein helles Blau. Ich kniff die Augen zusammen, weil es mich blendete. Ich roch wieder den Flieder und spürte die warme Sonne auf