Der anonyme Brief. E.R. Greulich

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Название Der anonyme Brief
Автор произведения E.R. Greulich
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847613282



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ja, richtig, hier ist es. Er bittet die Fraktion um eine Stellungnahme zu einem, zu gewissen Materialien, die er für äußerst wichtig hält. Es sind ..., bitte, Genosse Liebknecht, würden Sie kurz skizzieren?"

      Liebknecht, der einige der markantesten Schriftstücke herumgegeben hatte, stand auf, umriss knapp den Inhalt des Hefters und erklärte, was er damit zu tun gedenke.

      "Ein feines Kuckucksei, das man Ihnen da ins Nest gelegt hat, Genosse Liebknecht." David schien von der Wertlosigkeit des Materials fest überzeugt zu sein.

      "Ich möchte es aber genau wissen, Genosse David, deshalb mein Vorschlag." Liebknecht sagte es verhältnismäßig gelassen.

      "Teure Wissbegierde. Den Fraktionsapparat in Bewegung zu setzen für eine Sache, die neunundneunzig zu eins faul ist."

      Er spielt wieder einmal den Erzengel der Fraktion, dachte Liebknecht und lächelte ein wenig boshaft "Wer sieht einem Ei an, dass es faul ist? Um das festzustellen, muss man es anschlagen. Doch ein Kuckucksei gebiert ja einen großen, prächtigen Vogel, Genosse David - falls es entsprechend behandelt wird."

      Molkenbuhr klopfte mahnend mit dem Fingerknöchel auf die Tischplatte, als Gemurmel aufkam.

      Ledebour meldete sich und erhob sich zugleich. "Ich möchte den Genossen David ersuchen, die Angelegenheit ernsthafter zu behandeln. So etwas lässt sich nicht mit einer schiefen Metapher bagatellisieren."

      Molkenbuhr hatte Südekum mit einer Kopfbewegung das Wort erteilt. Der als ehrgeizig bekannte Mann verstaute einen Bleistiftanspitzer im Schreibnecessaire, während er raunzte: "Mir fehlt leider die Zeit für Wortspiele und Poetikastereien. Ich bin überzeugt, es handelt sich um eine abgefeimte Intrige. Es wäre nicht das erste Mal, dass man versucht, die Partei auf diese Weise zu desavouieren, besonders aber den, der auf Derartiges hereinfällt, Genosse Liebknecht."

      Plötzlich sorgen sie sich um mein Ansehen, belustigte sich Liebknecht, sonst werden sie nicht müde, mich als Querkopf, Ehrgeizling und noch übler zu verschreien. "Reinfall?", fragte er Südekum, "wenn ich diese Papiere pflichtgemäß dem preußischen Kriegsminister übergebe?"

      Südekum widersprach. "Von Heeringen würde nicht zögern, dem Hause Mitteilung davon zu machen, mit welch unseriösen Dingen ihn gewisse Abgeordnete belästigen."

      Liebknecht verkniff sich den Spott nicht. "Für so dumm wollen wir ihn bitte nicht halten. Ich würde ihn fragen, ob er jede anonyme Anzeige unter den Tisch wische. Auf eine Bejahung würde ich fragen, auch im Fall eines Landesverrats? Dann säße er schon in der Klemme. Selbst wenn er klipp und klar die Unechtheit beweisen könnte, bliebe uns ein handfestes Indiz, mit welch infamen Mitteln die Gegenseite arbeitet. Glauben Sie mir, verehrter Genosse Südekum, ob echt oder unecht, Heeringen wird alles versuchen, dass nichts davon vor den Reichstag kommt. Unsere Gegner verlören immer dabei."

      "Genosse Liebknecht überschätzt wieder mal die Möglichkeit, im Reichstag mit juristischen Kniffen und Pfiffen Erfolg zu haben." Wels sagte es und blieb dabei geruhsam sitzen. "Damit mag man im Gerichtssaal Eindruck schinden, doch Sie wissen sehr gut, wie leer die Bänke oft sind, wie das Haus mit Sach- und Spezialfragen überfordert ist. Von der moralischen Seite her gebe ich Ihnen recht, nur, Politik wird leider nicht im Himmel gemacht. Der Reichstag ist schon bei ganz anderen Sachen zur Tagesordnung übergegangen. Mein Vorschlag: in den Papierkorb damit, Genosse Liebknecht."

      Dr. Lensch meldete sich, Chefredakteur der Leipziger Volkszeitung. Liebknecht war gespannt, was er sagen würde. Etliche Genossen meinten, Lensch bekomme manchmal Angst vor der eigenen Courage. Liebknecht war sich nicht sicher, ob dies nicht ihrer Enttäuschung entsprang. Denn bis 1907, über fünf Jahre, war Franz Mehring Chefredakteur des Blattes gewesen. Und einen Mann dieses Formats gab es nur einmal.

      Dr. Lensch wandte sich verbindlich lächelnd an Wels. "Niemand bestreitet das Desinteresse gegenüber dem üblichen Routinekram. Doch wie könnte man die Angelegenheit des Genossen Liebknecht damit verwechseln? Denn hier geht es um die heiligsten Güter der Nation - Lesart der Reaktion, wenn ihr Profit in Gefahr ist ..."

      "Das ist einer der Kernpunkte!", rief Liebknecht.

      "Wenn das Material kein Schwindel ist!" fauchte Wels. Sein breites, schwammiges Gericht überzog sich mit hektischer Röte.

      Molkenbuhr hatte Liebknecht zur Ordnung rufen wollen, auf den folgenden Zwischenruf Wels' schluckte er seinen Unmut.

      Dr. Lensch fuhr fort: "Genosse Liebknecht hat bereits betont, ob echt oder unecht, es handelt sich um einen neuralgischen Punkt der Kriegskamarilla, und das ist wichtig. Außerdem scheint mir die Darstellung des Reichstags als einer automatisch schnurrenden Maschine, die durch niemand und nichts zu beeinflussen ist, gelinde gesagt, unzutreffend. Es liegt wohl auch an uns, ob es so ist oder anders. Zumindest vom Genossen Ebert hatte ich erfreute Zustimmung erwartet, leider schweigt er sich aus. Schließlich unterstehen ihm die Jugendausschüsse der Partei. Wer verblutet zuerst auf den Schlachtfeldern? Die Jugend. Hier ist uns womöglich ein aufrüttelnder Beweis gegen ihre Schlächter in die Hand gegeben. Weiteres zum brennenden Thema Jugend und Krieg zu sagen, spare ich mir, die Schrift des Genossen Liebknecht dürfte hinlänglich bekannt sein."

      "An Kürze und Zurückhaltung wollte ich eben erinnern, Genossen." Grämlichen Gesichts hatte Molkenbuhr die Zustimmung zu Lenschs Worten in den Mienen mehrerer Fraktionsmitglieder vermerkt, "Unsere Zeit ist schon über Gebühr beansprucht, deshalb bitte keine Generaldebatten."

      "Die Angelegenheit könnte längst positiv entschieden sein, versuchten manche Genossen nicht, ein Zentralthema unserer Politik zur Lappalie abzuwerten." Ledebour sagte es zu Molkenbuhr gewandt, seine leicht heisere Stimme ließ an das Wuffen eines gereizten Neufundländers denken.

      Schweigend hatte Noske bisher die Debatte verfolgt. Selten war ihm anzumerken, was hinter seiner Stirn vorging. Die hervorstehenden Backenknochen im Verein mit dem Schnauzbart erinnerten an einen Kosakenhetman. Er räusperte sich gegen die allgemeine Unruhe, nachdem ihm Molkenbuhr das Wort erteilt hatte. "Mehrmals wurde hier von sogenanntem Routinekram gesprochen. Darin sehe ich eine der Erbsünden der Partei. Allzu viele Fantasten und Philanthropen gefallen sich in schwungvollen Phrasen, vor der Kleinarbeit in den Ausschüssen drücken sie sich. Das kostet nämlich Arbeit und bringt keinen Ruhm. Aber mit schönen Reden ist nichts getan."

      "Mit Schweigen auch nicht!", widersprach ein sonorer Bass, und Molkenbuhr ärgerte sich, dass er den Zwischenrufer nicht zu eruieren vermochte.

      Noske hob die Stimme, bei ihm das Höchstmaß dessen, was er an innerer Erregung zeigte. "Was gesagt werden muss, soll heraus. Wenn notwendig, habe ich bewiesen, dass ich mich vorm Sprechen nicht fürchte."

      "Das merkten wir bereits neunzehnhundertsieben bei Ihrer berüchtigten Reichstagsrede. Immer wenn es sich um die Verteidigung des Heeresetats oder um die Kolonialpolitik handelt, werden Sie mobil!" Ledebour sagte es scharf skandierend, beherrscht und eisig.

      "Tatsächlich, Genosse Noske, der Kriegsminister war damals begeistert von Ihrer Redekunst!"

      "Ihre öffentliche Attacke im gleichen Jahr gegen Rosa Luxemburg war echt und ungekünstelt!"

      "Als Bebel Sie deswegen zurechtwies, soll in seinem Brief auch etwas von traurigen Gesellen gestanden haben, stimmt das?"

      "Man kennt doch den Inhalt des Briefes. Bebel drückte darin auch seine Enttäuschung über Genossen Noske aus, in den er große Hoffnungen gesetzt hatte!"

      "Verständlich, hat doch Genosse Noske Bebels Flinte gegen den Zarismus im entgegengesetzten Sinn missbraucht!"

      Dicht aufeinander waren die Zwischenrufe erfolgt. Sie zeigten deutlich die Stimmung gegen Noske, der sich selbst beim rechten Flügel der Partei nicht ungeteilter Sympathie erfreute.

      Scheidemann, der etwas später ins Fraktionszimmer gekommen war, hatte fast als Einziger schweigend die Turbulenz beobachtet. Seinen Unmut verbarg er hinter einem überlegenen Lächeln. Nervös strichen seine langgliedrigen Finger den Spitzbart, unhörbar murmelte er: "Dieser Elefant im Porzellanladen, so zuverlässig er ist, so plump und ungeschickt ist Gustav oft."

      Liebknecht hatte sich Unterlagen über Noske eingesteckt, überzeugt,