Der anonyme Brief. E.R. Greulich

Читать онлайн.
Название Der anonyme Brief
Автор произведения E.R. Greulich
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847613282



Скачать книгу

Unsere einzige Frauenzeitschrift von internationalem Niveau. Ohne Clara wäre es ein Mitteilungsblättchen geblieben. Ich kenne kaum eine andere Zeitschrift der Sozialdemokratie, in der Kultur und Wissenschaftlichkeit, anspruchsvolle Unterhaltung und aktuelle Information so harmonisch verschmelzen. Die Persönlichkeit Claras und ihre Redaktionstätigkeit sind wie eine lebendige Institution. Immer wieder erwarten wir Neues, Besonderes von ihr. Man muss mit ihr gehen oder gegen sie sein.

      Als Clara Zetkin ihn angesprochen hatte, war Liebknecht sich seiner abirrenden Gedanken bewusst geworden. Um Zeit für die Antwort auf ihre Frage zu gewinnen, putzte er die Gläser seines Kneifers. "Gerade das geistige Niveau einiger bedeutender Pazifisten gestaltet unter anderm den Kampf gegen den Krieg so schwierig. Wenn schon Demagogen wie Scheidemann solchen Masseneinfluss besitzen, wie erst Männer vom Format Jaures' dessen persönliche Integrität in Bezug auf seine ehrlichen Friedensbemühungen außer Frage steht. Zu bedenken ist aber zumindest: Jaures' Unbeirrbarkeit im Friedenskampf nährt sich unzweifelhaft auch aus seiner felsenfesten Überzeugung, die stärkste Sektion der Internationale, die deutsche Sozialdemokratie, wird im Falle eines Krieges wie ein Mann dagegen aufstehen."

      "Ohne diese Überzeugung wäre er wohl nicht der französische Rocher de bronce des Friedenskampfes", bestätigte Rosa Luxemburg.

      Liebknecht machte einige heftige Züge, da seine Zigarre auszugehen drohte. "Die antimilitaristische Propaganda befindet sich längst in einer neuen Phase, im direkten Abwehrkampf gegen den drohenden Krieg. Der Gegner ist weder blind noch taub, weiß genau um die Friedenssehnsucht der Völker. Deshalb das immer stärker werdende propagandistische Trommelfeuer der Chauvinisten in der Presse, in den Schulen und Fortbildungsschulen, in den nationalistischen Jugendverbänden. Darum heißt es vor allem: dagegentrommeln. Kongresse - ausgezeichnet; Demonstrationen - richtig; Versammlungen - gut; Stärkung des moralischen Widerstandswillens - in Ordnung; Berufung auf die Ethik - selbstverständlich. Man muss das eine tun und das andere nicht lassen. Jaures hat recht: Kostenrechnungen aufmachen, beweisen, was die Rüstungsfabrikanten am Frieden verlieren und am Krieg verdienen. Beweisen, wie sie den Krieg schüren. Beweisen, wie sie spionieren im In- und Ausland, um die Konkurrenz übers Ohr zu hauen. Beweisen, dass die lautesten Hurra-Patrioten vaterlandslose Gauner sind, die jeden mit Waffen beliefern, der gut zahlt. Die Massen wünschen den Frieden, deshalb glauben sie nur zu leicht den Friedensheucheleien. Diesen Glauben müssen wir zerstören mit dem Dynamit der Beweise." Er wies auf den Hefter. "Ich bin sicher, das hier ist solch ein Sprengstoff."

      "Alsdann", Mehring erhob sich, drückte Liebknecht die Hand, "Glück bei der Durchschleusung, um beim Bild des Genossen Pieck zu bleiben. Kommt es zu Stauungen, müssen wir umgehend Gegenmaßnahmen treffen."

      Nachdem er und Pieck sich von den anderen verabschiedet hatten, gingen beide.

      Rosa Luxemburg hatte bereits wieder die Fahnenabzüge vor sich liegen. Sie bat Clara Zetkin und Liebknecht um fünf Minuten Geduld, sie wolle gern einige Fragen ihres Buches mit ihnen besprechen.

      In der Stadtbahn - Liebknecht hatte sich am Bahnhof Friedrichstraße von Clara Zetkin und Rosa Luxemburg verabschiedet - dachte er über den Abend nach. Sophie hatte recht gehabt. Was manchmal umständlich aussieht, kann trotzdem das Bessere sein. Der Weg zur Revolution ist keine gerade, asphaltierte Straße. Wie oft habe ich es schon Jüngeren gesagt, aber vor so erfahrenen älteren Genossen wie Clara und Mehring entdecke ich dann plötzlich die Eierschalen jugendlicher Draufgängerei hinter den eigenen Ohren.

      Es war angenehm warm im Abteil. In der Ecke ihm schräg gegenüber schlief eine ältliche Blumenfrau, den Korb auf dem Schoß, wahrscheinlich auf dem Weg in die westlichen Nachtlokale. Was mochte sie im Korb haben, Nelken, Veilchen, Rosen? Sollte er sie ansprechen wegen eines Straußes für Sophie? Es hätte bedeutet, sie aus dem Schlaf zu reißen, und er unterließ es.

      Wieder beschäftigten sich seine Gedanken mit dem Erlebnis der letzten Stunden. Solche Aussprachen sind zu selten, wir sollten sie öfter haben. Andererseits setzen wir uns der Gefahr aus, der Fraktionsmacherei beschuldigt zu werden. Schon der Vorwurf würde die Einheit der Partei gefährden. - Was bewog Clara, Rosa und Mehring heute Abend zu ihren Vorschlägen? Revolutionäre Umsicht - zweifellos. Wie bringt man immer und in jedem Fall beides unter einen Hut, Angriffslust und weise Voraussicht? Hätte ich bei ruhiger Überlegung nicht selbst auf das Ergebnis kommen müssen? Wahrscheinlich geschah es deshalb nicht, weil ich zu oft Vorwürfen und Beschuldigungen derer entgegentreten muss, die wirklich keine Revolutionäre sind. Sie werden es mir beweisen, sowie ich das Krupp-Material der Fraktion vorlege. Liebknecht lächelte über sich selbst. Entschuldigung mit Tatsachen, die mich trotzdem nicht entlasten. Auch Clara, Rosa und Mehring stehen ständig im Zweifrontenkampf, sind dennoch ausgeglichener. Es ist wohl auch eine Frage des Charakters. Also, alter Junge, nimm diesen Ungebärdigen künftig fester an die Hand.

      Der Zug verlangsamte die Fahrt, Liebknecht stand auf und knöpfte den Paletot zu. Die Blumenfrau fuhr aus ihrem Schlummer und versuchte etwas in der Dunkelheit draußen zu erkennen.

      "Wir halten gleich Lehrter Stadtbahnhof", gab ihr Liebknecht Auskunft.

      "Denn is ja noch 'ne Weile hin bis Zoo", sagte sie dankbar und kuschelte sich wieder in ihre Ecke.

      "Darf ich fragen, was für Blumen Sie im Korb haben?", erkundigte sich Liebknecht.

      "Veilchen, mein Herr, allet Veilchen, der Strauß'n Groschen. Man darf die Pochtmonehs der Kavaliere nich zu sehr anstrengen, sonst koofense nich."

      "Würden Sie mir ein Sträußchen verkaufen?"

      "Aber jerne, mein Herr, wenn's sin muss ooch zwee." Sie lupfte das Tuch des Korbs, hielt Liebknecht die Veilchen hin und sah seinen Trauring, als er bezahlte. Mütterlich blinzelte sie ihm zu: "Finde ick immer janz besonders nett, wenn verheiratete Männer ..."

      "Guten Abend!", rief Liebknecht lachend und sprang rasch auf den Bahnsteig.

      Auf dem Weg nach Hause wurden ihm die Finger kalt, und er merkte, dass er noch immer den Strauß in der unbehandschuhten Hand trug. Ehe er ihn sorgfältig in der Aktentasche unterbrachte, roch er noch einmal daran und meditierte fröhlich, selbst ein rauer Winterabend kann zarte Veilchen bereithalten.

      4 Von Bienen und Menschen

      Nachdenklich legte Liebknecht die Briefblätter auf den Schreibtisch. Ihm wurde nicht bewusst, dass er selten so scheinbar untätig saß und wie auch Stille verschiedene Färbungen haben kann; in diesem mit Büchern, Mappen und Papieren vollgestopften Arbeitszimmer verschmolzen die vielfältigen Geräusche der Großstadt zu einem fernen Summen.

      Liebknecht schreckte aus seinen Gedanken. Auf der Diele hörte er Sophie und Heli, den Ältesten, heftig flüstern. Die Freude über den vor ihm liegenden Brief verleitete Liebknecht zum Nachgeben. "Was gibt's?", rief er aufgeräumt. "Bringet den Streit vor den Kadi, auf dass er ein salomonisch Urteil fälle!"

      Die Tür öffnete sich, ein wenig streng blickte Sophie auf den Zwölfjährigen. "Ich habe gesagt, er soll bis zum Abendessen warten. Er meinte, das kenne er schon, fast immer müsse der Papa gleich nach dem Essen fort."

      Leider hat er recht, dachte Liebknecht, aber heute Abend kann ich einmal zu Haus bleiben. "Wenn es Helmi so eilig hat, wird es wohl sehr wichtig sein." Aufmunternd zwinkerte er dem Sohn zu. "Sprich, Filius, was bedrückt dich?"

      So unvermittelt aufgefordert, fand Helmi nicht gleich den rechten Anfang. In dem großen Sessel wirkte er kleiner, als er war, nachdenkend starrte er auf seine Stiefelspitzen. Die waren grau gestoßen vom Fußballspiel mit einer Blechbüchse. Verstohlen klemmte er die Füße hinter die Vorderbeine des Sessels.

      Leise zog sich Sophie zurück, im Gefühl, Helmi wolle mit dem Vater allein sein. Um ihren kleinen vollen Mund war ein leicht unzufriedener Zug. Beim nächsten Mal werde ich es schwer haben, Helmi vom Arbeitszimmer fernzuhalten. So unnachsichtig Karl in großen Fragen ist, so leicht gibt er in den kleinen Dingen nach. Nicht zuletzt wohl auch, weil er den Kindern nie genug Zeit widmen kann. Ich hatte nicht erwartet, es leicht zu haben mit den drei Kindern. Aber im Großen und Ganzen ist es besser gegangen, als ich geglaubt hatte. Es ist Karls Verdienst. Wen er liebt, den mögen