Lisa-Martha.. Jaroslawa Sommerfeldt

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Название Lisa-Martha.
Автор произведения Jaroslawa Sommerfeldt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783746763255



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      Allem Anschein nach war das heute ein Tag voller Überraschungen. Ja, solche Abenteuer passierten nicht jeden Tag und natürlich nicht jedem!

      Sie öffnete verkrampft den weißen Umschlag und begann langsam und laut, den Brief, den sie darin fand, vorzulesen.

      „Hallo, meine liebe Tochter Lisa! Dir schreibt dein Vater Aljoscha. Wenn du diesen Brief liest, werde ich natürlich nicht mehr am Leben sein ... Ich verstehe, dass es für dich vermutlich kein so großer Verlust ist. Schließlich erinnerst du dich fast gar nicht an mich ... Aber ich möchte dich nur um eins bitten  um Vergebung. Bitte, liebes Lieschen, vergib mir, verzeih mir! Es tut mir leid ... Es tut mir so leid ... Ich wollte euch nicht verlassen ... Ich wollte nicht ...“

      ***

      Zwei Wochen später saß Lisa an Bord des Fluges Berlin-Kiew. Das Flugzeug nahm Kurs auf die ukrainische Hauptstadt.

      Zwei Stunden Flug schienen ihr wie eine Ewigkeit. Während dieses kurzen Fluges schossen ihr hunderte Gedanken durch den Kopf.

      Sie flog nach Hause, zu ihrer Mutter, um aus ihrem Mund die Wahrheit zu hören, die ganze Wahrheit.

      Nach Hause?

      Zur Mutter? In ihrer gegenwärtigen Situation klang dieses Wort sehr seltsam.

      Wo war ihr wahres Zuhause?

      Wer war ihre wahre Mutter?

      Auf diese und viele andere Fragen wollte sie schnellstmöglich Antworten erhalten.

      Durch den Willen des Schicksals hatte es sie vor vielen Jahren nach Deutschland verschlagen. Es war unmöglich, konkret zu sagen, ob der Ausdruck – durch den Willen des Schicksals – in ihrem Fall zutraff, oder es nur Zufall war.

      Schließlich würde ein Mensch nie erfahren, ob etwas schicksalhaft geschah, oder ob es umgekehrt, eine ganz gewöhnliche Begebenheit war – Schicksal, Zufall, Gottes Fügung, Vorsehung.

      Ach, wie viele ähnliche Wörter konnte man für diesen Fall wählen! Aber das war jetzt eigentlich nicht der Punkt.

      Auf dem ganzen übrigen Weg von Kiew zu den Karpaten, wo ihre Mutter lebte, ließ ein Gedanke Lisa nicht zur Ruhe kommen.

      Wie konnte man mit der Mutter so ein schwieriges Gespräch führen, womit fing man an?

      Außerdem wusste sie, dass die Mutter vor einigen Jahren bereits einen Mikroinfarkt erlitten hatte. Lisa musste also bei all diesen schwierigen Fragen sehr vorsichtig sein.

      Aber weiter zu schweigen und so zu tun, als wäre nichts passiert, dazu hatte sie kein Recht und das konnte sie auch einfach nicht. Letztendlich ging es schließlich um sie, um ihr Leben.

      Lisa schaute erneut aus dem Fenster des Abteilwagens. Mit hoher Geschwindigkeit schwebte am Fenster des Zuges die wunderschöne Berglandschaft der Karpatenregion mit ihrer reichen Vielfalt an Flora und Fauna vorbei. Berühmte Skigebiete, eine Vielzahl natürlicher Mineralwasserquellen und ein gemäßigtes kontinentales Klima zogen zu allen Jahreszeiten Touristen aus vielen Ländern an, die sich angenehm erholen oder auskurieren wollten.

      Unwillkürlich sah Lisa auf ihre Armbanduhr. Es schien, dass sie bald aussteigen musste.

      Wie schwer war doch diesmal ihre Heimreise!?

      Sie wusste nicht, wie sie dieses nicht ganz einfache Gespräch beginnen sollte. Wusste nicht, wie sie sich in Gegenwart ihrer Mutter verhalten sollte. In diesem Moment konnte sie nichts verstehen, nichts begreifen.

      Letztendlich hatte sie Angst, in die Augen ihrer Mutter zu sehen, sie hatte Angst, die ganze Wahrheit zu hören, die ganze schreckliche und bittere Wahrheit. In ihrem Kopf vermischte sich alles: ein Verdacht, Misstrauen, Lüge und vielleicht auch ein dummes Hirngespinst oder die Frucht wilder Fantasie. Schließlich war alles möglich.

      Lisa hatte ihrer Mutter ihre Ankunft nicht mitgeteilt. Sie wollte sie überraschen. Obwohl sie die größte Überraschung im Leben bereits erhalten hatte, und zwar von ihrer Mutter.

      Es war ungefähr sechs Uhr abends. Das kleine Haus der Mutter stand fast am Rande des kleinen Dorfes. Die Dorfstraße war zu dieser Tageszeit so gut wie fast leer.

      Schließlich hatten die Dorfbewohner auf ihren Höfen immer viel zu tun. Sie hatten keine Zeit, durch die Straßen des Dorfes zu schlendern, ihre Kleider zur Schau zu zeigen oder nach besonderen Abenteuern Ausschau zu halten.

      Direkt auf sie zu bewegte sich eine Gruppe von Kühen, die von der Weide nach Hause zurückkehrte. Lisa trat unwillkürlich zur Seite und ließ diese gehörnte, muhende und brüllende Herde vorbei. Hinter der Kuhherde schleppte sich ein alter Hirte und wedelte hin und wieder mit einer langen Reitpeitsche. Wahrscheinlich nur so, aus Gewohnheit. Die Kühe kannten auch ohne ihn den Weg nach Hause.

      Lisa stand am Rand des staubigen Weges und beobachtete mit Interesse diese Kuhprozession. Zu dieser Zeit standen bei vielen Höfen die Tore halb offen. Und was am erstaunlichsten war: Jede Kuh ging von selbst in diesen oder jenen Hof, ohne darauf zu warten, dass sie vom Besitzer geholt wurde.

      Hatte man so etwas schon gesehen?

      Für sie persönlich war es zwar kein besonderes Naturwunder, aber für Touristen, ja noch dazu für ausländische, war es echtes Kuh-Wunder. Davon konnte sie sich erneut überzeugen.

      Nicht weit von ihr entfernt hielt ein Auto. Zwei Männer stiegen aus und begannen, diese ungewöhnliche Kuhprozession mit einer Videokamera zu filmen und Fotos zu schießen.

      „Very good! Sehr gut! Großartig! Erstaunlich!“ Sie waren ehrlich begeistert und versuchten, so viele Fotos wie möglich zu machen.

      Kein Zweifel, bald würden diese graubraunen Kühe irgendwo in Amerika die muhenden Karpaten-Stars sein.

      Es war schade, dass sie persönlich nie von ihrem Ruhm und ihrer Popularität in der großen, weiten Welt, in dieser fernen Region erfahren würden.

      Nachdem sie diese wichtige Star-Kuhkolonne vorbeigelassen hatte, ging Lisa zum Haus ihrer Mutter. Hinter der nächsten Biegung der langen Straße nach rechts stand ein Haus aus Backsteinen, in dem ihre Mutter wohnte.

      Der kleine Hof war leer. Nur ein paar Hühner wanderten von Ecke zu Ecke und zogen mit ihren Schnäbeln fette Regenwürmer aus der Erde.

      Lisas Herz schlug schneller, als sie vor der Tür des Hauses stehen blieb. Vorsichtig klopfte sie an die Tür. Niemand antwortete. Leicht drückte sie auf die Klinke der Haustür, die sich sofort mit einem leichten Knarren öffnete.

      „Mama, ich bin‘s! Bist du hier?“, fragte Lisa und ließ ihre Reisetasche im Flur auf den Boden fallen.

      Aus einem der hinteren Zimmer war ein Geräusch zu hören. Von dort kam langsam ihre Mutter Svetlana.

      „Lisa?“ Für einen Augenblick blieb sie an der Tür stehen und sah ihre Tochter aufmerksam an.

      Gewöhnlich kündigte Lisa ihre Ankunft immer rechtzeitig an. Wenn sie so plötzlich kam, dann musste es dafür einen sehr guten Grund geben.

      Für einen Augenblick stand Svetlana da und blickte angespannt in die Augen ihrer Tochter. Auf diesen Moment hatte sie viele, viele Jahre voller Angst gewartet. Ein sechster Sinn sagte ihr, dass sie mit ihrer Vermutung nicht falschlag.

      Die Bestätigung dessen war die Plastikpuppe, die Lisa in ihren Händen hielt. Die Zeit war also gekommen. Die Zeit des schweren und belastenden Geständnisses.

      „Ich sehe in deinen Augen, Töchterchen, dass du nicht nur gekommen bist, um mich zu besuchen. Ist es nicht so, Töchterlein?“

      „Ja.“ Mehr brachte Lisa nicht heraus und stand nach wie vor regungslos im Raum.

      „Offensichtlich kennst du schon die ganze Wahrheit oder fast die ganze Wahrheit ...“, sagte sie leise und griff sich unwillkürlich mit ihrer rechten Hand ans Herz. „Jetzt ist die Stunde gekommen. Verzeih mir bitte, dass ich diese Wahrheit so lange vor dir versteckt und geheim gehalten habe. Verzeih mir, dass ich nicht den Mut hatte, dir schon längst davon zu erzählen.