Lisa-Martha.. Jaroslawa Sommerfeldt

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Название Lisa-Martha.
Автор произведения Jaroslawa Sommerfeldt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783746763255



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war das Kinderspielzeug mit der Zeit schon ziemlich ramponiert worden. Das Mützchen hatte fast keine Farbe mehr, an manchen Stellen war das Plastik zerkratzt und zerdrückt, anstelle des ehemals prächtigen Haares waren nur ein paar herunterhängende dunkle Strähnen zu sehen. Am Fuß seines linken Beins war ein kleines Loch. Wahrscheinlich von irgendeinem Schlag. Mit zusammengekniffenen Augen blickte Lisa in diese kleine Öffnung.

      Wie ihr schien, war dort statt der Leere, die bei solchen Puppen üblich ist, ein kaum sichtbares kleines Stück Papier. Es war diese ominöse verdächtige Kleinigkeit, die sie dazu brachte, diesen ungewöhnlichen Fund genau unter die Lupe zu nehmen.

      Sie holte aus ihrer Handtasche ein kleines Taschenmesser und entfernte durch Stochern ein wenig Plastik am Puppenfuß.

      Zu ihrer großen Überraschung entdeckte sie, dass im Innern der Puppe tatsächlich ein kleines Stück Papier lag.

      Ohne lange darüber nachzudenken, entfernte Lisa dieses Bein vorsichtig von der Halterung. Unmittelbar darauf fiel auf ihre Knie ein Bündelchen vergilbter Papiere, deren Ränder teilweise vom Zahn der Zeit verschlissen waren.

      Lisa betrachtete verwirrt diese rätselhafte Botschaft, ohne die leiseste Ahnung zu haben, was das bedeuten könnte. Sie legte die Puppe zur Seite und nahm einen Papierfetzen in die Hand. Sorgfältig strich sie das zerknitterte Blatt glatt.

      Vor ihr lag ein Brief, geschrieben mit blauer Tinte in einer holprigen Schrift.

       „... Mein liebes Lieschen, meine geliebte Tochter! Du liest gerade einen Brief, den deine Mutter Svetlana geschrieben hat. Du sollst wissen, dass du in meinem harten Leben immer eine kleine leuchtende Blume für mich warst. Aber ich kann nicht für immer vor dir dieses Geheimnis verbergen, das schon all die Jahre auf meiner Seele lastet, ich habe kein Recht dazu. Dieses Geheimnis lässt mir keine Ruhe. Früher oder später wirst du ja doch die ganze Wahrheit erfahren. Bei Gott, ich bitte dich nur um eins: Bitte verfluche mich nicht, verachte mich nicht! Ich wünschte dir nur das Allerbeste! Aber ich konnte nicht anders! Ich konnte nicht! Das Schicksal, die Zeit hat uns allen einen sehr schlechten Streich gespielt. Wir alle waren Marionetten, Spielfiguren, Puppen in einem großen ungeheuerlichen und scheußlichen Theater ...“ In diesem Moment dachte Lisa, dass sie ihren Verstand verlor.

      Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn, ging zum Kühlschrank und holte sich mit zitternden Händen eine Flasche Mineralwasser.

      Ja, jetzt brauchte sie entweder eine Eisdusche oder, im Notfall, im Extremfall, kaltes Wasser.

      Eins war sonnenklar: Diese geheimnisvolle Botschaft, dieser ungewöhnliche Brief war an Lisa gerichtet.

      Aber nein!

      Das konnte einfach nicht sein!

      Lisa sah wieder zu der Puppe, die auf der Couch lag. Das magische, flackernde Schimmern der schwarzen Puppenaugen ließ Lisa den nicht zu Ende gelesenen Brief noch einmal in die Hand nehmen.

      „... Ich weiß ganz sicher, dass diese bestimmte Zeit kommen wird, diese Stunde, diese Minute, und du die ganze Wahrheit erfahren musst. Du musst die Wahrheit erfahren, wer du bist und wer deine wahren Eltern sind ...“ Mit zitternder Stimme las Lisa die verwaschenen alten Tintenlinien.

      War dieser Brief etwa von ihrer Mutter geschrieben worden?

      Was für einen Unsinn schrieb sie da?

      Welche Wahrheit sollte sie erfahren?

      Von wem?

      Warum?

      Welche anderen, unbekannten Eltern?

      Immerhin wusste sie, dass sie eine Mutter hatte, und es gab einen Vater, der bei einem Unfall starb, als sie noch klein war. Es fragte sich, von welchen anderen Eltern hier die Rede sein konnte.

      Lisa füllte das Glas schnell, in fieberhaftem Tempo, mit kühlem Mineralwasser. Langsam ging sie zum Fenster und öffnete die Jalousien leicht. Es war fast elf Uhr abends.

      Zu dieser Zeit herrschte auf der Straße völlige Stille. Der Nachthimmel war übersät mit einer Unmenge funkelnder Sterne. Also würde morgen wieder schönes Wetter sein. Sie schloss die Jalousien und setzte sich wieder auf das Sofa. Ihr Blick fiel wieder auf den Brief, den sie nicht bis zum Ende gelesen hatte. Sollte sie weiterlesen?

      Oder hatte jemand diese Notiz aus Dummheit geschrieben und in die Puppe gesteckt?

      Ob sie wollte oder nicht, ihre Augen richteten sich automatisch auf den nicht zu Ende gelesenen Brief.

       „... Mein liebes Lieschen! Du bist nicht meine Tochter! Nicht meine! Mein Herz blutet, aber ich muss dir das sagen. Dein Vater ist nicht bei einem Unfall umgekommen, wie ich dir immer gesagt habe. Nein! Er lebt! Es hat sich so ergeben, dass er nach Kanada gehen musste ...“

      Lisa begann schon zu stammeln und zu stottern. Sie bekam nicht genug Luft, während sie diese Offenbarung las, die Botschaft der Mutter.

      Was war das für Teufelei?

      Oder war sie endgültig verrückt geworden?

      Ihr Vater war nicht gestorben?

      Hatte er sie verlassen?

      Ging er nach Kanada?

      Wie?

      Warum?

      Wann?

      Weshalb?

      Nein, nein, offensichtlich verlor sie den Verstand.

      Im gleichen Moment fuhr ihr der Gedanke an die heutige Mitteilung wie ein Blitz durch den Kopf. Besser gesagt, an den Brief, den sie in den Müll geworfen hatte. In ihm wurde doch irgendein Erbe aus Kanada erwähnt!

      Was zum Teufel war los?

      Plötzlich war Lisas Gesicht von roten Flecken überzogen. Sie begann nach Luft zu schnappen.

      Oh mein Gott!

      Was war sie für eine Idiotin!

      Nachdem sie diesen Brief mit der Mitteilung nicht zu Ende gelesen hatte, warf sie ihn einfach in den Papierkorb!

      Als sie dann die Wohnung verließ, nahm sie den Müll mit raus, um später nicht noch einmal auf die Straße gehen zu müssen.

      Verzweifelt rannte Lisa in den Wohnungsflur. Irgendwo hier hatte sie eine große Taschenlampe. Hektisch kramte sie in der untersten Schublade des Schrankes. Wieder das Gleiche, wenn man etwas dringend brauchte, fand man nichts!

      Ah, da war sie ja, die Taschenlampe! Sie packte sie mit zitternden Händen und eilte aus der Wohnung. Es war fast Mitternacht. Aber das schreckte sie überhaupt nicht. Sie wusste sehr genau, dass die Entsorgungsunternehmen den gesamten Müll am frühen Morgen abholen würden. Und dann würde sie nie erfahren, was in diesem Brief über ihr kanadisches Erbe geschrieben stand. Schließlich hatte sie sich nicht dazu herabgelassen, alles zu Ende zu lesen! Eine dumme und hirnlose Idiotin!

      Sie hätte diesen Brief zumindest aus Neugier durchlesen können!

      Sie näherte sich dem blauen Container, in den die Mieter Karton und andere Papierabfälle warfen. Als sie die Taschenlampe anschaltete, sah sie, dass der Behälter bis obenhin mit allen möglichen Kartons gefüllt war. Ja, da würde sie wohl den halben Container umgraben müssen, um ihren weggeworfenen Brief zu finden.

      Mit Mühe konnte sie die Lampe an der Ecke des Papier-Containers befestigen und begann dann, in seinem Inhalt zu stöbern. In der rechten Ecke sah sie mehrere Zeitungen, die sie immer kaufte. Das bedeutete, dass dieser Brief nicht weit weg sein konnte. Nun, klar, da war er ja, ihr zerknitterter Brief. Neben ihm auch noch der große braune Umschlag, in dem er verschickt worden war.

      Unbeirrt packte Lisa den Umschlag und den Brief und rannte schnell zurück nach Hause. Sie wollte nicht, dass die Nachbarn sahen, wie sie im Müllcontainer wühlte. Sie hätten es nicht verstanden.

      Lisa setzte sich im Zimmer auf die Couch und strich den zerknitterten Brief glatt. Ja, natürlich, es war derselbe Brief.

      Mit zitternden Händen öffnete sie den Umschlag. Darin befanden