Lisa-Martha.. Jaroslawa Sommerfeldt

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Название Lisa-Martha.
Автор произведения Jaroslawa Sommerfeldt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783746763255



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schaute wieder durch das Schaufenster. Hinter dickem, staubigem Glas lagen auf kleinen, schmalen Regalen antike Porzellanfiguren, Teeservices, Blumen aus Kristallglas, Kinderspielzeug aus Holz und andere alte, leicht verstaubte, nutzlose Kleinigkeiten.

      Aber ihr Blick wurde von einem Spielzeug angezogen, das in der rechten Ecke der Vitrine lag. Es war eine gewöhnliche Plastikpuppe, ganz ohne Kleidung. Nur auf ihrem Kopf befand sich eine dunkelblaue Mütze, unter der mehrere Strähnen dunklen Haares sichtbar wurden. Die Puppe trug um den Hals einen schmalen, abgenutzten, gebrauchten Stoffstreifen. In der Mitte dieses Streifens waren mit dunklen Fäden die zwei Buchstaben „SK“ aufgestickt. Außerdem war am großen Zeh des linken Fußes eine große Delle sichtbar.

      Es war dieses ungewöhnliche Detail, das Lisas Aufmerksamkeit auf sich zog. Vor Kurzem hatte sie ihren Schrank aufgeräumt. Aus einer großen Pappschachtel kamen mehrere Alben mit Fotos, allerlei Prospekte von ihren Reisen, Postkarten und anderer Kram ans Tageslicht.

      Wann hatte sie diese Alben das letzte Mal geöffnet? Gewiss vor langer, langer Zeit.

      Lisa hatte sich im Schneidersitz auf den Boden gesetzt und langsam die Seiten eines Albums umgeblättert. Darin waren vorwiegend Fotos aus ihrer Schulzeit aufgeklebt. Ihr Blick fiel auf die letzte Seite des Albums. Von dem vergilbten alten Foto sah sie ein kleines Mädchen an. Es saß im Hof auf dem nackten Boden und sie drückte eine Plastikpuppe, die ein Häubchen auf dem Kopf und ein dunkles Band um ihren Hals trug, fest an die Brust. Das war das einzige Kinderbild ihrer Mutter.

      Sie erinnerte sich erst jetzt, als sie vor dem Schaufenster des Antiquitätenladens stand, an dieses Detail. Erst vor Kurzem hatte sie das Familienalbum durchgeblättert, schoss es Lisa durch den Kopf.

      Konnten verschiedene Puppen einander so ähnlich sein? Im Prinzip war das natürlich möglich. Aber solche spezifischen Details konnten nicht identisch sein.

      Nein, das war so gut wie ausgeschlossen. Und vielleicht war es eine ganz andere Puppe, nicht die auf dem Foto?, schossen ihr plötzlich mehrere widersprüchliche Gedanken durch den Kopf, was ihr Unbehagen verursachte.

      Es gab übrigens noch einen weiteren wichtigen Grund, warum diese Puppe Lisa plötzlich so aus der Fassung brachte. Um es genauer zu sagen: Diese Puppe wurde ihr von ihrer Mutter schon vor vielen Jahren als eine Art Familienreliquie geschenkt.

      Natürlich musste die Tochter der Mutter feierlich versprechen, schwören, dass sie dieses Spielzeug nie wegwerfen und auch niemandem geben würde.

      Aber diese Puppe ging verloren, wie es nun mal passierte, wenn man mehrmals umzog, und sie verloren sie aus den Augen. Natürlich war es sehr, sehr schade, dass sie das wertvolle Familienrelikt nicht aufbewahren konnte. Obwohl hier von einem besonderen Wert nicht die Rede sein konnte.

      Auf jeden Fall nicht für sie. Es handelte sich nur um ein billiges Plastikspielzeug für Kinder. Es war eine Erinnerung an die schwierige Kindheit der Mutter. Es war ein Geschenk der Mutter.

      Gott sei Dank hatte sie ihr nichts gesagt. Denn sie hatte auch so schon viele gesundheitliche Probleme. Sie sollte sich nicht auch noch wegen dieser Kleinigkeit beunruhigen.

      Vielleicht war das ja überhaupt nicht ihre Puppe?

      Lisa, die wie in Trance war, stand vor dem Schaufenster und starrte auf die Puppe. Sie konnte den Blick nicht von den dunklen Augen abwenden. Sie fühlte sich von diesem geheimnisvollen Funkeln und von der magischen Ausstrahlung, die von den Puppenaugen ausging, wie von einem Magnet angezogen.

      Unerwartet begannen die Augen der Puppe unnatürlich zu blinzeln, die Pupillen weiteten sich und wurden plötzlich weiß wie Milch.

      Es war nicht verwunderlich, dass Lisa vor Schreck einige Schritte vom Schaufenster zurücktrat. Aber sofort ging sie wieder auf dieses außergewöhnliche und geheimnisvolle Spielzeug zu.

      „Verdammt, Teufel auch, was ist denn das für eine Sinnestäuschung, ein Wahnsinn? Was war das?“, murmelte sie vor sich hin und starrte in die milchfarbenen Pupillen der Puppe.

      Plötzlich, wie aus dem Nichts, am helllichten Tag, erhob sich ein starker Wind. Er blies mit solcher Wucht, dass die Mülltonne in der Nähe der Ladentür umkippte und der gesamte Müll herausfiel.

      Das durchdringende Pfeifen des Windes vermischte sich mit einer gedämpften Kinderstimme, als würde die Schaufensterpuppe selbst sprechen, und verkündete seltsame und entzückende Dinge:

      „Wenn du ohne mich weggehst, wirst du es dein ganzes Leben lang bereuen! Wenn du mich hierlässt, wirst du bereuen, dass du mich getroffen hast! Wenn du mich mitnimmst, wirst du etwas herausfinden, das du sonst nie erfahren hättest!“

      Aus Angst ließ Lisa ihre Tasche fallen. Es war wie in dem russischen Märchen „Drei Recken“: Gehst du geradeaus – verlierst du dein Leben, gehst du nach links – findest du eine Frau, gehst du nach rechts – verlierst du dein Pferd.

      Sprachlos stand sie mit offenem Mund vor dem Schaufenster des Antiquitätengeschäftes und konnte die Augen nicht von diesem ungewöhnlichen sprechenden Spielzeug abwenden, das sie irgendwie geheimnisvoll anzog, lockte, verzauberte und faszinierte.

      Während ihr Blick immer noch starr auf die weißen Pupillen der Puppe gerichtet blieb, war Lisa bereit, völlig in deren bodenlose Tiefe einzutauchen. In diesem milchigen Abgrund konnte sie sogar ein paar Episoden aus dem Leben eines Menschen sehen. In einem Fragment hält ein junges, weinendes Mädchen ein kleines Kind auf ihren ausgestreckten Armen. In einer anderen Episode war dieses Kind in den Armen ganz anderer Leute.

      Was war das?

      Wer waren diese Leute?

      Wessen Kind war das?

      Wahrhaft unerklärlicher Quatsch, dummes Zeug und völliger Unsinn.

      Im gleichen Moment fühlte Lisa plötzlich, wie ein rätselhafter, geheimnisvoller Wirbelwind sie einsaugte und unaufhaltsam in sich hineinzog. Und sie hatte absolut keine Kraft, sich dieser geheimnisvollen, unbekannten Macht zu widersetzen, diesem unverständlichen Teufelswerk, diesem teuflischen Wahn.

      Wie durch einen dichten Nebelschleier fühlte sie, dass ihr schlecht wurde, um sie herum wurde es dunkel.

      „Was ist los? Was hast du, Kindchen? Ist etwas passiert? Bist du krank?“, drang plötzlich die Stimme einer alten Frau bis zu Lisa.

      Lisa öffnete langsam die Augen und sah sich ängstlich um. Sie lag auf dem Bürgersteig vor dem Schaufenster des Antiquitätenladens. Neben ihr lag ihre Handtasche. Der Kopf brummte, im Hals ein Kratzen.

      Was war das?

      Was war passiert?

      „Ach, nichts Schlimmes! Mir ist nur ein bisschen schwindlig ...“, antwortete Lisa lustlos auf die Frage der alten Frau und erhob sich langsam vom Asphalt.

      Was hätte sie in diesem Moment auch antworten können? Nichts.

      „Oh, oh, alles nicht so einfach ... Ich weiß das genau ... aber es liegt an dir ... nur an dir ...“, murmelte die alte Frau geheimnisvoll vor sich hin und eilte auf die andere Straßenseite, während sie sich auf einen knorrigen Holzstab stützte.

      Doch Lisa hatte die letzten Worte dieser alten Dame schon nicht mehr gehört. Sie warf noch einmal einen neugierigen Blick auf die Puppe im Schaufenster und eilte nach Hause. Sie wollte sich vergewissern, dass ihre Ahnungen nicht falsch waren, dass sie sich mit ihren Vermutungen nicht irrte.

      ***

      Nach Hause zurückgekehrt, nahm Lisa eine Pappschachtel aus dem Schrank und schüttete den Inhalt auf den Tisch.

      Irgendwo hier musste dieses Album mit dem Puppenbild sein. Natürlich, da war es. Und hier das alte, schon vergilbte Foto auf der letzten Seite.

      Es war schwer zu glauben, dass es dieselbe Puppe war, die sie heute in einem Antiquitätenladen gesehen hatte.

      Doch alle Zweifel verschwanden wie von selbst, als sie die restlichen Details der Puppe verglich: die gleiche Farbe des Häubchens auf dem Kopf, eine Beule, ebenfalls am selben linken Bein,