... und nicht auf den Knien. E.R. Greulich

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Название ... und nicht auf den Knien
Автор произведения E.R. Greulich
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847613268



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verschaffen, unter die sie nur noch ihre Namen zu setzen brauchten.

      Am nächsten Tag brachte der Vater zwanzig der praktischen Zettel. Gleich mit dem ersten hatte Artur Erfolg bei Bruno. Der sagte: "Neblichs ganze Religion sei Mumpitz. Wenn er sich danach richten würde, erklärte Bruno lästernd, dann wäre er schon längst verreckt. Er hätte schon überlegt, ob er sich nicht selbst einen Antrag schreiben solle, aber Neblich kenne seine Klaue zu gut. Seine Mutter könne nicht viel mehr als ihren Namen schreiben, da sei so etwas vorgeschriebenes gerade das Richtige. Mit der Drohung, nichts Nahrhaftes mehr heranzuschaffen, ertrotzte er ihre Unterschrift und gab den Zettel ohne Umschlag bei Rektor Kunz ab. Freudestrahlend berichtete er es Artur. Dem war nicht sehr wohl dabei. Bruno hatte nicht aus Gesinnung gehandelt, sondern aus weit weniger edlen Gründen. Was war da zu tun? Vorerst ging es darum, die Zahl der Dissidenten zu verstärken. Es war ein magerer Trost für Artur, dass die meisten "Gotteskinder" keineswegs aus echter frommer Gesinnung beim Religionsunterricht blieben. Das Wort "Nackenschläge" hörte man nicht selten gerade bei den Frauen, deren Männer eingezogen waren.

      Mit Kaspar war es ähnlich einfach wie mit Bruno. Vater und Artur hatten Eugen gewonnen, er solle mit Karle sprechen. Ohne Federlesen legten die beiden Vater Leutner den Zettel hin. Als er hörte, Artur sei längst abgemeldet, polterte er, warum man ihm das nicht schon früher gesagt habe. Kaspar war froh, nun auch in dieser Frage wieder mit Artur vereint zu sein. Der aber wusste, reine Überzeugung ist es auch bei Kaspar nicht.

      Befriedigender war es mit Reginald. Dessen Vater, früher ein frommer Kirchgänger, war als Beinamputierter aus dem Lazarett entlassen worden. Das hatte seinen radikalen Umschwung bewirkt. Es kann keinen Gott geben, war seine neue Überzeugung, die er ebenso verbissen predigte wie früher den Gottesglauben. Es färbte auch auf den Sohn ab. Reggi katzbuckelte nicht mehr vor Neblich. Er berichtete seinem Vater vom Unternehmen der Dissidenten. Der war beschämt, dass er jene Verordnung nicht kannte. Mit Genugtuung schrieb er seinen Namen unter die Abmeldung. So wurde die neue Freundschaft zwischen Reggi und Artur besiegelt.

      Beharrlich warben Vater und Sohn Becker um jeden, angefeuert von den ersten Erfolgen. Als Walter Becker noch einmal mit Borbach sprach, sagte der alte Knurrhahn: "In diesem Fall darf man euch wohl nicht allein lassen. Jeder Kampfabschnitt hat eben seine besonderen Gesetze. Den Kaiserlakaien Neblich kann man nicht besser treffen, als wenn man ihm seine Schäfchen wegnimmt."

      So gehörte dann auch Erika zu den Dissidentenkindern. Ihre Mutter brauchte der Schwiegervater nicht zu überzeugen. Nur aus Nachlässigkeit, vielleicht auch aus der Ängstlichkeit der alleinstehenden Kriegerfrauen, hatte sie die Entscheidung bisher hinausgezögert.

      Mutze entwickelte ihre eigene Taktik, zu Arturs Gruppe zu kommen. Ihre Mutter, eine Kriegerwitwe mit vier Kindern, erklärte stets, wer zu den Letzten und Geschlagenen gehöre, könne sich keine eigene Meinung leisten. Mutze behauptete, wenn sie weiter bei den "Religionern" bliebe, würde Artur ihr nicht mehr helfen, und sie müsste sitzen bleiben. Mutze hütete sich, Artur ihren Schachzug zu verraten. Seufzend unterschrieb ihre Mutter. "Wenn das nur gut geht", sagte sie.

      Schließlich waren in Neblichs Klasse über ein Drittel der Kinder "Nichtreligioner". Dieses Drittel wog, weil die Mehrheit der Abtrünnigen gute Schüler waren.

       Viele Zeichen und beinahe ein Wunder

      Über einen Punkt gab es in der Familie Becker hitzige Aussprachen. Die Mutter wusste, dass die Kinder einiger ihr bekannter Familien verschickt worden waren. Sie sollten eine Weile hinaus aus den dumpfen Städten und gesunde Landluft atmen, hieß es offiziell. Das ist schon mehr als eine schamhafte Umschreibung für Unterernährung, dachte Luise Becker, ohne die erschreckenden Befunde der Schulärzte zu kennen. Ihr genügte das lebende Beispiel ihres Zweiten. Artur war jetzt in dem Alter, wo die Jungen "schießen", oft das Doppelte von dem verputzen können, was ein Erwachsener braucht. Zäh war Artur, aber gottserbärmlich mager, hatte bei Weitem nicht das Normalgewicht. Deshalb meinte die Mutter, er habe Anrecht auf einen Fahrschein in die Gefilde des Sattwerdens. Der Vater bestritt es nicht, doch lächelte er über ihren Eifer. Der Sohn eines Roten, obendrein vom Religionsunterricht abgemeldet, sollte der staatlichen Fürsorge teilhaftig werden?

      Luise Becker in ihrem praktischen Sinn ließ nicht locker. Mehrmals im Verlauf des ersten Halbjahres achtzehn ging sie zu Rektor Kunz, er möge Artur wenigstens auf die Liste setzen. Sie war überzeugt, der untersuchende Arzt würde dann die Verschickung verordnen. Doch Woche um Woche verging. Anscheinend hatten es andere Kinder noch nötiger als Artur. So schienen Vater und Sohn recht zu behalten. Ausgerechnet Neblich erwies sich dann als Wundertäter. Er erfuhr von Luise Beckers Bemühungen und setzte sich für Arturs Verschickung ein. Und siehe da, nun ging es. Neblich verschwieg den Beckers keineswegs, dass er der Deus ex Machina gewesen. Er erhoffte wohl durch diese Fürsprache einen Umschwung ihrer Ansichten.

      Artur befürchtete, das Märchen werde genau in die Herbstferien fallen, und er wollte doch in diesem Jahr noch mehr Kartoffeln stoppeln als im vorigen.

      Seine Befürchtungen waren grundlos. Es wurde Ende Oktober, als Artur endlich nebst dreißig andern Schuljungen aufgeregt auf den Zug wartete, der sie zur Erholung ins Kinderheim nach St. Goarshausen am Rhein bringen sollte.

      Wer mochte wissen, welchen Zwecken das Gebäude schon gedient, von welchem letzten Besitzer es der Staat erworben hatte? Jedenfalls gaben die Behörden die Mittel, die geistige und organisatorische Leitung hatten Nonnen. Sie staken bis zum Hals in Schwarz, ihre weißen Hauben liefen aus in mächtige Flügel. Artur, aus dem protestantischen Remscheid kommend, wusste nicht, welchem Orden die Nonnen angehörten. Er fand die peinlich saubere Tracht lustig, weil die Nonnen ihn darin an folgsame Vögel erinnerten, stets auf dem Sprung, sich in die Lüfte zu erheben und geradenwegs in den Himmel zu fliegen.

      Schwester Natalie und Schwester Ursula empfingen die Kinder auf dem Bahnhof, der ältlich-mürrische Behördenmensch, der sie hergebracht hatte, fuhr aufatmend zurück. Natalie und Ursula hätten Zwillinge sein können. Ihre gleichartige Kleidung ließ nur die Gesichter sehen, die weder hässlich noch schön waren und meist lächelten. In einer Art Empfangshalle wurden die Kinder von der Frau Oberin begrüßt. Ihr Antlitz war anziehend wie ein Madonnengesicht. Artur betrachtete sie bewundernd und nahm ihre wohlgeformten Worte wie aus weiter Ferne wahr. Sie sollten hier gesund und kräftig werden bei Spiel und Sport. Sie würden es gut haben, wenn sie sich anständig benähmen. Dazu gehöre die Einhaltung der Essens- und Schlafenszeiten. Sonst solle nichts an die Schule erinnern, und man hoffe, alle würden sich freuen, manch neues Lied, manch neues Spiel zu lernen. An die Eltern könnten sie schreiben, wann immer sie Lust dazu verspürten, Karten und Briefe werde ihnen Schwester Ursula geben.

      Erlöst lärmten die Jungen hinaus, als die Begrüßung beendet und eine erste Atzung versprochen war. Artur hätte der wohltönenden Stimme gern noch länger gelauscht. Kaspar, neben Alois der Einzige aus Arturs Klasse, riss ihn aus seiner Nachdenklichkeit. "Ich bin vielleicht gespannt."

      "Worauf?"

      "Was sie anfahren werden."

      Nachdem jedem sein Bett im Saal des zweiten Stocks zugewiesen worden war, mussten sie an der Ausgabe der Küche vorbeigehen. Jeder bekam einen Emaillebecher voll Malzkaffee und Milch. Dann ging es in den Essraum. Die beiden Schwestern schleppten Riesenteller voller Marmeladenschnitten heran. Kaspar schaffte sieben Schnitten. Alois aß nur eine. Seine Grimassen zeigten deutlich, wie er dieses frugale Mahl verachtete. An beiden Enden des langen Tisches residierten Natalie und Ursula, holten noch Brote, gossen Kaffee nach. Dann erklärte Natalie, ab morgen sollten dieses Amt sechs Kinder übernehmen. Viele meldeten sich. Kaspar war selig, zu den Ausgewählten zu gehören. Immer herantragen, um selbst davon einen beliebigen Teil einschaufeln zu können, war für ihn der Gipfel des Glücks. So viel Brot auf einmal hatte er noch nie gesehen, so viel hatte er noch nie essen dürfen. Dieses Kinderheim war ein Paradies mit nur einem dunklen Punkt.

      Kaspar stieß Artur an.

      "Was will eigentlich der Dicke hier?"

      Arturs Blick wanderte zu dem strammen Bäckerjungen.

      "Sich endlich mal satt essen."

      Kaspar musste so laut