... und nicht auf den Knien. E.R. Greulich

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Название ... und nicht auf den Knien
Автор произведения E.R. Greulich
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847613268



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      Artur musste an die Flucht vor den Landjägern denken. "Und wer ausrückt, ist keiner?"

      Vater Becker wurde kribbelig. "Bengel, du kannst einen aber zwiebeln. Es kommt auch mal vor, dass sich ein Held zurückzieht, weil - ja - hm ... "Er dachte angestrengt nach. "Er zieht sich zurück, nicht, um die eigene Haut zu retten, sondern weil es seiner Sache mehr nützt, er muss immer die gute Sache über seine Person stellen, muss auch mal feige scheinen können. Das ist die schwerste Tapferkeit."

      Artur starrte vor sich hin.

      Der Vater kniff ein Auge zu und legte den Zeigefinger an die Nase. "Das Leben ist doch kniffliger, als die euch in der Religionsstunde weismachen wollen."

      Das hatte Artur auch schon bemerkt, und er stimmte dem Vater zu. "Der eine sagt, Goliath ist stärker; der andere sagt, David ist stärker. Wer hat nun recht?" fragte Walter Becker.

      Artur scheuerte sich unentschieden die Stirn. Der Vater erklärte: "Keiner. Man muss sagen, wenn David vorher alles bedenkt und es richtig anpackt, wird ihn die Schleuder zum Stärkeren machen."

      Artur riss die Augen auf, sodass sich der Vater beeilte zu sagen: "Nichts ist einfach so, sondern es ist immer so und so."

      Es war schwierig, doch dem Vater zuliebe dachte Artur nach, dass ihm fast der Kopf wehtat. Walter Becker sah es ihm an und brachte ein neues Beispiel. "Da sagt man so hin, Eisen schwimmt nicht. Natürlich, ein Stück Eisen geht unter - aber ein Eisentopf schwimmt. Stimmt's?"

      Das ging ein. Erfreut über eine neue Erkenntnis hatte Artur Spaß an dem einfachen Beispiel.

      "Darum kann man nicht sagen, Eisen schwimmt. Man kann auch nicht sagen, Eisen schwimmt nicht. Man muss sagen, je nach der Form wird es sich im Wasser verhalten." Der Vater legte dem Sohn begütigend die Hand auf die Schulter. "Was du dem Neblich geantwortet hast, war goldrichtig. Aber du musst nicht immerzu widersprechen. Sonst machst du ihn krötig, und dann hast du Schwierigkeiten. Den Neblich krempelst du nicht um, aber ich hoffe, später manchen Kollegen. Denn die leben ein schlechtes Leben und wollen ein besseres haben. Neblich lebt ein Gutes, und das teilt er nicht gern mit unsresgleichen."

      Der Wortstreit Arturs mit Neblich war das Vorspiel zu einer härteren Auseinandersetzung. Artur ahnte es noch nicht, als er, scheinbar lesend, aber innerlich erregt, zuhörte, wie der alte Borbach, Vater und Grundewski in Beckers Wohnung wieder einmal aneinandergerieten. "Der Munitionsarbeiterstreik hat sie in Schrecken gejagt", triumphierte Walter Becker.

      Dieser Ton gefiel Grundewski nicht. "Na ja, mal lernen auch die Regierungsdickschädel Einsicht."

      "Einsicht?" Borbach spie Gift und Galle. "Mal spüren auch die hohen Herrschaften, dass das Volk genug hat von Kohlrübenmarmelade und Gefallenenanzeigen ..."

      "... von Unterernährung und Durchhaltegeschrei", stieß Walter Becker nach. "Deshalb haben sie jetzt kleine Zugeständnisse gemacht, wie diese 'Freiheit der Religionsausübung'."

      "Nun habt ihr sie und seid auch nicht zufrieden", ereiferte sich Grundewski.

      "Sie rechnen damit, dass keiner den Mut hat, seine Blagen vom Religionsunterricht abzumelden", knurrte Borbach.

      "Eben", pflichtete Walter Becker bei, "bloß, dass sie sich bei mir verrechnet haben. Meine drei werden abgemeldet. Schade, dass der Eugen kein Schulrabe mehr ist, dann wären es gleich vier."

      "Willst du deine Kinder noch mehr schikanieren lassen?", fragte Grundewski. "Wo sie ohnehin schon darunter leiden müssen, dass ihr Vater ein Roter ist."

      Vater Becker prahlte ein wenig. "Meine lernen trotz Schikane. So werden sie gleich trainiert für den Klassenkampf."

      "Immer deine Phrasen", ärgerte sich Grundewski. "Der Religionsunterricht hat nicht verhindert, dass ich Sozialdemokrat geworden bin. Warum sollte es bei unsern Kindern anders sein?"

      Walter Becker erregte sich. "Wozu Kampf und Opfer, wenn wir dann ihre Zugeständnisse nicht ausnützen? Heißt's nicht im Programm der Sozialdemokratie: Religion ist Privatsache? Hat sie der Gegner bis jetzt nicht immer zur Staatssache gemacht? Wenn wir Sozialdemokraten unser eigenes Programm nicht ernst nehmen, was willst du dann von den parteilosen Arbeitern erwarten?"

      Grundewski winkte ab. "Du bist kein Sozialdemokrat mehr, bist doch Spartakist."

      "Das wird er noch werden", sagte Borbach mit einem Zwinkern zu Walter Becker hin.

      Grundewski schlug sich auf die Schenkel, die längst nicht mehr so stramm die Hosen füllten wie vor dem Krieg. "Jawoll, mit deiner und Gottes Hilfe!"

      "Und wir beide machen dann aus dir einen", erwiderte Borbach und fuhr fort: "Nicht, um dir zum Munde zu reden, bin ich auch dagegen abzumelden. Entweder man erzieht seine Kinder richtig, oder man ist kein guter Prolet. Und dann sind sie in der Religionsstunde wie Sauerteig."

      Borbachs Taktik würde taugen, wenn alle Arbeiterkinder wären wie Artur, dachte Walter Becker. Doch nur die wenigsten haben den Mumm, einem Neblich zuzusetzen, dass der Vater aus besserer Einsicht bremsen muss. Deshalb warf er Borbach Engstirnigkeit vor. "Du sprichst von den Kindern, als wären es erwachsene Proleten."

      Artur hatte mäuschenstill zugehört. Der Vater gab ihm einen Wink, und Artur verschwand in die Kammer. Er hörte die Drei noch lange reden, und sie wurden sich nicht einig.

      Der Vater blieb bei seiner Auffassung. Am anderen Morgen gab er Artur einen Brief an Rektor Kunz mit, des Inhalts, dass seine Kinder Jenny, Hedwig und Artur hiermit vom Religionsunterricht abgemeldet seien.

      Noch zwei Klassenkameraden Arturs hatten ähnliche Schreiben abgegeben: Die drei Briefe ließ Kunz von einem Schüler der Oberklasse zu Neblich in die Religionsstunde bringen. Er las sie, und scheinbar gelassen legte er die inhaltsschweren Papiere ins Klassenbuch, sah die Drei an und sagte vielsagend: "Soso."

      Neblich wusste, wie gern Artur seine Geschichten hörte, deshalb nahm er ihn zuerst aufs Korn. "Möchtest du denn selbst vom Lernen der Lehre Gottes befreit sein?"

      Mit belegter Stimme antwortete Artur: "Ja." Um die interessanten Stunden war es ihm leid; aber Vater hatte alles noch einmal mit ihm besprochen.

      Den beiden Kameraden Arturs stellte Neblich die gleiche Frage. Artur bangte innerlich: Hoffentlich blamiert uns keiner. Sie antworteten ebenfalls mit ja. "Nun gut, ihr drei stellt euch an die Wand", entschied Neblich. "Ihr habt die Missachtung Gottes selbst erwählt, jetzt mögt ihr sie auskosten."

      Eine peinliche Stille war im Klassenzimmer. Keiner der Mitschüler sah zu den Dreien hin. Dann las Neblich mit dramatischem Schwung die Geschichte vom Judas, der Jesum Christum für dreißig Silberlinge verriet. Anschließend entwickelte er ein Frage- und Antwortspiel. Alois witterte Morgenluft. Er ermunterte seine Anhänger, die, mit hämischen Seitenblicken auf die drei Abtrünnigen, Neblich die von ihm suggerierten Antworten lieferten. Einmal ließ sich Artur hinreißen und rief: "Judas hat es für Geld gemacht, aber ich kriege keinen Pfennig für die Abmeldung vom Religionsunterricht!"

      "Wir sprechen von Judas", betonte Neblich eisig, "nicht von dir. Ich verbiete dir als Gottlosem, an unserm Gespräch teilzunehmen."

      Walter Becker sprach mit den Vätern der beiden Leidensgenossen. In einem gemeinsamen Brief an Kunz schrieben sie, dass ihre Jungen an den Tagen mit Religionsunterricht um diese Stunde später kommen würden, da nirgends in der Verordnung gesagt sei, dass Dissidenten mit Eckestehen bestraft werden dürften. Nach wochenlangem Tauziehen, in welcher Zeit die drei Jungen immer um eine Stunde später kamen, entschied die vorgesetzte Schulbehörde: Nichtteilnahme sei keinesfalls als Recht zum Fernbleiben von der Schule auszulegen, jedoch dürften die Dissidentenkinder nicht für eine Entscheidung ihrer Eltern bestraft werden.

      Ein Kompromiss, für Neblich eine Niederlage. Keinen Gottlosen durfte er mehr an die Wand stellen. Dafür benutzte er den Religionsunterricht zu ständigen Sticheleien gegen die drei Einsamen.

      Vater und Sohn ließen nicht locker. Sie schrieben eine Liste aller Klassenkameraden Arturs und überlegten bei jedem, welche Chancen beständen, ihn für die Dissidentenschaft zu gewinnen. Manche Eltern, ging es Walter Becker dabei durch