... und nicht auf den Knien. E.R. Greulich

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Название ... und nicht auf den Knien
Автор произведения E.R. Greulich
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847613268



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gab's sonst im Jahr nur ein paar Mal: bei Kaisers Geburtstag, beim Stiftungsfest des Kriegervereins und bei der Sedan-Siegesfeier. Zudem war Vater Becker meist an solchen Tagen mit der Familie in Busch und Berge gezogen. Doch wenn in diesen Tagen die Jungen das leise Bumbum einer Pauke hörten, rannten sie los; immer dem Ton nach, was die barfüßigen Beine hergeben wollten. Je näher sie der Musik kamen, desto dichter wurde das Menschengewühl am Straßenrand. Und wenn sie den Zug der Marschierenden erreicht hatten, liefen sie begeistert neben der Militärkapelle her. Die Freiwilligen hinter der Musik lachten, riefen und sangen. Sie hatten keine Angst vor Not und Tod, sie hatten sogar Humor, manche hatten auf ihren Pappkarton gemalt: "Jeder Stoß ein Franzos" - "Jeder Tritt ein Brit" - "Jeder Schuss ein Russ". Manchmal trat ein junges Mädchen aus der jubelnden Menge am Straßenrand auf einen Freiwilligen zu, heftete ihm ein Sträußchen an die Jacke und küsste ihn. In solchen Augenblicken war Artur überzeugt, dass Lehrer Neblich mit seiner großen Zeit recht habe. Auch alte Mütterchen taten Gutes, sie hatten Zigaretten und Zigarren gekauft und verteilten sie an die Helden. Die Menschen ringsum waren freundlich, umarmten sich, und es herrschte eine rechte Verbrüderung. Hätte Artur gestern nicht ein massiger Schlächtermeister mit befleckter Schürze, der vor Begeisterung aus seinem Laden rannte, den nackten Zeh blutig getreten, er hätte glauben können, er träume. Seitdem hinkte er ein wenig, die leiseste Ungeschicklichkeit fuhr ihm als spitzer Schmerz ins Gehirn und erinnerte an die Wirklichkeit. Dann sah er die bezaubernde Gestalt, vergaß den Schmerz und löste sich aus dem Trupp der mitziehenden Kinder, Halbwüchsigen und Bürger, um sie ganz von Nahem zu sehen. Der geküsste Freiwillige hatte sich wieder eingereiht, sah sich um und winkte. Sie winkte lächelnd zurück. Den Kopf mit dem ährenblonden Haar trug sie stolz wie Kriemhild, sie hatte blaue Augen, rosa Wangen und rote Lippen. Nun trat sie zurück auf den Bürgersteig zu einer Gruppe feingekleideter Damen. Die trugen teure Hüte mit künstlichen Kirschen darauf. Sie hielten sich sehr gerade, was erleichtert wurde durch die hohen Stäbchenkragen, von denen kostbare Jabots auf ihre Büsten fielen. Die Jabots waren festgesteckt mit Broschen, Abzeichen irgendeines vaterländischen Frauenvereins. Die große Vollbusige schien die Mutter der Kriemhild zu sein. Sie trug ein Körbchen, darin lagen die Sträußchen und Zigarettenschachteln. Die Damen unterhielten sich meist flüsternd, aber wenn man sich recht dicht neben sie stellte, konnte man einiges verstehen. Immer wenn die Begeisterung um sie herum etwas nachließ, nickten sie sich zu und begannen zu rufen, zu winken, Kusshände zu werfen und Zigaretten aus ihren großen Handtaschen. Am interessantesten war es neben der Imposanten und ihrer Tochter. "Dort, Elvira", flüsterte die Mutter, "der Käsegesichtige schaut so trüb drein." Rasch gab sie der Kriemhild Schachtel und Strauß aus dem Korb, und die trat strahlend auf den Käsegesichtigen zu, der einen Augenblick ungläubig im Schritt verhielt und dann errötete vor solcher Auszeichnung.

      Die letzte Viererreihe war vorüber, eine Menge Begeisterter nach sich ziehend. Die Kriemhild schaute auf den Rest Schachteln und Sträußchen im Körbchen und sagte mit einer Stimme, die gar nicht wie Glockenläuten klang: "Schade, nicht schnell genug verteilt - die welken nun."

      "A la bonne heure", lobte die Imposante, "hast tapfer geküsst."

      "Komm schnell", einen Augenblick vergaß sich die Heldenmacherin, und ihre Miene wurde kalt wie ihre Stimme, "ich muss mir den Mund spülen." Angewidert fuhr sie sich über die Lippen, der Ekel machte ihr schönes Gesicht hässlich.

      "Beherrschung, meine Teure!" Die Imposante lachte gekünstelt. "Ohne Begeisterung kein Sieg." Mit übertriebenen Floskeln verabschiedeten sie sich von den andern Vaterlandsdamen und gingen rasch davon. Artur schaute ihnen nach und dachte: Pfui Deibel!

      Sie spielten auf dem Brachland zwischen den Ortsteilen Reinshagen und Vieringhausen Fußball. Aufgeschichtete Steine deuteten die Tore an, in den Boden gesteckte Stöckchen die Feldbegrenzung. Der Fußball war eine oft geflickte Lederhülle, statt mit praller Luftblase mit Lumpen gefüllt. Sie spielten verbissen, mit viel Geschrei. Arturs Stammmannschaft bildete jenes halbe Dutzend, das sich noch immer hin und wieder zu gemeinsamen Schularbeiten bei Beckers zusammenfand. Kaspar war ihr wendiger, unersetzlicher Torwart. Auf der Gegenseite kämpfte der Bäcker Alois mit seinen Mannen. Sie lagen 1:3 zurück und suchten ihre Torzahl durch grobes Spiel zu erhöhen. Einen Schiedsrichter gab es nicht, jeder Mann wurde auf dem Spielfeld gebraucht. So konnte es nicht ausbleiben, dass Fouls mit einem Gegenfoul geahndet wurden. Zum Glück spielten alle barfuß, da keiner Fußballtoppen besaß, die meisten nicht einmal Schuhe für den Sommer. Arturs Recken erhöhten auf 4:1, und die Alois-Leute wurden nun noch rabiater. Eben standen sich beide Mannschaften schimpfend und gestikulierend gegenüber, als jenes magische Bum-Bum-Bum aus der Innenstadt ertönte. Einen Augenblick standen alle lauschend, dann rief Kaspar: "Los, hin!" Er wurde von Alois angebrüllt: "Ihr habt da nichts zu suchen! Euer Liebknecht ist gegen den Kaiser und will, dass wir den Krieg verlieren. Für solche machen wir keine Musik!" Er spuckte aus und ermunterte seine Anhänger: "Kommt, Jungs, lasst die Roten!"

      Im Laufschritt eilten sie vom Feld, zurück blieben bei Artur nur Kaspar und Reginald. Sie blieben aus Treue, denn sie wussten, dass Alois eigentlich nur Artur gemeint hatte.

      Artur war wie gelähmt, der Schlag war so plötzlich gekommen. Die beiden Getreuen bedrängten ihn mit Fragen. Wer dieser Liebknecht sei, ob er wirklich gegen den Kaiser sei, und warum einer wünschen könne, dass Deutschland den Krieg verliere. Über das Letztere war sich Artur selbst nicht klar. Karl Liebknecht war ihm vertraut. Von ihm hatte Vater oft erzählt. Zu Karl blickte Artur auf, ihm lohnte es nachzueifern. Gestern Abend hatten Borbach und Vater heftig mit Grundewski gestritten, hatten Liebknecht verteidigt. Die Bewilligungsdebatte im Reichstag war in aller Munde. Tausende Presseorgane im Lande schimpften Liebknecht einen Vaterlandsverräter. Borbach und Vater meinten, er wäre noch nicht konsequent genug gewesen, hätte sich dem Fraktionszwang nicht beugen sollen, sondern gegen die Kriegskredite stimmen. Doch Artur war der Meinung Grundewskis gewesen, kein Deutscher dürfe wollen, dass sein Vaterland eine Niederlage erlitte. Aber konnte er dann an Karl Liebknecht zweifeln? Konnte er ihn aufgeben? Vor den beiden Freunden, vor dem dummfrechen Alois? Artur suchte in seinem Gedächtnis all das Gute zusammen, von dem Vater berichtet hatte. Dass schon Wilhelm, der Vater von Karl, mit Bebel für die Arbeiter gekämpft habe, damit es denen besser gehe. Dass er dafür ins Gefängnis geworfen wurde, die vaterlose Familie aber am Heiligabend, als eben die Tannenbaumlichter brannten, ausgewiesen wurde mit dem kleinen Karl und nun auf dunkler, vereister Landstraße fortwandern musste, sodass alle beinah' erfroren. Ob denn da einer den Kaiser und seine Leute gern haben könne, die so was aushecken?, fragte er Kaspar und Reginald.

      Das kaum, meinten die beiden, doch glaubten sie es nicht so recht, schließlich hätten sie doch das Lied gelernt: "Der Kaiser ist ein lieber Mann ..."

      Zum Glück fiel Artur der alte Piezker ein. "Wer bettelt an der Ecke vom Kaufhaus Alsberg?"

      "Der alte Piezker", antwortete Kaspar und Reggi wie aus einem Mund.

      "Was fehlt ihm?"

      "Ein Bein", sagte Kaspar.

      Reggi wusste mehr. "Es ist ihm abgeschossen worden von den Boxern in China, und er hat dafür einen Orden gekriegt."

      "Vom Kaiser, nicht wahr?" Artur hoffte auf ein Ja Reggis, aber der schüttelte den Kopf. "Von seinem Hauptmann."

      "Klar. Aber der Hauptmann kann ihm doch bloß den Orden geben, wenn es der Kaiser bestimmt."

      Das sahen beide ein. Endlich konnte Artur fragen: "Und warum gibt ihm der Kaiser nicht so viel, dass Piezker nicht zu betteln braucht?"

      "Mein Vater sagt, der hat mehr als wir", erzählte Reggi, "der reist bloß auf das Mitleid der Leute."

      Das war Artur noch nie eingefallen, weil es ihm nicht in den Sinn gekommen wäre, selbst Derartiges zu tun. Verzweifelt suchte er nach einem Argument und war froh, als er fragen konnte: "Würde sich denn dein Vater in Wind und Wetter hinhocken, wenn ihr auch ohnedem satt zu essen hättet?"

      Reggi überlegte noch, Kaspar fand: "Schön dumm. Immer hat der alte Piezker Husten und Schnupfen, und sie sagen, Rheuma hat er auch."

      Artur war Kaspar dankbar. "So was sagen bloß die, die nicht wahrhaben wollen, dass der Kaiser seine verwundeten Soldaten hungern lässt, und die an solche verschwindelten Lieder glauben."

      "Vielleicht