Tomoji. Lukas Kellner

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Название Tomoji
Автор произведения Lukas Kellner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753150796



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zu verbergen.

      „Ganz sicher kann man sich wohl noch nicht sein, aber... gut möglich, dass wir es hier mit einem Mörder zu tun haben, der sich noch mehr Opfer suchen wird.“

      „Ein Wiederholungstäter also“, murmelte Eliah.

      „Oui…“, erwiderte Marvin. Kurz sahen sie sich beide vielsagend in die Augen. Dann griff auch Marvin endlich zu Gabel und Messer.

       Kapitel 6 - Ohne Zusätze

      Der Gerichtsmediziner würde ihnen erst gegen Abend Näheres sagen können, also konzentrierten sie sich zunächst darauf, sich durch Katharina Bolgurs Termine und die Videoaufnahmen der Sicherheitskameras zu arbeiten. Direkt nach dem Frühstück waren sie nochmal zurück zum Tatort gefahren. Das gestaltete sich schwerer als erwartet, da mittlerweile die Presse von der Sache erfahren hatte. Dutzende Reporter tummelten sich vor dem Eingang und gingen jedem auf die Nerven, der das Gebäude betreten wollte. Nachdem sie sich durch eine Meute kreischend fragender Zecken gekämpft und Eliah beinahe die Beherrschung verloren hatte, weil einer der Journalisten ihn ungestüm mit dem Blitz seiner Spiegelreflexkamera blendete, standen sie endlich wieder in der Lobby des Bürogebäudes.

      „Da soll die Palfrader einfach nur ihren Job machen und nicht einmal das kriegt sie hin!“, schnaubte Eliah, obwohl er ganz genau wusste, dass die Kripo-Chefin dieses Getümmel hätte unmöglich verhindern können. Doch sie war im Moment die erstbeste Person, an der er seine schlechte Laune auslassen konnte, zumal sie ihm in letzter Zeit vermehrt auf die Nerven ging. Dass es eigentlich sein freier Tag war, machte die Situation nicht gerade besser. Da kam ihm seine Vorgesetzte gerade recht, auf die er seinen Groll konzentrieren konnte. Zu allem Überfluss war der Mann, der die Videoaufnahmen verwaltete, genauso unmotiviert wie Eliah selbst.

      „Ja, wir benötigen sie jetzt sofort!“, erhob Marvin seine Stimme, als der Mann nachfragte, ob das denn jetzt wirklich so dringend sei. Er trug ein kurzärmeliges Hemd mit Namensschild und reckte sein Haupt stets ein wenig zu weit in die Höhe, wenn er mit jemanden redete. Eliah konnte sich ein leises Glucksen dabei nicht verkneifen. Er liebte und hasste diesen Menschenschlag. Arbeiter, die nicht nach links und nicht nach rechts schauten, nur nach unten auf ihren kleinen, schmalen Weg. Was außerhalb ihres Horizonts passierte, war nicht wichtig und kam immer im höchsten Maße ungelegen.

      „Ich weiß sowieso nicht, wie euch das helfen soll. Wir haben nur die eine Kamera im Eingangsbereich. Und es sind insgesamt zwei Firmen und drei Kanzleien im Haus.“, nörgelte der Mann.

      „Können Sie das bitte uns überlassen?“

      Marvin schäumte vor Wut. Eliah grinste, weil er den Ärger seines jüngeren Kollegen so gut nachvollziehen konnte. Früher hätte es ihn aus der Haut fahren lassen, vor allem an einem Tag wie diesem. Sogar jetzt spürte er noch das dringende Verlangen, den Kerl am Kragen zu packen, ihn aus seinem Stuhl zu reißen und ihm anschließend jeden Zahn einzeln auszuschlagen. Aber das war nur ein Impuls und er hatte eine gesunde Distanz zu dieser Art Gefühlen aufgebaut. Sinnvoller war es da, dem Trottel ein offenes Ohr zu schenken, denn er hatte leider recht: Dadurch, dass nur der Eingangsbereich zu sehen war, würde es ein unglaublicher Aufwand werden, überhaupt irgendeine nützliche Information aus den Videotapes zu bekommen.

      Während sich Marvin die Dateien auf eine Festplatte ziehen ließ, hatte Eliah immer noch ein Lächeln auf den Lippen, das jedoch mit dem unangenehmen Klingelton aus seiner Jackentasche verschwand.

      Er zog sein tönendes Handy hervor und nahm den Anruf von Palfrader entgegen. Sie war gewohnt laut und kurz angebunden. Eliah sagte kein Wort, hörte nur zu. Ihr Befehl war eindeutig und er hatte auch keine Lust darauf, sich am Telefon mit ihr herumzustreiten. Ihre Differenzen regelte er am liebsten von Angesicht zu Angesicht.

      Mit einem: „Verstanden, wir sind auf dem Weg.“, legte er auf und tippte Marvin auf die Schulter.

      „Fertig?“

      „Einen kurzen Moment noch. Gleich ist alles übertragen.“

      „Gut, wir müssen zu Palfrader ins Büro. Sie will wissen, was sie den Medien sagen soll.“

      „Können wir uns nochmal den Tatort ansehen?“, fragte Marvin, während er die Festplatte vom Rechner trennte.

      „Nein. Sie will uns sofort sehen“, seufzte Eliah, rollte genervt mit den Augen und kramte dabei in der Tasche nach seinen Zigaretten. Marvin schüttelte den Kopf, wusste aber, dass es keinen Zweck hatte, zu argumentieren. In circa einer halben Stunde und bei Palfrader im Büro, könnte das Gespräch hitzig genug werden, so viel war sicher.

       „Also…“ Sie tippte mit dem Zeigefinger unentwegt auf die schwarze Lederunterlage auf ihrem Schreibtisch. Eliah und Marvin saßen vor ihr auf zwei schwarzen Stühlen inmitten ihres üppigen Büros. Drei Fenster, die bodentief eingelassen waren, führten hinaus auf eine kleine Dachterrasse. Mit glänzendem, honigfarbenem Holz verkleidete Wände führten bis zu einem riesigen, wandhohen Regal, vollgestopft mit Akten in grünen und ockerfarbenen Umschlägen. Davor saß sie.

      Dr. Irene Palfrader, Chefin der Kriminalpolizei der Stadt. Das dunkelblonde Haar trug sie stets offen, so wie die Mähne eines Löwen. Alles an ihr war perfekt, die Bluse warf keine einzige Falte, der schwarze Blaser war fleckenfrei, das Make-Up – dezent und unverschmiert – umrahmte ihre hellblauen Augen, die hinter einer Brille mit runden Gläsern und silbernem Metallrahmen hervor blitzten. Ihre Züge waren kantig, die Wangenknochen stachen leicht hervor und die Augenbrauen waren auf einen feinen, exakt gezogenen Strich reduziert.

      „Wir wissen noch nichts Genaueres und konnten uns auch nichts mehr ansehen, weil wir jetzt ja hier sind.“ Die kleine Spitze konnte sich Eliah nicht verkneifen. „Aber der Kleine hat ´ne Theorie und wir wissen beide, dass der studiert hat!“, warf er hinterher. Weder Marvin noch Palfrader reagierten auf seinen Sarkasmus, also bemühte er sich um etwas Professionalität und fügte hinzu: „Aber ich glaube, er hat recht! Nur, dass ihnen das nicht gefallen wird.“

      „Und das heißt was?“ Palfrader gab sich unbeeindruckt und tippte weiter in strengem Takt auf ihrer schwarzen Schreibtischunterlage herum. Eliah machte dieser kleine Tick von ihr verrückt. Doch kam ihm just in diesem Moment eine Idee, wie er dem nervigen Tippen entgehen und gleichzeitig dem dringenden Bedürfnis nachgeben konnte, das sich in ihm unaufhaltsam und kitzelnd ausbreitete, seitdem sie Palfraders Büro betreten hatten.

      „Das machen wir jetzt ganz einfach. Marvin, erzähl ihr bitte alles, was du mir erzählt hast. Ich geh derweil schon einmal vor und fange mit den Terminen von Frau Bolgur, unserem Opfer, an.“

      „Sie können jetzt nicht einfach gehen. Sie sind der Leiter der Ermittlungen!“, fauchte Palfrader.

      „Genau. Und ich weiß, dass das, was Marvin ihnen gleich erzählen wird, alles ist, was wir wissen. Mehr als er kann ich ihnen im Moment auch nicht sagen und als Leiter der Ermittlungen…“ er erhob sich und rückte seine braun verwaschene Lederjacke zurecht „…gehe ich zurück an meine Arbeit. Es gibt viel zu tun.“

      Nach einer kurzen Pause nickte ihm Palfrader zu, nicht, ohne sich dabei auf die Zähne zu beißen und so grimmig drein zu blicken, wie sie nur konnte. Eliah nickte zurück, klopfte Marvin auf die Schulter und verließ den Raum. Beim Hinausgehen konnte er noch den Beginn von seinen hektischen Erklärungen mithören, denen er schon vorhin im Eck gelauscht hatte. Daran könnte er sich gewöhnen, dem Kleinen die unangenehmen Sachen zu überlassen, für die er in der Regel überhaupt keinen Nerv übrig hatte. Das Beste daran war, dass er nicht mal ein schlechtes Gewissen haben musste. Marvin freute sich über Gelegenheiten wie diese und Eliah konnte es sehr gut nachvollziehen. Er erinnerte sich an die Zeit, als er selbst gerade begonnen hatte, bei der Kripo zu arbeiten. Anders als Marvin hatte er nicht studiert, hatte keinen glorreichen Abschluss oder einen elendshohen IQ vorzuweisen. In der Beziehung unterschieden sie sich grundlegend voneinander, in ihrem Bestreben dazuzugehören, ihre Arbeit machen zu können, und Anerkennung zu erhalten waren sie aber gleich. Oder besser: Der junge Eliah und Marvin wären es gewesen. Es hatte sich so vieles verändert für ihn in den vielen Jahren, und noch mehr seit ihrem Tod.

      Eliah kam an der dunkelgrünen Tür seines Büros an, warf ihr einen flüchtigen Blick zu und ging daran vorbei. Dann weiter,