Tomoji. Lukas Kellner

Читать онлайн.
Название Tomoji
Автор произведения Lukas Kellner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753150796



Скачать книгу

Gott, Sie sind der Leiter der Abteilung für Kapitalverbrechen und liegen um diese Zeit noch im Bett?“, kreischte ihm die Kripo-Chefin entgegen, Frau Dr. Irene Palfrader

      „Es ist mein freier Ta...“

      „Sie müssen immer bereit sein! Ich habe ihnen den ersten Bericht der Beamten vor Ort bereits zukommen lassen. Sie sind so schnell es geht am Tatort. Ich kümmere mich darum, dass sie etwas Abstand zu den Zecken bekommen.“

      Mit einem leisen Klicken legte sie auf. Telefonate mit ihr waren selten angenehm. Ihre Stimme war schon immer energisch und bestimmend, das brachte ihr nicht ausnahmslos Sympathien ein, auch, weil die meisten nicht bedachten, unter welchem Druck sie stand. Palfrader hatte mehr Ehrgeiz, war immer ein bisschen schneller als die anderen, ein bisschen wacher und motivierter. Sie musste so sein. Aber das konnte einem zuweilen auch ganz schön auf die Nerven gehen. Trotzdem war Eliah dankbar, dass sie sich um die ‚Zecken’ kümmerte. Er konnte jetzt wirklich keine Journalisten gebrauchen, die ihm Fragen stellten. Er hatte immer noch Kopfweh und hoffte, dass sein Magen das Ganze mitmachen würde. Immerhin sah es am Tatort wohl aus wie bei einem Schlachter.

      „Gott, was macht er denn so lang?“, knurrte er dem Zigarettenstummel hinterher, den er gerade ins Gebüsch geschnipst hatte. Als hätte er ihn gehört, bog Marvin um die Ecke. Sein Kollege war etwas kleiner als der männliche Durchschnitt. Wenn auch nicht außergewöhnlich muskulös, war ihm dennoch anzusehen, dass er regelmäßig Sport trieb. Sein Gesicht war kantig, die Kieferknochen ausgeprägt, doch ein Bart wuchs ihm nie. Seine Augen waren groß und die Pupillen von bernsteinfarbenem Braun. Obwohl er erst Ende zwanzig war, hatte er bereits jetzt schütteres Haar. Marvin trug wie immer eine marineblaue Jeans mit braunem Gürtel, ein hellblaues Hemd und graues Sakko.

      „Da, ohne Milch, ohne Zucker, ohne Liebe!“, sagte er und reichte Eliah einen Becher dampfenden Kaffee.

      „Danke dir!“, antwortete Eliah und führte den Becher zum Mund. Auch wenn er es manchmal ganz lustig fand, ihn herumzukommandieren und wie einen Sklaven zu behandeln, so schätze er Marvin doch ungemein. Der Junge war von der Universität zu ihnen gekommen; er hatte dort Psychologie und Kriminologie studiert. Zwar fehlte ihm noch ein wenig die Praxis und Erfahrung, aber er war auf einem guten Weg.

      „Also, wollen wir?“

      „Es wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben“, seufzte Marvin.

      „Na dann…“, entgegnete Eliah und streckte seine Hand aus. Das Gebäude vor ihnen war sehr imposant, groß und hoch. Mindestens zehn Stockwerke konnte er von unten erkennen. Schon von außen schrie einem das Klischee von Reichtum und Elite entgegen. Stein war hier Marmor, Messing war Gold und das Grün, welches den breiten Eingang umsäumte, wie mit der Nagelschere getrimmt. Der Haupteingang war eine blank polierte, gläserne Drehtür. Danach kam man in eine hohe Eingangshalle und hatte dort die Wahl: Entweder die Rolltreppe hinauf zu einem kleinen Café, in dem man sieben Euro für ein Glas Wasser bezahlte, oder aber links abbiegen und einen der beiden Aufzüge nach oben nehmen. Marvin hatte anscheinend auf beides keine Lust und lief instinktiv an den Rolltreppen vorbei in Richtung Treppenhaus.

      „Was machst du da?“. Eliah sah seinen Kollegen halb fassungslos, halb aufgebracht an.

      „Nach meinen Informationen sind es nur acht Stockwerke.“

      „Nach meinen Informationen sind das neun Stockwerke zu viel.“

      „Das macht keinen Sinn.“

      „Nicht?“

      „Nein, macht es nicht.“

      „Okay… Also ich nehm den Aufzug, wenn du einen auf Usain Bolt machen willst, dann…“. Eliah fuchtelte unbestimmt mit der Hand in Richtung Treppenhaus. Marvin sah ihn fragend an, als hätte er den Sarkasmus nicht so recht verstanden, trottete dann zu ihm zurück und stellte sich neben ihn in die Kabine des Fahrstuhls, der in der Zwischenzeit angekommen war.

      „Acht Stockwerke!“, murrte Eliah, während sich die Türen vor ihm schlossen. Im Aufzug waren sie allein. Eliah war sicher nicht in der Stimmung bedeutungslosen Smalltalk zu betreiben, also begann er, einen gelb leuchtenden Knopf vor sich zu fix-ieren und zu studieren, so als sei ein spannendes Geheimnis dahinter verborgen, das nur er sehen konnte. Er bemerkte nicht, dass Marvin ihn dabei leicht grinsend beobachtete. Für Marvin waren solche Situationen faszinierend. Er liebte es Menschen zu beobachten und quasi von einer erhöhten Position aus zu sehen, wie sie sich verhielten. Ein häufiges Phänomen bei Psychologen, mit einem entscheidenden Haken: Es ist schwierig sich in ein soziales Umfeld zu integrieren, wenn man gleichzeitig versucht emotional über der Situation zu stehen und seine Mitmenschen zu analysieren. Das war wie Aus- und Einatmen gleichzeitig.

      „Wusstest du, dass Aborigines die Fähigkeit besitzen, gleichzeitig in ihr Instrument, in das so genannte Didgeridoo blasen zu können, während sie einatmen?“.

      Eliah blickte vom gelben Knopf vor ihm auf und starrte Marvin an.

      „Das ist… interessant. Ich finde es interessant“, fügte Marvin kleinlaut hinzu, nachdem Eliah nur mit einem geknurrten „Hm.“, geantwortet hatte.

      Die Türen des Fahrstuhls öffneten sich und sie wurden augenblicklich erschlagen von einem Wirrwarr an Stimmen und Knippsgeräuschen. Ein langer Gang mit grauem Filzboden und glatt verputzten, weißen Wänden erstreckte sich vor ihnen. Viele Mitarbeiter der Spurensicherung und Kripo waren bereits seit Stunden am Tatort. Sofort sprang ihnen Herbert Bakus entgegen. Er tapste ungestüm an einem Mann in weißem Ganzkörperanzug vorbei, drehte sich empört zu ihm um und ging kopfschüttelnd auf Eliah zu. Marvin würdigte er dabei keines Blickes.

      „Herbert, schön dich zu sehen!“, sagte Eliah. Bakus schüttelte seine Hand und eines seiner hochgekrempelten Hemdsärmel rutschte ihm wieder bis zum Handgelenk hinunter. Herbert war sehr groß, hatte welliges, volles Haar und buschige, schwarz-graue Augenbrauen. Sein weißes Hemd spannte sich fest über den prallen Bauch. Die Größe und das Volumen seines Körpers, gepaart mit der stets viel zu lauten Stimme führten dazu, dass es unmöglich war, ihn zu übersehen, ganz egal ob im Büro, einem Tatort oder mitten auf der Straße. Eliah wusste, dass Herbert schon immer scharf auf seine Position gewesen war. Auf eben diesem Neid schien sich auch der Respekt ihm gegenüber zu begründen.

      „Folgt mir“, sagte er daraufhin, ignorierte Marvin weiterhin vollständig und lief los.

      Es war nicht weit. Fünf Meter den Gang entlang und dann links in das Büro. Die Tür stand weit offen. Als sie gerade hineingehen wollten, kam ihnen ein Mann in einem weißen Schutzanzug entgegen und drängte sich vor ihnen aus dem Raum heraus. Eliah blickte ihm nach, während er einen Schritt ins Innere tat.

      ‚Die SpuSis waren schon immer unfreundliche Säcke!‘, dachte er, wendete seinen Blick kopfschüttelnd wieder nach vorn und erschauderte. Auch Marvin blieb neben ihm abrupt stehen. Er spürte, wie seine Poren zu kribbeln begannen und wischte sich reflexartig mit der Hand über die Stirn.

      Vor ihnen lag ein Büro stolzer Größe. Die Fenster waren mit Jalousien abgedeckt und versperrten dem Sonnenlicht den Weg. Das Licht kam von den vielen, kreisrunden Strahlern an der Decke, die grelles LED-Licht in jeden Winkel des Raumes warfen. Im hinteren Teil stand ein gläserner Schreibtisch. Links von ihnen zwei schwarze Sessel, noch ein kleinerer gläserner Tisch und die schwarze Couch. Darauf kamen ihnen zuerst schneeweiße Füße entgegen, gefolgt von wunderschönen, langen Beinen, einem durchtrainierten Bauch, prallen Brüsten und dann... ihr Gesicht.

      Das Kinn sah unversehrt aus, genauso wie der weich geformte Hals und die seidig blonden Haare.

      Soweit alles normal und schön anzusehen. Das, was aus dem Rahmen fiel, war ihr Mund. Tote lachten nicht, Freude lag ihnen fern. Sie hingegen schien den schönsten Tag ihres Lebens zu feiern. Ihre Mundwinkel waren weit in die Wangen gezogen, damit es so aussah, als würde sie bis über beide Ohren grinsen. Zwei Angelhaken und Nylonschnüre, über den Kopf hinweg gespannt, zwängten ihr die Glückseligkeit auf. Dennoch waren diese Haken – durch die Mundwinkel gerissen und zurückgezogen – nicht das Schrecklichste daran. Eliahs Blick wanderte höher und machte bei ihren Augen halt. Alles in ihm zog sich zusammen, als er feststellte, dass beide fehlten. Da waren keine Pupillen, keine Iris, aber auch keine Augenhöhlen – nichts, was irgendwie an diese Stelle